Gargoyle
»Ein mitreißend verrücktes Debüt - ebenso verführerisch wie vermessen.« (New York Times)
Ein Mann fährt eine dunkle Straße entlang, als er plötzlich geblendet wird, sein Wagen in eine Schlucht stürzt und Feuer fängt. Er überlebt, wird mit schwersten Verbrennungen ins Krankenhaus eingeliefert - und hat in den Wochen der Rekonvaleszenz nur einen Gedanken: wie er nach seiner Entlassung Selbstmord begehen kann. Doch da taucht eines Tages eine mysteriöse Frau an seinem Krankenbett auf, die schöneMarianne Engel, Bildhauerin beeindruckender Gargoyles. Sie behauptet, sie seien einst Liebende gewesen - vor siebenhundert Jahren in Deutschland, als sie eine Nonne war und er ein Söldner auf der Flucht. Ist diese Frau einfach verrückt? Oder ist sie der rettende Engel, der ihn aus seiner Verzweiflung und Todessehnsucht erlösen wird?
Gargoyle von Andrew Davidson
Lassen Sie mich mit der Beschreibung ihres Haares beginnen – eigentlich könnte man unmöglich mit etwas anderem anfangen. Ihr Haar war wie tartareische Reben, die bei Nacht wachsen, aus einem dunklen Ort emporwuchern, wo die Sonne nur ein Gerücht ist. Sie sprossen wild in alle Richtungen, und die dunklen Locken stürzten so verführerisch herab, dass es aussah, als wollten sie die Hand verschlingen, hätte man das Glück, mit den Fingern hindurchzufahren. Ihr Haar war so fremdartig, dass ich mich noch jetzt, Jahre später, zu diesen lachhaften Metaphern veranlasst sehe, die ich am Morgen bereue, das weiß ich schon jetzt.
Auch ihre Augen werden mich zwingen, mich lächerlich zu machen. Sie brannten wie die grünen Herzen eifersüchtiger Liebender, die einander um Mitternacht beschuldigen. Nein, das stimmt nicht, sie waren nicht grün: Sie waren blau. Ozeanwellen umtosten die Iris gleich einem unerwarteten Sturm, der einen Seemann seiner Frau nehmen will. Nein, halt … Vielleicht waren ihre Augen doch grün: Stimmungsaugen vielleicht, ähnlich den Ringen, die angeblich je nach Gemütsverfassung ihres Trägers die Farbe wechseln.
Sie erschien in der Tür der
Im Allgemeinen mache ich es mir zur Regel, auf die bizarren Verkündigungen von Fremden nicht zu antworten, aber ehrlich gesagt, hatte mein Schweigen in diesem Fall den Grund, dass sie das kaputte Klo, das meine Stimme war, nicht hören sollte. Meine Kehle heilte langsam, doch mein Ohr (dasjenige, das noch hörte) war diesen verfremdeten Klang noch nicht gewöhnt. Ich wollte, dass sie nur die Stimme kannte, die ich davor gehabt hatte, die, mit der ich Frauen ins Bett gelockt hatte.
Angesichts meines Schweigens sprach sie weiter. »Das ist jetzt das dritte Mal, dass du verbrannt wurdest.«
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und verbesserte sie.
»Das erste Mal.«
Ein verwirrter Ausdruck strich über ihr Gesicht. »Vielleicht bist du ja gar nicht du.«
Sie schritt auf mein Bett zu, die Augen in ständigem Kontakt mit meinen, und zog die dicken Plastikvorhänge um das Bett zu, damit wir etwas Privatsphäre hatten. Sie beugte sich herab, nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, und musterte mich. Noch nie hatte mich jemand so angesehen, vor der Verbrennung nicht und schon gar nicht danach. Unter ihren Augen, die zwischen Blau und Grün tanzten, waren dunkle Säcke, als hätte sie wochenlang nicht geschlafen. Als ihre Lippen fast die meinen berührten, flüsterte sie ein Wort: »Engelthal.«
Zweifellos haben Sie, lieber Leser, es irgendwann in Ihrem Leben schon mal mit einem Geisteskranken zu tun gehabt. Man spürt es sofort, meistens sogar, bevor dieser Mensch überhaupt den Mund aufmacht, doch nach diesem unsinnigen Wort war der Fall für mich klar. Begegnungen mit Irren sind nicht sonderlich bemerkenswert, da die Welt von ihnen wimmelt; interessanter war für mich meine Reaktion. Meistens will man bei einer solchen Begegnung nur noch weg. Auf der Straße wendet man den Blick ab und beschleunigt den Schritt; auf der Verbrennungsstation blieb mir als Zuflucht nur, die Ruftaste für die Krankenschwester zu drücken. Das aber tat ich nicht. Meine einzige Reaktion auf diese potenziell gefährliche Situation war eine Nicht-Reaktion. Wer war also weniger rational, die Frau mit der wilden Mähne oder ich?
