Call if you need me
Erzählungen und Essays
Dieses Buch versammelt alle nicht in den drei inzwischen zu Klassikern avancierten Bänden "Würdest du bitte endlich still sein, bitte", "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" und "Kathedrale" enthaltenen Erzählungen Raymond Carvers. Außerdem enthält er...
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Produktinformationen zu „Call if you need me “
Klappentext zu „Call if you need me “
Dieses Buch versammelt alle nicht in den drei inzwischen zu Klassikern avancierten Bänden "Würdest du bitte endlich still sein, bitte", "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" und "Kathedrale" enthaltenen Erzählungen Raymond Carvers. Außerdem enthält er Carvers essayistische Reflexionen über literarische Vorbilder und sein eigenes Schreiben. Mit diesem Band liegt das gesamte erzählerische Werk Raymond Carvers in der Fischer Klassik vor.
Lese-Probe zu „Call if you need me “
Call if you need me von Raymond CarverErzählungen und Essays
Tess Gallagher
Wenn der Tod nicht Tod bedeutet
Die letzte, vor seinem Tod veröffentlichte Erzählung Raymond Carvers, »Botengang«, handelt von Tschechows Tod in dem Kurort Badenweiler. Beim Betrachten der neuen deutschen Ausgabe seiner frühen und späten Erzählungen wird mir erst richtig bewusst, dass Rays erzählerisches Schreiben, geographisch gesehen, an einem Schauplatz in Deutschland endete. Wie angebracht, dass der deutsche Verleger zum Abschluss einen Band herausbringt, der dieses Ende in Beziehung setzt zu Carvers Anfängen und zu den nach seinem Tod entdeckten, zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten fünf Geschichten. Letztere werden für alle, die begierig sind, immer noch mehr von Carver zu lesen, den Mittelpunkt des Bandes bilden. Mit ihnen liegt alles vor, was es je geben wird von diesem außergewöhnlichen Autor, dessen Erzählungen - durch unerbittliche Aufrichtigkeit geläuterte Zeugnisse - rund um die Welt in über zwanzig Sprachen eingegangen sind.
Es ist nur natürlich, dass wir wissen möchten, wo und wie ein Schriftsteller, den wir bewundern, begann. Hier, in diesem Band, kann man Carvers Entwicklung verfolgen - von seiner ersten gedruckten Erzählung, »Wilde Jahreszeiten«, mit Faulkner und Joyce als Mentoren, bis zu den letzten vollendeten Erzählungen und schließlich zum postumen Werk. Nicht eingeschlossen sind hier die bereits früher auf Deutsch erschienenen Angelpunkte Würdest du bitte endlich still sein, bitte, Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden und Kathedrale.
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Der unbearbeitete Edelstein »Das Haar« gewährt uns Einblick in die ersten Momente jenes gestalteten und geschliffenen Unbehagens, für das Ray berühmt wurde. »Die Aficionados«, ebenfalls zu dieser Zeit entstanden, ist eine der zwei Parodien, die er veröffentlichte. Hier mokierte er sich, damals unter dem Pseudonym John Vale, über Hemingway, von dem er klar erkennbar beeinflusst war und der ihm ein wichtiges literarisches Vorbild blieb, bis später Tschechow an seine Stelle rückte.
Wie dankbar ich auch bin für die aufgefundenen unveröffentlichten Erzählungen - ich persönlich halte die sieben vor seinem Tod als »Neue Erzählungen« veröffentlichten für das Herzstück dieser Sammlung. Sie markieren einen Höhepunkt in Rays Entwicklung, und vor allem zeigen sie seine Vorlieben, das, wofür er sich gegen Ende seines Lebens von Lesern und Kritikern Anerkennung wünschte. Das Ende kam viel zu früh - er war fünfzig, als er an Lungenkrebs starb. Es war gleichermaßen Zufall und Absicht, dass mehr als zehn Jahre vergehen mussten, ehe irgendetwas nach diesen Erzählungen Entstandenes in gedruckter Form erschien. Dieses Schweigen hob zweierlei hervor - Rays Dahinscheiden und die Art und Weise, wie er sein Werk vollendet hatte.
Als Rays Seelengefährtin und Wegbegleiterin sah ich meine Aufgabe nach seinem Tod darin, mich um das zu kümmern, was bleibt. Wir werden uns immer ungerecht beraubt fühlen, beraubt um das, was er vielleicht noch geschrieben hätte. So kommt diese zusätzliche Gabe als Trost - solange wir sie als Zugabe in Ehren halten und uns nicht darauf versteifen, diese Geschichten als nicht so gut wie andere abzutun, weil sie vergleichsweise unvollendet sind. Ray war ein großer Umschreiber, und so brachte er die sieben erwähnten »neuen« Erzählungen zu höchster Perfektion. Bei allen übrigen in diesem Band werden wir Zeugen, wie er sich (in den frühen Erzählungen) bemüht, seine Stimme zu finden, und sie schließlich perfektioniert. In den unlängst entdeckten Erzählungen erleben wir ihn ebenfalls in Phasen des Ausprobierens - an den sieben vollendeten kann man sehen, was er an jenen womöglich noch getan hätte, wenn ihm die Zeit geblieben wäre.