Sie trat einen Schritt zurück. »Du erinnerst dich nicht.«
»Nein.« Woran ich mich auch erinnern sollte, ich tat es offensichtlich nicht
»Das macht es nur noch interessanter«, sagte sie. »Ist dir klar, dass sie versuchen, meine Herzen zu vergiften?«
»Nein«, antwortete ich erneut, doch es interessierte mich, wohin eine solche Bemerkung führen mochte. »Tatsächlich?«
»Ja. Aber das kann ich nicht zulassen, weil ich meine Strafe abzubüßen habe.« Sie schaute sich um, als fürchtete sie, jemand könne mithören. »Wie bist du dieses Mal verbrannt worden?«
Ich konnte ein paar kurze Sätze hintereinander bilden, solange ich nicht vergaß, Pausen zu machen und zu atmen, also erzählte ich ihr in ein paar flüchtigen Details von meinem Unfall – wann, wo, wie lange her. Dann fragte ich sie nach ihrem Namen.
»Du kennst meinen Namen.« Sie fasste sich immer wieder an die Brust, als erwartete sie, dort etwas zu finden, was offenkundig fehlte. Es erinnerte mich daran, wie ich immer über meine Geburtsnarbe gestrichen hatte.
»Was machst du da?«, fragte ich.
»Sie haben mir mein Halsband genommen. Sie haben gesagt, 72 man könne jemanden damit verletzen«, antwortete sie. »Vor kurzem ist hier ein kleines Mädchen gestorben.«
Ich dachte an Thérèse. »Woher weißt du das?«
»Ach, ich weiß einiges über die Toten« – sie lachte –, »aber wir haben wohl Glück.«
»Wie das?«
»Wir haben eine Siebenjährige überlebt. Wir haben sie um das Hundertfache überlebt.«
»Was redest du da?«
»Ich habe einen Hund, der heißt Bougatsa.« Ihre Finger hingen jetzt schlaff herab und zuckten. »Er wird dich mögen.«
»Ich mag keine Hunde.«
»Das kommt noch.«
»Sie mögen mich nicht.«
»Oh. Weil du so hart und böse bist, wie?«
Verhöhnte sie da tatsächlich ein Verbrennungsopfer?
»Was bedeutet dieser Name?«, fragte ich. »Bougatsa.«
»Das ist ein gefülltes griechisches Gebäck, und mein Hund hat genau diese Farbe. Vielleicht bringe ich ihn ja mal mit.«
»Hunde sind hier verboten.« Atmen. »Sogar Blumen können mich umbringen.«
»Ha! Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen. Du hast Schlimmeres zu befürchten als einen Hund, das weißt du doch.« Sie legte mir eine Hand auf die Brust, leicht, behutsam. Ich erschauerte, nicht nur von der Berührung, sondern auch von dem Funkeln in ihren Augen. »Du bist sehr versucht, dich umzubringen, und ich kann es dir nicht verdenken. Doch für so etwas braucht es eine Zeit und einen Ort, und beides ist jetzt nicht gegeben.
« Warum sagte sie so etwas? Ich musste schleunigst das Thema wechseln. »Für siebenhundert Jahre siehst du aber gut aus.«
»Du nicht«, sagte sie und blickte an meinem Körper hinab. Es war das erste Mal, dass jemand einen Witz über meine Verbrennungen machte. »Also, was soll ich deiner Meinung nach mit meinen Herzen tun?«
»Ich finde …« Ich machte eine kleine Pause, damit sie glaubte, ich dächte gründlich über diese Frage nach, wo ich mich doch in Wahrheit auf die Länge des nächsten Satzes vorbereitete. »Ich finde, du solltest sie ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgeben.