Im Verlauf des ein Jahr währenden Prozesses, die fünf postumen Erzählungen in Amerika herauszubringen, schrieb ich an einen Freund, dies seien nun wirklich die letzten Arbeiten von Ray. Ich fühlte mich erinnert an den Moment, als Haruki Murakami, ein bedeutender Schriftsteller und zugleich Rays japanischer Übersetzer, und seine Frau Yoko mich nach Rays Tod besuchten. Haruki hatte mir anvertraut, dass er Ray als einen Begleiter empfunden habe und sich nun davor fürchte, seine japanische Ausgabe der Werke von Raymond Carver zu beenden. Ich weiß jetzt, welche Mischung von Freude und Trauer er empfunden haben muss. Ich spürte die gleiche Leere im März letzten Jahres wieder. Ich bereitete 176 Pappkartons mit meinen literarischen und persönlichen Papieren und Rays restlichem Nachlass für den Transport nach Columbus, Ohio, vor, wo sie Bestandteil des Charvat-Archivs für amerikanische Literatur in der Ohio State University Library werden sollten. Als der Lastwagen losfuhr, sagte meine Mutter: »Es ist ein Gefühl, als hätte Ray uns noch mal verlassen.« Ich wusste, was sie meinte. Es war ein schreckliches Ziehen an Herz und Seele, und ich sagte: »Ja, aber diesmal ist eine Menge von mir mit ihm gegangen.«
Es hat Freude gemacht, etwas Neues herauszubringen von einer Stimme, die diese Erde verlassen zu haben schien. Würde heutzutage eine Truhe mit Manuskripten von Kafka oder Tschechow entdeckt, dann würde sofort alle Welt wissen wollen, was sie enthält. So sind wir - neugierig, sehnsüchtig nach Vergangenem, begierig, den vertrauten Geistern derer nahe zu sein, die wir in der Literatur oder in unserem Leben bewundern. Was mich angeht, so lebe ich heute in zweierlei Gestalt - als eine Frau, die ihr eigenes Leben zu führen hat, und als eine andere, die zu erahnen versucht, was das Beste ist, um Rays Werk und die Erinnerung an ihn lebendig zu halten. Ich habe meine eigenen Türen und Zugänge, die mir helfen, in beiderlei Hinsicht - achtsam und wohl überlegt - das Richtige zu tun.
Die Entdeckungen unveröffentlichter Arbeiten von Ray sind Ereignisse für sich und doch verbunden mit den Werken, die er zu seinen Lebzeiten veröffentlichte. Sie sind kostbar für alle, die sich dergleichen gewünscht haben, denn wenn wir einen Schriftsteller lieben, möchten wir gern immer weiterlesen, um den ganzen Umfang, die ganze Reichweite dessen, was er schrieb, kennenzulernen - das Transzendente, das Unerwartete, ja sogar das Unvollendete. Hier können wir es. Das Kostbare rührt nicht nur vom Ganzen her, sondern ebenso von kleinen Dingen: von der Ausdrucksweise und der Syntax, von wiedererkannten oder überraschenden Gestalten, vom Zeile um Zeile sich fortsetzenden Spiel des Erzählens. Die extreme Sorgfalt, die Ray jeder seiner Geschichten angedeihen ließ, machte ihn zu einem meisterhaften Erzähler. Aber sein - bei Tania Blixen entlehntes - Motto lautete: »Ohne Hoffnung und ohne Verzweiflung.« Mit anderen Worten, er war überaus demütig, was seine Arbeitsmethoden und seine Leistungen betraf. Er tat seine Arbeit, das war alles. Niemals gab er vor, vollkommen zu sein oder auf Anhieb eine vollendete Erzählung geschrieben zu haben. Dieses Wissen bestärkte mich in dem Gefühl, seine nachgelassenen Erzählungen könnten veröffentlicht werden, ohne dass sein Ansehen als Schriftsteller gemindert oder das, was er der Welt bereits gegeben hatte, Schaden nehmen würde. Seine Größe beruht nicht auf Erhabenheit, sondern eher auf der Menschlichkeit und Verständlichkeit seiner Stimme, so wie sie sich durch seine Gestalten und deren fehlbares Leben ausdrückt.
Ein Schweizer Freund, der mit mir an Rays Grab stand, zitierte eine berühmte Zeile von Rilke, die, glaube ich, beschreibt, was in der Welt der Leser geschieht, wenn sie Raymond Carvers Erzählungen mit dem Herzen lesen: »Er ist überall wie eine Dämmerstunde.« Carvers Welt ist überall. Und das scheint heute ebenso zu gelten wie zu der Zeit, als die Erzählungen in den siebziger und achtziger Jahren geschrieben wurden.
Als Ray die letzte Erzählung seines Lebens, »Botengang «, schrieb, mag er das Gefühl gehabt haben, er könne überallhin gehen. Er wusste damals noch nichts von der Krankheit, die seine Lunge schon befallen hatte. Schreibend reiste er mit Tschechow, reiste in seiner Phantasie nach Deutschland. Später, als er sich über seine schreckliche Lage im Klaren war und wusste, dass der Krebs sich auf das Gehirn ausgedehnt hatte, kehrte er zu Tschechows Erzählungen zurück und überführte Passagen daraus in seine Dichtung - so kam es, dass Tschechow den letzten Gedichtband Raymond Carvers begleitete.
Ray und ich hatten 1986 zusammen Deutschland besucht und im Casino der Wiesbadener Spielbank gespielt, wo Dostojewski ein Vermögen gewonnen und verloren hatte. Diese Gelegenheit wiederholte sich gewissermaßen, als wir nach Reno, Nevada, flogen, einem berühmten Glücksspielort, wo wir Casinos besuchten und - das Wichtigste von allem - am 17. Juni 1988 heirateten. In Wiesbaden wie in Reno hatte ich eine unerklärliche Glückssträhne, als ich beim Roulette auf die Zahl 24 setzte. Beide Male hörten wir sofort auf, als das Glück einen Höhepunkt erreichte. Wir wollten feiern, bevor der Zauber verflog.