« Sie riss die Augen auf, als hätte ich einen Schlüssel in ein geheimes Schloss gesteckt, und ich fragte mich, ob ich auf der Schalttafel ihres Wahnsinns gerade die falsche Taste gedrückt hatte. Doch ebenso schnell wich die Begeisterung in ihrem Blick Misstrauen. Sie zog sich zu einer Ecke meines Betts zurück und intonierte etwas in einer anderen Sprache. »Jube, Domine benedicere. « Lateinisch? Dann führte sie ein kurzes Gespräch in die Luft hinein in einer Sprache, die ich nicht zuordnen konnte, und wartete auf Antworten, die ich nicht hörte. Nachdem das erste Phantasiegespräch beendet war, verneigte sie sich tief und schritt zu einer zweiten Ecke des Betts, wo sie das Ganze wiederholte. Dann zu einer dritten. Sie beschloss jedes Gespräch genau so, wie sie es begonnen hatte: »Jube, Domine benedicere.« Dann kehrte sie zu ihrer ursprünglichen Position zurück. Das Misstrauen in ihrem Blick war verschwunden.
»Meine Drei Meister haben mir bestätigt, dass du es wirklich bist. Für dich habe ich mein letztes Herz perfektioniert.«
Allein diese Aussage bewirkte offensichtlich, dass tiefe Gefühle in ihr aufwallten. Sie war den Tränen nah, als sie sagte: »Darauf habe ich so lange gewartet.«
In diesem Augenblick zog Beth den Vorhang zurück. Sie war erschrocken, dass ich nach so vielen Wochen auf einmal Besuch hatte, und aus ihrer Überraschung wurde rasch Besorgnis, als sie im Blick der Frau das Funkeln irren Glücks wahrnahm. Dann bemerkte Beth, dass die Besucherin zwar einen Kittel trug, aber nicht in der Grüntönung für Besucher, sondern in dem helleren Ton für Patienten, und ein farbcodiertes Armband wies sie als Psychiatriepatientin aus. Beth, professionell wie immer, ging meine Besucherin nicht direkt an, sondern ließ sie nur nicht mit mir allein und rief einen Pfleger, der die Frau auf die Psychiatriestation »zurückbegleiten« sollte.
Ich spürte, dass ich nichts zu befürchten hatte und dass in einer so bedrückend sterilen Atmosphäre ein Schuss Wildheit sogar ganz schön war. Während der wenigen Minuten bis zum Eintreffen des Pflegers redeten die Frau und ich ruhig weiter, und Beth stand mit wachsamem Blick weiter weg in einer Ecke. Meine Besucherin flüsterte, damit man sie nicht hören konnte: »Wir haben eine gemeinsame Bekannte.«
»Das bezweifle ich.«
»Du hast sie nur ein Mal gesehen, in einer Menschenmenge. Sie kann nicht sprechen« – sie beugte sich noch näher zu mir –, »aber sie hat dir einen Hinweis gegeben.«
»Einen Hinweis?«
»Hast du dich schon mal gefragt, woher deine Narbe tatsächlich kommt?« Meine Besucherin griff sich an die Brust, und ich dachte schon, sie wolle auf die Stelle zeigen, wo die Narbe auf meinem Körper war, doch sie tastete nur vergeblich nach ihrer fehlenden Halskette.
Wie konnte die Frau die Worte auf dem Zettel, der mir auf der Luftschau zugesteckt worden war, so genau erraten? Aber ich bin ein rationaler Mensch – es war ein merkwürdiger Zufall, weiter nichts. Zum Beweis dafür versuchte ich es mit einer kleinen Irreführung: »Mein Körper ist eine einzige Narbe.«
»Nicht deine Verbrennungen. Die Narbe, mit der du geboren worden bist, die überm Herzen.«
In dem Moment kam der Pfleger und machte sich daran, die Frau zum Gehen zu bewegen. Beth half ihm, indem sie meine Besucherin mit dem Körper Richtung Tür bugsierte.
Meine Stimme war noch nicht besonders kräftig, doch ich hob sie, so gut ich konnte. »Woher weißt du das?«
Die Frau drehte sich zu mir um, ohne sich von den Armen, die an ihren Ellbogen zogen, beirren zu lassen. »Das Problem mit Leuten wie mir ist, wir sterben nicht richtig.«
Der Pfleger führte sie aus dem Zimmer.