Ich erwähne dieses Glücksspielerlebnis, um Rays Risikobereitschaft aufzuzeigen, seine Entschlossenheit, das, was er hatte, einzusetzen, aufs Spiel zu setzen, um unbekanntes, unerprobtes Territorium zu erkunden. In seinen Augen war diese Fähigkeit, sich geheimnisvollen Kräften auszusetzen, von zentraler Bedeutung für die psychische Glaubwürdigkeit beim Geschichten-Schreiben, aber für ihn war es nicht einmal Geheimnis - es war einfach nur so. Er war nicht tollkühn, aber er wollte sehen, wohin die einmal geworfenen Würfel ihn brachten, so wie er seinen Gestalten, wohin die Ereignisse sie auch führten, folgte - zum Beispiel, als er an Tschechows Sterbebett in Badenweiler verharrte.
Gemessen an den prunkvollen Hallen des Casinos der Wiesbadener Spielbank mit ihren schimmernden Kandelabern und Marmorsäulen, den Sälen mit kunstvollen goldenen Deckenverzierungen und dunkel getäfelten Wänden, bildete das flitterhafte Geglitzer in Reno - wo wir uns wegen unserer Herkunft aus Arbeiterfamilien wahrscheinlich wohler fühlten - einen scharfen Kontrast. Doch in Wiesbaden war ich mir eines Nachhalls der Anwesenheit Dostojewskis gespenstisch bewusst, und durch mich schien auch Ray ihn an unserer Seite wahrzunehmen, wie er uns ermutigte und uns die Zahl 24 wie einen Zauberspruch ins Ohr flüsterte. Dostojewski begleitete uns ebenso in Reno - nun in amerikanischem Stil. In Rays Leben gab es nur wenige opulente Inseln, und unter ihnen wird das Glücksspiel in Wiesbaden für mich immer einen besonderen Platz einnehmen. Badenweiler hat er nie gesehen, außer durch die Brille der Literatur - durch seine Erzählung »Botengang« und durch Henri Troyats Tschechow-Biographie, die wir damals gelesen hatten. Und so, wie Tschechow in Kursbüchern nachgelesen hatte, wann Züge von Badenweiler abfuhren, so hatte Ray in Flugplänen nachgelesen, wie er von Port Angeles, wo er sterben würde, fortkommen konnte - er wünschte sich glühend, er könnte Russland besuchen und all die Orte, wo Tschechow gelebt hatte, insbesondere Jalta.
Ray hatte es geschafft, ein letztes Buch, einen Gedichtband, abzuschließen: A New Path to the Waterfall. Die Belohnung dafür hätten Russland und Tschechow sein sollen, aber ihm blieb nicht mehr die Zeit dafür. In seiner Schublade fanden sich mehrere Ordner mit Ideen für Erzählungen und Erzählungsentwürfen in verschiedenen Stadien der Vollendung, manche darunter noch in seiner Handschrift. Ray wusste damals, dass ihm keine Zeit blieb, diese Arbeiten vor seinem Tod abzuschließen, denn wir hatten erfahren, dass der Krebs nun auch in der ihm verbliebenen Lungenhälfte wieder aufgetreten war. Die Ordner blieben in der Schublade - wir entschieden uns für einen letzten Angeltrip nach Alaska.
Nach Rays Tod war ich auf die Ordner gestoßen, als ich die Einführung zu seinem letzten Gedichtband schrieb. Aber wie unsere Trauer uns manchmal vor allzu viel Leid schützt, hatte ich nur einen Blick auf seine kleine, schnelle Bleistiftschrift auf den Seiten geworfen und mir dann gesagt, dass es mir wohl erlaubt sei, die Schublade zu schließen. Damals war ich mir nicht sicher, ob es vollständige Manuskripte waren und ob sie, falls sie es waren, veröffentlicht werden sollten. So oder so war ich der Meinung, ehe Unveröffentlichtes geprüft werde, sollte alles, was Ray eindeutig zur Veröffentlichung bestimmt hatte, gedruckt werden. Es dauerte dann neun Jahre, bis dies mit dem Erscheinen der gesammelten Gedichte Raymond Carvers erreicht war.
Erst nach einer Anfrage von Jay Woodruff, einem Freund, Redakteur bei Esquire, dachte ich wieder an die Ordner. Woodruff wollte zu Raymond Carvers zehntem Todestag etwas veröffentlichen. Ich hatte das Gefühl, dass er verstand, was die Beschäftigung mit Rays Werk ohne Ray für mich bedeutete; schließlich hatten wir uns über alles ausgetauscht, insbesondere über unsere Arbeit an unseren Erzählungen. »Da sind noch diese Ordner im Schreibtisch«, sagte ich. »Mag sein, dass nichts Vollständiges oder Lohnendes darunter ist«, sagte ich zu ihm, »aber ich kann ja mal nachsehen.« Ich vermute, Jay hörte mein Zögern heraus. Jedenfalls sagte er: »Tess, wenn du so weit bist, dass du dir die Sachen ansehen willst, komme ich nur zu gern und helfe dir.«
Jay Woodruff war genau die richtige Person, auf deren Erscheinen ich immer gehofft hatte. Er respektierte meine Arbeit, liebte Rays Werk, und er verstand etwas vom Prozess des Redigierens und Veröffentlichens. Überdies war er als Schriftsteller und Zeitschriftenredakteur in der Lage, gute Erzählungen zu erkennen, wenn er welche sah. Im März 1999 flog er nach Seattle und kam dann in dreistündiger Fahrt mit Auto und Fähre nach Port Angeles. Am nächsten Tag, von morgens um neun bis abends um elf, sahen wir sorgfältig den Inhalt jeder einzelnen Schublade in Rays Schreibtisch durch. Wir lasen die Seiten in den Ordnern, beschrifteten und fotokopierten sie und trafen schließlich unsere Auswahl. Es war eine stille, intime und zielgerichtete Arbeit. Beim Lesen wurde uns klar, dass da drei sehr gute Erzählungen waren. Die Beklommenheit, mit der ich an diese letzten Arbeiten von Ray gegangen war, trat nun hinter die Hoffnung zurück, diesen unveröffentlichten Erzählungen gerecht zu werden.
Jay übernahm es, Rays kritzelige Handschrift zu entziffern und exakte Transkriptionen zu machen. Eines der Manuskripte war gänzlich mit der Hand geschrieben, andere waren mit der Schreibmaschine getippt und wiesen handschriftliche Korrekturen auf. Ich hatte elf Jahre lang Rays Handschrift entziffert - jetzt prüfte ich Jays Transkriptionen Wort für Wort anhand der Vorlagen und füllte ein paar Lücken aus, wo er den Text nicht hatte lesen können. Wir hielten uns vor Augen, dass Ray gelegentlich eine Geschichte dreißig Mal umgeschrieben hatte. Diese Erzählungen dagegen hatte er längst nicht so stark überarbeitet. Trotzdem bedurften sie nur geringfügiger redaktioneller Arbeit. Namen von Gestalten und Orten wurden vereinheitlicht, so dass aus Dotty nicht, eine Seite später, Dolores wurde und aus Eureka, Kalifornien, nicht Arcata. Schlüsse, an denen Ray immer besonders intensiv arbeitete, hatte er hier in ein paar Fällen so stehen lassen, wie man von einer Mahlzeit aufsteht, wenn das Telefon klingelt. Wir ließen jene letzten Momente einfach verhallen und erlaubten der Erzählung so, zur Ruhe zu kommen.
Es war ein zusätzliches Geschenk, als ich Mitte des Sommers an meinem Geburtstag einen aufgeregten Telefonanruf erhielt und von der unerwarteten Entdeckung zweier weiterer Erzählungen erfuhr. Der Anruf kam von den Eheleuten William L. Stull und Maureen P. Carroll, die beide über Carver arbeiteten. Sie hatten das Charvat-Archiv für amerikanische Literatur in der Ohio State University Library besucht, und bei der Durchsicht eines Pappkartons voller Manuskripte hatten sie zwei vollständige unveröffentlichte Erzählungen von Raymond Carver gefunden.
Die erste der Erzählungen, die Jay und ich Raymond Carvers amerikanischen Lesern vorlegten, war »Anmachholz «, eine Geschichte von einem Mann, der nach Alkoholabhängigkeit und dem Ende seiner Ehe ganz neu anzufangen versucht. Ray hatte mehrere Geschichten zu diesem Thema geschrieben, darunter »Von wo ich anrufe« (in dem Band Kathedrale). In »Anmachholz« hackt ein Mann verzweifelt ein Klafter Holz und versucht sich dabei über seine Absichten klarzuwerden. Der Erzähler ist auch Schriftsteller, und seine zögernden Versuche, wieder zu schreiben, erinnern mich auf bewegende Weise an die Zeit damals, 1979, als Ray und ich unser gemeinsames Leben in El Paso aufnahmen und er nach einer zehnjährigen Alkoholismus-Phase selbst einen Neuanfang mit dem Schreiben machte. Er hatte zu der Zeit mindestens vier Jahre lang nicht mehr geschrieben und war entschlossen gewesen, nie wieder zur Feder zu greifen, falls das seine Rettung vor dem Tod durch Alkohol bedeutete. Glücklicherweise hatte er beides fertiggebracht - wieder zu schreiben und nicht mehr zu trinken. Ich gab mir alle Mühe, ihn in beidem zu unterstützen und zu bestärken.
Von den fünf neu entdeckten Erzählungen wurde »Träume« meine Lieblingsgeschichte. Hier verliert eine Frau nach dem Scheitern ihrer Ehe ihre beiden Kinder bei einem Brand. Diese Erzählung schlug eine Brücke zwischen unserem Leben in Syracuse (wo Ray und ich - wie das Paar in der Erzählung - im Keller geschlafen hatten, um der Augusthitze zu entfliehen) und dem Nordwesten (wo es in unserer Straße gebrannt hatte, allerdings ohne dass jemand zu Tode gekommen war). Ich erkannte das Echo von Rays Erzählung »Eine kleine, gute Sache« wieder, in der ebenfalls ein Kind stirbt. In beiden Fällen bewunderte ich die Kühnheit, mit der Ray ein Thema aufgriff, bei dem er leicht ins Sentimentale hätte abgleiten können. In »Träume« entwickeln sich die Details spiralförmig, so wie Rauch von einem Dach aufsteigt, und die Handlung entfaltet sich in Chiaroscuro: Die Szene wird sichtbar, leuchtet, lodert. Das Leben dieser Gestalten wird dermaßen von Umständen bestimmt, dass es das unsere wird.