Es gibt für alles eine logische Erklärung, daher gab es auch eine dafür, dass die Frau von meiner Narbe wusste.
Erste Erklärung: Gut geraten.
Zweite Erklärung: Ein Freund machte sich einen Scherz mit mir, einer, der es lustig fand, mir eine Schauspielerin zu schicken, die eine Psychotikerin mit intimen Kenntnissen über mein Leben spielte. Das Dumme an dieser Hypothese war, dass ich keinem meiner Freunde von der Asiatin auf dem Flugplatz erzählt hatte und dass ich keine Freunde mehr besaß, die einen Scherz mit mir gemacht hätten.
Dritte Erklärung: Diese Frau mochte meine Pornofilme und kannte die Narbe auf meiner Brust. Sie war deutlich auf Zelluloid dokumentiert, da ich nie Wert darauf gelegt hatte, sie mit Make-up zu kaschieren. (Zu viel Schweiß in meinem Genre.) Allerdings wurde ich im Krankenhaus nicht unter meinem Pornonamen, sondern unter meinem richtigen geführt, und wenn man noch mein Aussehen bedachte, konnte man mich unmöglich als den Mann erkennen, der ich einmal gewesen war.
Letzte Erklärung: Diese Frau liebte meine Pornofilme und war eine Stalkerin, die meine inzwischen erloschene Produktionsfirma ausfindig gemacht hatte. Jemand, möglicherweise mein idiotischer Anwalt, hatte ihr von meinem Unfall erzählt und sie auf die Verbrennungsstation verwiesen.
Doch wenn sie ein manischer Fan war, warum hatte sie dann nicht meinen früheren Beruf erwähnt? Und wenn sie wegen des Darstellers, den sie gesehen hatte, gekommen war, warum hatte sie dann so glücklich gewirkt, mein neues Ich kennen zu lernen? Und schließlich, so merkwürdig sich die Frau auch benommen hatte, deutete doch nichts auf eine Hardcore-Porno- Sucht hin. Glauben Sie mir, ich habe in meinem Leben schon genug Perverse gesehen, ich erkenne sie auf den ersten Blick.
Ich musste sie wohl einfach bei ihrem nächsten Besuch danach fragen, denn irgendwie wusste ich, dass sie wiederkommen würde. Als ich den Schwestern mitteilte, ich würde alle weiteren Besuche dieser Frau aus der Psychiatrie begrüßen, lächelten sie mich seltsam an. Wie traurig, dürften sie gedacht haben, dass ich mich auf die Besuche einer Verrückten freute. Doch das schreckte mich nicht ab, und ich bat Beth sogar, den Namen der Frau herauszufinden. Sie weigerte sich, etwas Derartiges zu tun, also bat ich Connie. Auch sie sagte, es sei gegen die Klinikvorschriften, nähere Informationen über andere Patienten preiszugeben. Daraufhin meinte ich, es wäre »ganz, ganz gemein«, wenn Connie mir nicht helfe, den Namen des einzigen Menschen, der mich in dieser langen Zeit besucht habe, herauszubekommen. Da sie mehr als alles andere nett sein wollte, brachte Connie mir schon bald die erbetene Information.
Die Frau hieß Marianne Engel.
Vor dem Unfall bin ich größer gewesen. Das Feuer hat mich wie Beef Jerky im Trocknungsprozess zusammenschnurren lassen. Früher war ich so schlank und begehrenswert wie ein griechischer Knabe aus dem dritten Jahrhundert und meine Arschbacken reif wie die prallen Halbmelonen, für die japanische Geschäftsleute ein kleines Vermögen hinlegen. Meine Haut war weich und rein wie unberührter Joghurt, mein Bauch in symmetrische Kissen aufgeteilt und meine Arme geschmeidig und muskulös. Mein Markenzeichen aber war mein Gesicht. Ich hatte Wangenknochen, die einen Platz in Verlaines feuchten Träumen gehabt hätten. Meine Augen waren so dunkel und tief, dass ein kleiner Verein von Höhlenforschern dort eine Tagesexkursion hätte unternehmen können. Ein Schwuler hatte mir einmal gesagt, wie sehr er sich danach sehne, seine Penispflaume sachte auf meine Unterlippe zu legen. Ich lachte ihn aus, aber insgeheim empfand ich es als ein wunderbares Kompliment.