Ein Postskriptum: Die Frau, die der jungen Mutter als Vorbild dient, sollte später meine Friseuse und eine gute Freundin von mir werden. Und sie lachte oft darüber, wie sie sich einst vorgestellt hatte, Ray müsse ein CIA-Spion sein, wenn sie ihn, gegenüber von ihrem Haus, an seinem Fenster in der zweiten Etage an der Schreibmaschine sitzen sah.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Der unbearbeitete Edelstein »Das Haar« gewährt uns Einblick in die ersten Momente jenes gestalteten und geschliffenen Unbehagens, für das Ray berühmt wurde. »Die Aficionados«, ebenfalls zu dieser Zeit entstanden, ist eine der zwei Parodien, die er veröffentlichte. Hier mokierte er sich, damals unter dem Pseudonym John Vale, über Hemingway, von dem er klar erkennbar beeinflusst war und der ihm ein wichtiges literarisches Vorbild blieb, bis später Tschechow an seine Stelle rückte.
Wie dankbar ich auch bin für die aufgefundenen unveröffentlichten Erzählungen - ich persönlich halte die sieben vor seinem Tod als »Neue Erzählungen« veröffentlichten für das Herzstück dieser Sammlung. Sie markieren einen Höhepunkt in Rays Entwicklung, und vor allem zeigen sie seine Vorlieben, das, wofür er sich gegen Ende seines Lebens von Lesern und Kritikern Anerkennung wünschte. Das Ende kam viel zu früh - er war fünfzig, als er an Lungenkrebs starb. Es war gleichermaßen Zufall und Absicht, dass mehr als zehn Jahre vergehen mussten, ehe irgendetwas nach diesen Erzählungen Entstandenes in gedruckter Form erschien. Dieses Schweigen hob zweierlei hervor - Rays Dahinscheiden und die Art und Weise, wie er sein Werk vollendet hatte.
Als Rays Seelengefährtin und Wegbegleiterin sah ich meine Aufgabe nach seinem Tod darin, mich um das zu kümmern, was bleibt. Wir werden uns immer ungerecht beraubt fühlen, beraubt um das, was er vielleicht noch geschrieben hätte. So kommt diese zusätzliche Gabe als Trost - solange wir sie als Zugabe in Ehren halten und uns nicht darauf versteifen, diese Geschichten als nicht so gut wie andere abzutun, weil sie vergleichsweise unvollendet sind. Ray war ein großer Umschreiber, und so brachte er die sieben erwähnten »neuen« Erzählungen zu höchster Perfektion. Bei allen übrigen in diesem Band werden wir Zeugen, wie er sich (in den frühen Erzählungen) bemüht, seine Stimme zu finden, und sie schließlich perfektioniert. In den unlängst entdeckten Erzählungen erleben wir ihn ebenfalls in Phasen des Ausprobierens - an den sieben vollendeten kann man sehen, was er an jenen womöglich noch getan hätte, wenn ihm die Zeit geblieben wäre.
Im Verlauf des ein Jahr währenden Prozesses, die fünf postumen Erzählungen in Amerika herauszubringen, schrieb ich an einen Freund, dies seien nun wirklich die letzten Arbeiten von Ray. Ich fühlte mich erinnert an den Moment, als Haruki Murakami, ein bedeutender Schriftsteller und zugleich Rays japanischer Übersetzer, und seine Frau Yoko mich nach Rays Tod besuchten. Haruki hatte mir anvertraut, dass er Ray als einen Begleiter empfunden habe und sich nun davor fürchte, seine japanische Ausgabe der Werke von Raymond Carver zu beenden. Ich weiß jetzt, welche Mischung von Freude und Trauer er empfunden haben muss. Ich spürte die gleiche Leere im März letzten Jahres wieder. Ich bereitete 176 Pappkartons mit meinen literarischen und persönlichen Papieren und Rays restlichem Nachlass für den Transport nach Columbus, Ohio, vor, wo sie Bestandteil des Charvat-Archivs für amerikanische Literatur in der Ohio State University Library werden sollten. Als der Lastwagen losfuhr, sagte meine Mutter: »Es ist ein Gefühl, als hätte Ray uns noch mal verlassen.« Ich wusste, was sie meinte. Es war ein schreckliches Ziehen an Herz und Seele, und ich sagte: »Ja, aber diesmal ist eine Menge von mir mit ihm gegangen.«
Es hat Freude gemacht, etwas Neues herauszubringen von einer Stimme, die diese Erde verlassen zu haben schien. Würde heutzutage eine Truhe mit Manuskripten von Kafka oder Tschechow entdeckt, dann würde sofort alle Welt wissen wollen, was sie enthält. So sind wir - neugierig, sehnsüchtig nach Vergangenem, begierig, den vertrauten Geistern derer nahe zu sein, die wir in der Literatur oder in unserem Leben bewundern. Was mich angeht, so lebe ich heute in zweierlei Gestalt - als eine Frau, die ihr eigenes Leben zu führen hat, und als eine andere, die zu erahnen versucht, was das Beste ist, um Rays Werk und die Erinnerung an ihn lebendig zu halten. Ich habe meine eigenen Türen und Zugänge, die mir helfen, in beiderlei Hinsicht - achtsam und wohl überlegt - das Richtige zu tun.
Die Entdeckungen unveröffentlichter Arbeiten von Ray sind Ereignisse für sich und doch verbunden mit den Werken, die er zu seinen Lebzeiten veröffentlichte. Sie sind kostbar für alle, die sich dergleichen gewünscht haben, denn wenn wir einen Schriftsteller lieben, möchten wir gern immer weiterlesen, um den ganzen Umfang, die ganze Reichweite dessen, was er schrieb, kennenzulernen - das Transzendente, das Unerwartete, ja sogar das Unvollendete. Hier können wir es. Das Kostbare rührt nicht nur vom Ganzen her, sondern ebenso von kleinen Dingen: von der Ausdrucksweise und der Syntax, von wiedererkannten oder überraschenden Gestalten, vom Zeile um Zeile sich fortsetzenden Spiel des Erzählens. Die extreme Sorgfalt, die Ray jeder seiner Geschichten angedeihen ließ, machte ihn zu einem meisterhaften Erzähler. Aber sein - bei Tania Blixen entlehntes - Motto lautete: »Ohne Hoffnung und ohne Verzweiflung.« Mit anderen Worten, er war überaus demütig, was seine Arbeitsmethoden und seine Leistungen betraf. Er tat seine Arbeit, das war alles. Niemals gab er vor, vollkommen zu sein oder auf Anhieb eine vollendete Erzählung geschrieben zu haben. Dieses Wissen bestärkte mich in dem Gefühl, seine nachgelassenen Erzählungen könnten veröffentlicht werden, ohne dass sein Ansehen als Schriftsteller gemindert oder das, was er der Welt bereits gegeben hatte, Schaden nehmen würde. Seine Größe beruht nicht auf Erhabenheit, sondern eher auf der Menschlichkeit und Verständlichkeit seiner Stimme, so wie sie sich durch seine Gestalten und deren fehlbares Leben ausdrückt.
Ein Schweizer Freund, der mit mir an Rays Grab stand, zitierte eine berühmte Zeile von Rilke, die, glaube ich, beschreibt, was in der Welt der Leser geschieht, wenn sie Raymond Carvers Erzählungen mit dem Herzen lesen: »Er ist überall wie eine Dämmerstunde.« Carvers Welt ist überall. Und das scheint heute ebenso zu gelten wie zu der Zeit, als die Erzählungen in den siebziger und achtziger Jahren geschrieben wurden.
Als Ray die letzte Erzählung seines Lebens, »Botengang «, schrieb, mag er das Gefühl gehabt haben, er könne überallhin gehen. Er wusste damals noch nichts von der Krankheit, die seine Lunge schon befallen hatte. Schreibend reiste er mit Tschechow, reiste in seiner Phantasie nach Deutschland. Später, als er sich über seine schreckliche Lage im Klaren war und wusste, dass der Krebs sich auf das Gehirn ausgedehnt hatte, kehrte er zu Tschechows Erzählungen zurück und überführte Passagen daraus in seine Dichtung - so kam es, dass Tschechow den letzten Gedichtband Raymond Carvers begleitete.
Ray und ich hatten 1986 zusammen Deutschland besucht und im Casino der Wiesbadener Spielbank gespielt, wo Dostojewski ein Vermögen gewonnen und verloren hatte. Diese Gelegenheit wiederholte sich gewissermaßen, als wir nach Reno, Nevada, flogen, einem berühmten Glücksspielort, wo wir Casinos besuchten und - das Wichtigste von allem - am 17. Juni 1988 heirateten. In Wiesbaden wie in Reno hatte ich eine unerklärliche Glückssträhne, als ich beim Roulette auf die Zahl 24 setzte. Beide Male hörten wir sofort auf, als das Glück einen Höhepunkt erreichte. Wir wollten feiern, bevor der Zauber verflog.
Ich erwähne dieses Glücksspielerlebnis, um Rays Risikobereitschaft aufzuzeigen, seine Entschlossenheit, das, was er hatte, einzusetzen, aufs Spiel zu setzen, um unbekanntes, unerprobtes Territorium zu erkunden. In seinen Augen war diese Fähigkeit, sich geheimnisvollen Kräften auszusetzen, von zentraler Bedeutung für die psychische Glaubwürdigkeit beim Geschichten-Schreiben, aber für ihn war es nicht einmal Geheimnis - es war einfach nur so. Er war nicht tollkühn, aber er wollte sehen, wohin die einmal geworfenen Würfel ihn brachten, so wie er seinen Gestalten, wohin die Ereignisse sie auch führten, folgte - zum Beispiel, als er an Tschechows Sterbebett in Badenweiler verharrte.
Gemessen an den prunkvollen Hallen des Casinos der Wiesbadener Spielbank mit ihren schimmernden Kandelabern und Marmorsäulen, den Sälen mit kunstvollen goldenen Deckenverzierungen und dunkel getäfelten Wänden, bildete das flitterhafte Geglitzer in Reno - wo wir uns wegen unserer Herkunft aus Arbeiterfamilien wahrscheinlich wohler fühlten - einen scharfen Kontrast. Doch in Wiesbaden war ich mir eines Nachhalls der Anwesenheit Dostojewskis gespenstisch bewusst, und durch mich schien auch Ray ihn an unserer Seite wahrzunehmen, wie er uns ermutigte und uns die Zahl 24 wie einen Zauberspruch ins Ohr flüsterte. Dostojewski begleitete uns ebenso in Reno - nun in amerikanischem Stil. In Rays Leben gab es nur wenige opulente Inseln, und unter ihnen wird das Glücksspiel in Wiesbaden für mich immer einen besonderen Platz einnehmen. Badenweiler hat er nie gesehen, außer durch die Brille der Literatur - durch seine Erzählung »Botengang« und durch Henri Troyats Tschechow-Biographie, die wir damals gelesen hatten. Und so, wie Tschechow in Kursbüchern nachgelesen hatte, wann Züge von Badenweiler abfuhren, so hatte Ray in Flugplänen nachgelesen, wie er von Port Angeles, wo er sterben würde, fortkommen konnte - er wünschte sich glühend, er könnte Russland besuchen und all die Orte, wo Tschechow gelebt hatte, insbesondere Jalta.