Seit meinem Unfall versuche ich, meine Eitelkeit abzulegen, aber bis heute habe ich damit zu kämpfen. Ich denke an früher, als mein Gesicht vollkommen war und als der Wind mir die Haare anhob, so dass sie wie die weichen Unterfedern eines Vogelflügels aussahen. Ich erinnere mich, wie Frauen sich auf der Straße umdrehten, mir zulächelten und überlegten, wie es wohl wäre, meine Schönheit auch nur einen strahlenden Moment lang zu besitzen.
Wenn Sie die Beschreibung des Biests, das ich jetzt bin, akzeptieren, dann bitte auch die des Schönen, der ich einmal war. Und seit meiner Begegnung mit Marianne Engel habe ich diesen Verlust – besonders die leere Verbindung meiner Beine – umso schmerzlicher empfunden.
Rund zehn Tage später beehrte sie mich wieder. Diesmal trug sie einen Umhang, der mir von bestem mittelalterlichem Schnitt zu sein schien. Ich amüsiere mich hier nicht auf Ihre Kosten, sie trug das wirklich. Die Kapuze fiel ihr ins Gesicht, und ihre Augen leuchteten darunter wie Aquamarine in einem Stollen. Sie legte einen Finger auf die Lippen, womit sie mir bedeutete, still zu sein, und näherte sich verstohlen meinem Bett. Ich hätte fast gelacht, doch ich erkannte, dass es ihr todernst war. Kaum war sie bei mir, zog sie die Vorhänge zu, damit wir wieder unsere Ruhe hatten. Ihre Sorge war unnötig, da das Zimmer zu der Zeit nur von zwei weiteren Patienten belegt war; der eine war bei der Reha, der andere schnarchte.
Hinter der Plastikbarriere fühlte sie sich so sicher, dass sie die Kapuze zurückzog – nur ein bisschen, nicht ganz –, und ich bemerkte, dass die Säcke unter ihren Augen verschwunden waren. Sie sah viel besser aus als bei unserer ersten Begegnung, und sie verströmte einen kräftigen Tabakgeruch. Ich überlegte, ob sie es geschafft hatte, sich an den Schwestern vorbeizuschleichen, oder ob die sie einfach hereingelassen hatten. Dass sie wieder nicht den richtigen Besucherkittel trug, legte nahe, dass sie ohne deren Wissen hereingekommen war. Sie ließ die Hände an den Seiten der Kapuze, als wollte sie sie jederzeit wieder über den Kopf ziehen können. »Sie sollen nicht wissen, dass ich hier bin.«
»Die Ärzte?«
Marianne Engel nickte. Ich sagte ihr, sie hätte nicht viel zu befürchten, es seien nette Leute.
»Du weißt nicht viel über Ärzte.« Sie griff sich in den Ausschnitt und zog eine Lederschnur hervor, an der eine Pfeilspitze baumelte. »Hier, ich habe mein Halsband wieder.« Sie zog es über den Kopf und hielt es mir hin, über die Brust, so dass die Pfeilspitze wie ein Zauberamulett zu meinem Herzen pendelte. »Darf ich?«
Ich wusste nicht, was sie meinte, nickte aber trotzdem. Marianne Engel ließ die Hand sinken, bis die Pfeilspitze auf meiner Brust lag und die Lederschnur schlaff wurde. »Wie fühlt sich das an?«
»Als würde sie dahin gehören.«
»Das ist auch so.«
»Woher hast du von der Narbe auf meiner Brust gewusst?«
»Nicht so schnell. Solche Dinge zu erklären braucht Zeit.«
Sie nahm das Halsband von meiner Brust und legte es sich wieder um. »Darf ich dir zunächst eine Geschichte von einem Drachen erzählen?«
Roman Aus dem kanadischen Englisch von Eike Schönfeld
© BV Berlin Verlag GmbH
- Autor: Andrew Davidson
- 2009, 573 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schönfeld, Eike
- Übersetzer: Eike Schönfeld
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827007828
- ISBN-13: 9783827007827
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