Ray hatte es geschafft, ein letztes Buch, einen Gedichtband, abzuschließen: A New Path to the Waterfall. Die Belohnung dafür hätten Russland und Tschechow sein sollen, aber ihm blieb nicht mehr die Zeit dafür. In seiner Schublade fanden sich mehrere Ordner mit Ideen für Erzählungen und Erzählungsentwürfen in verschiedenen Stadien der Vollendung, manche darunter noch in seiner Handschrift. Ray wusste damals, dass ihm keine Zeit blieb, diese Arbeiten vor seinem Tod abzuschließen, denn wir hatten erfahren, dass der Krebs nun auch in der ihm verbliebenen Lungenhälfte wieder aufgetreten war. Die Ordner blieben in der Schublade - wir entschieden uns für einen letzten Angeltrip nach Alaska.
Nach Rays Tod war ich auf die Ordner gestoßen, als ich die Einführung zu seinem letzten Gedichtband schrieb. Aber wie unsere Trauer uns manchmal vor allzu viel Leid schützt, hatte ich nur einen Blick auf seine kleine, schnelle Bleistiftschrift auf den Seiten geworfen und mir dann gesagt, dass es mir wohl erlaubt sei, die Schublade zu schließen. Damals war ich mir nicht sicher, ob es vollständige Manuskripte waren und ob sie, falls sie es waren, veröffentlicht werden sollten. So oder so war ich der Meinung, ehe Unveröffentlichtes geprüft werde, sollte alles, was Ray eindeutig zur Veröffentlichung bestimmt hatte, gedruckt werden. Es dauerte dann neun Jahre, bis dies mit dem Erscheinen der gesammelten Gedichte Raymond Carvers erreicht war.
Erst nach einer Anfrage von Jay Woodruff, einem Freund, Redakteur bei Esquire, dachte ich wieder an die Ordner. Woodruff wollte zu Raymond Carvers zehntem Todestag etwas veröffentlichen. Ich hatte das Gefühl, dass er verstand, was die Beschäftigung mit Rays Werk ohne Ray für mich bedeutete; schließlich hatten wir uns über alles ausgetauscht, insbesondere über unsere Arbeit an unseren Erzählungen. »Da sind noch diese Ordner im Schreibtisch«, sagte ich. »Mag sein, dass nichts Vollständiges oder Lohnendes darunter ist«, sagte ich zu ihm, »aber ich kann ja mal nachsehen.« Ich vermute, Jay hörte mein Zögern heraus. Jedenfalls sagte er: »Tess, wenn du so weit bist, dass du dir die Sachen ansehen willst, komme ich nur zu gern und helfe dir.«
Jay Woodruff war genau die richtige Person, auf deren Erscheinen ich immer gehofft hatte. Er respektierte meine Arbeit, liebte Rays Werk, und er verstand etwas vom Prozess des Redigierens und Veröffentlichens. Überdies war er als Schriftsteller und Zeitschriftenredakteur in der Lage, gute Erzählungen zu erkennen, wenn er welche sah. Im März 1999 flog er nach Seattle und kam dann in dreistündiger Fahrt mit Auto und Fähre nach Port Angeles. Am nächsten Tag, von morgens um neun bis abends um elf, sahen wir sorgfältig den Inhalt jeder einzelnen Schublade in Rays Schreibtisch durch. Wir lasen die Seiten in den Ordnern, beschrifteten und fotokopierten sie und trafen schließlich unsere Auswahl. Es war eine stille, intime und zielgerichtete Arbeit. Beim Lesen wurde uns klar, dass da drei sehr gute Erzählungen waren. Die Beklommenheit, mit der ich an diese letzten Arbeiten von Ray gegangen war, trat nun hinter die Hoffnung zurück, diesen unveröffentlichten Erzählungen gerecht zu werden.
Jay übernahm es, Rays kritzelige Handschrift zu entziffern und exakte Transkriptionen zu machen. Eines der Manuskripte war gänzlich mit der Hand geschrieben, andere waren mit der Schreibmaschine getippt und wiesen handschriftliche Korrekturen auf. Ich hatte elf Jahre lang Rays Handschrift entziffert - jetzt prüfte ich Jays Transkriptionen Wort für Wort anhand der Vorlagen und füllte ein paar Lücken aus, wo er den Text nicht hatte lesen können. Wir hielten uns vor Augen, dass Ray gelegentlich eine Geschichte dreißig Mal umgeschrieben hatte. Diese Erzählungen dagegen hatte er längst nicht so stark überarbeitet. Trotzdem bedurften sie nur geringfügiger redaktioneller Arbeit. Namen von Gestalten und Orten wurden vereinheitlicht, so dass aus Dotty nicht, eine Seite später, Dolores wurde und aus Eureka, Kalifornien, nicht Arcata. Schlüsse, an denen Ray immer besonders intensiv arbeitete, hatte er hier in ein paar Fällen so stehen lassen, wie man von einer Mahlzeit aufsteht, wenn das Telefon klingelt. Wir ließen jene letzten Momente einfach verhallen und erlaubten der Erzählung so, zur Ruhe zu kommen.
Es war ein zusätzliches Geschenk, als ich Mitte des Sommers an meinem Geburtstag einen aufgeregten Telefonanruf erhielt und von der unerwarteten Entdeckung zweier weiterer Erzählungen erfuhr. Der Anruf kam von den Eheleuten William L. Stull und Maureen P. Carroll, die beide über Carver arbeiteten. Sie hatten das Charvat-Archiv für amerikanische Literatur in der Ohio State University Library besucht, und bei der Durchsicht eines Pappkartons voller Manuskripte hatten sie zwei vollständige unveröffentlichte Erzählungen von Raymond Carver gefunden.
Die erste der Erzählungen, die Jay und ich Raymond Carvers amerikanischen Lesern vorlegten, war »Anmachholz «, eine Geschichte von einem Mann, der nach Alkoholabhängigkeit und dem Ende seiner Ehe ganz neu anzufangen versucht. Ray hatte mehrere Geschichten zu diesem Thema geschrieben, darunter »Von wo ich anrufe« (in dem Band Kathedrale). In »Anmachholz« hackt ein Mann verzweifelt ein Klafter Holz und versucht sich dabei über seine Absichten klarzuwerden. Der Erzähler ist auch Schriftsteller, und seine zögernden Versuche, wieder zu schreiben, erinnern mich auf bewegende Weise an die Zeit damals, 1979, als Ray und ich unser gemeinsames Leben in El Paso aufnahmen und er nach einer zehnjährigen Alkoholismus-Phase selbst einen Neuanfang mit dem Schreiben machte. Er hatte zu der Zeit mindestens vier Jahre lang nicht mehr geschrieben und war entschlossen gewesen, nie wieder zur Feder zu greifen, falls das seine Rettung vor dem Tod durch Alkohol bedeutete. Glücklicherweise hatte er beides fertiggebracht - wieder zu schreiben und nicht mehr zu trinken. Ich gab mir alle Mühe, ihn in beidem zu unterstützen und zu bestärken.
Von den fünf neu entdeckten Erzählungen wurde »Träume« meine Lieblingsgeschichte. Hier verliert eine Frau nach dem Scheitern ihrer Ehe ihre beiden Kinder bei einem Brand. Diese Erzählung schlug eine Brücke zwischen unserem Leben in Syracuse (wo Ray und ich - wie das Paar in der Erzählung - im Keller geschlafen hatten, um der Augusthitze zu entfliehen) und dem Nordwesten (wo es in unserer Straße gebrannt hatte, allerdings ohne dass jemand zu Tode gekommen war). Ich erkannte das Echo von Rays Erzählung »Eine kleine, gute Sache« wieder, in der ebenfalls ein Kind stirbt. In beiden Fällen bewunderte ich die Kühnheit, mit der Ray ein Thema aufgriff, bei dem er leicht ins Sentimentale hätte abgleiten können. In »Träume« entwickeln sich die Details spiralförmig, so wie Rauch von einem Dach aufsteigt, und die Handlung entfaltet sich in Chiaroscuro: Die Szene wird sichtbar, leuchtet, lodert. Das Leben dieser Gestalten wird dermaßen von Umständen bestimmt, dass es das unsere wird.
Ein Postskriptum: Die Frau, die der jungen Mutter als Vorbild dient, sollte später meine Friseuse und eine gute Freundin von mir werden. Und sie lachte oft darüber, wie sie sich einst vorgestellt hatte, Ray müsse ein CIA-Spion sein, wenn sie ihn, gegenüber von ihrem Haus, an seinem Fenster in der zweiten Etage an der Schreibmaschine sitzen sah.
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Autoren-Porträt von Raymond Carver
Raymond Carver, geb. 1938 in Clatskanie, Oregon, schlug sich jahrelang mit Gelegenheitsjobs durch und konnte sich erst spät ganz dem Schreiben widmen. Sein erster Erzählungsband 'Würdest Du bitte endlich still sein, bitte' machte ihn 1976 schlagartig berühmt, 'Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden' brachte den endgültigen Durchbruch.Heute gilt Carver als Neubegründer der modernen amerikanischen Short Story.Er starb 1988, kurz vor seiner Aufnahme in die American Academy of Arts and Letters.Zuletzt erschien aus seinem Nachlass 'Beginners - Uncut', die unlektorierte Fassung von 'Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden'. Frielinghaus, HelmutHelmut Frielinghaus, geb. 1931 in Braunschweig, arbeitete von 1952 - 1957 in der Libería Buchholz in Madrid und fing an, aus dem Spanischen zu übersetzen. In Deutschland arbeitete er anschließend als Lektor und Verlagsleiter bei Rowohlt, Claassen und Luchterhand. Zuletzt übertrug er neben Raymond Carver Nicholson Baker, gemeinsam mit Sabine Höbel, John Updike und William Faulkner. 2011 wurde er mit dem Paul-Scheerbart-Preis der Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Stiftung ausgezeichnet. Er starb im Januar 2012. Die deutsche Übertragung der Gedichte Carvers ist seine letzte Arbeit. Allié, ManfredManfred Allié, geboren 1955 in Marburg, übersetzt seit über dreißig Jahren Literatur. 2006 wurde er mit dem Helmut-M.-Braem-Preis ausgezeichnet. Neben Werken von Jane Austen, Joseph Conrad und Patrick Leigh Fermor übertrug er unter anderem Romane von Yann Martel, Richard Powers, Joseph O'Connor, Reif Larsen und Patricia Highsmith ins Deutsche. Er lebt in der Eifel.
Bibliographische Angaben
- Autor: Raymond Carver
- 2013, 1. Auflage, 400 Seiten, Maße: 12,3 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Helmut Frielinghaus, Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596904862
- ISBN-13: 9783596904860
- Erscheinungsdatum: 24.04.2013
Rezension zu „Call if you need me “
Carvers letzte Erzählungen mögen unvollendet sein; meisterlich sind sie trotzdem. Tabea Soergel Deutschlandfunk Büchermarkt 20140130
Pressezitat
Carvers letzte Erzählungen mögen unvollendet sein; meisterlich sind sie trotzdem. Tabea Soergel Deutschlandfunk Büchermarkt 20140130
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