Der Lockvogel
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Zwei Freunde, zwei Welten, ein Ziel: Überleben
C. M. Jones erzählt in Der Lockvogel, welche Auswirkungen moderne Wirtschaftskriminalität auf den Einzelnen hat. Der smarte, aber korrupte Anwalt Richard Lock arbeitet als Strohmann für...
C. M. Jones erzählt in Der Lockvogel, welche Auswirkungen moderne Wirtschaftskriminalität auf den Einzelnen hat. Der smarte, aber korrupte Anwalt Richard Lock arbeitet als Strohmann für...
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Produktinformationen zu „Der Lockvogel “
Zwei Freunde, zwei Welten, ein Ziel: Überleben
C. M. Jones erzählt in Der Lockvogel, welche Auswirkungen moderne Wirtschaftskriminalität auf den Einzelnen hat. Der smarte, aber korrupte Anwalt Richard Lock arbeitet als Strohmann für den mächtigen Oligarchen Konstantin Malin. Für ihn entwickelt er ein komplexes System von Scheinfirmen, die Malins kriminelle Aktivitäten verdecken. Doch Malin hat mächtige Feinde, und nur über seine rechte Hand Lock kann er zu Fall gebracht werden. Das weiß auch der britische Sicherheitsexperte Ben Webster, der Lock in seinem Kampf gegen den Oligarchen benutzt. Doch aus den Gegnern werden Freunde. Zwischen allen Fronten müssen sie sich ihrem Schicksal stellen.
C. M. Jones, der jahrelang für eine Sicherheitsfirma arbeitete, erzählt aus erster Hand. Sein packender, authentischer Thriller überzeugt nicht zuletzt durch die tragische Dimension der Hauptfiguren.
C. M. Jones erzählt in Der Lockvogel, welche Auswirkungen moderne Wirtschaftskriminalität auf den Einzelnen hat. Der smarte, aber korrupte Anwalt Richard Lock arbeitet als Strohmann für den mächtigen Oligarchen Konstantin Malin. Für ihn entwickelt er ein komplexes System von Scheinfirmen, die Malins kriminelle Aktivitäten verdecken. Doch Malin hat mächtige Feinde, und nur über seine rechte Hand Lock kann er zu Fall gebracht werden. Das weiß auch der britische Sicherheitsexperte Ben Webster, der Lock in seinem Kampf gegen den Oligarchen benutzt. Doch aus den Gegnern werden Freunde. Zwischen allen Fronten müssen sie sich ihrem Schicksal stellen.
C. M. Jones, der jahrelang für eine Sicherheitsfirma arbeitete, erzählt aus erster Hand. Sein packender, authentischer Thriller überzeugt nicht zuletzt durch die tragische Dimension der Hauptfiguren.
Klappentext zu „Der Lockvogel “
Zwei Freunde, zwei Welten, ein Ziel: ÜberlebenC. M. Jones erzählt, welche Auswirkungen moderne Wirtschaftskriminalität auf den Einzelnen hat. Im Zentrum steht der sympathische, aber korrupte Anwalt Richard Lock, der für den mächtigen Oligarchen Malin arbeitet. Auf der Gegenseite agiert der Engländer Ben Webster. Als sich zwischen ihm und Lock eine Freundschaft entwickelt, stehen beide plötzlich zwischen allen Fronten. C. M. Jones, der jahrelang für eine Sicherheitsfirma arbeitete, erzählt aus erster Hand.
Lese-Probe zu „Der Lockvogel “
Der Lockvogel von Chris Morgan JonesHoch oben in der Luft sieht Webster im Licht der Morgendämmerung die kupferrote Wüste unter sich vorbeiziehen, in endlosen Wellen rollt der Sand gen Süden. Inessa hat sich neben ihm zusammengerollt und schläft, unbeeindruckt von den Turbulenzen und den betrunkenen russischen Ingenieuren, die auf der anderen Seite des Gangs ihre Lieder grölen.
Der Wüstensand weicht dem Gras der kasachischen Steppe. Wenn er sein Gesicht an die Scheibe presst, kann er sehen, wie sich in der Ferne das Altaigebirge bis nach China erstreckt. Er schaut zu Inessa hinüber. Sie ist klein genug, um in ihrem starren Sitz bequem zu liegen, die Knie kindlich hochgezogen bis an die Brust. Es kommt selten vor, dass sie so ruhig ist, selten, dass sie schweigt.
Sie öffnet für einen Moment die Augen, schiebt sich eine schwarze Locke aus der Stirn und schläft wieder ein. Webster versucht, eine bequeme Haltung für seine schmerzenden Beine zu finden, aber der Sitz vor ihm ist im Weg. Fünf Stunden Nachtflug von Moskau. Das würde er für niemanden sonst auf sich nehmen.
... mehr
Öskemen gehört heute zu Kasachstan, doch seine sowjetische Vergangenheit ist nicht zu übersehen: breite Autostraßen, gesäumt von dichten Pappelreihen, Wohnsilos auf müllübersäten Grundstücken, einige prächtige Gebäude aus der Zarenzeit und Kirchen mit goldenen Kuppeln. Die Stadt liegt heiß unter der flirrenden Sonne, ein kräftiger Wind bläst aus der Ebene und lässt die Bäume sich über die Straße neigen.
Die Fabrik befindet sich etwa 100 Kilometer entfernt auf der anderen Seite eines niedrigen Gebirgskamms. Während Webster fährt, schimpft Inessa auf die Besitzer, eine Gruppe von Russen, die die Arbeiter ausplündern, die Regierung bestehlen und offenbar Freude daran haben, sogar den eigenen Betrieb langsam zugrunde zu richten. Er hat das alles schon gehört, hat ihre Artikel gelesen, doch er hört bereitwillig ein weiteres Mal zu.
Die Straße windet sich von den Bergen hinunter, und sie sehen, dass ein schweres, graues Wolkenband über dem breiten Tal hängt, in dem die Fabrik steht. Das Gras am Straßenrand ist gelb und spärlich; junge Bäume, die kürzlich entlang der Böschung gepflanzt wurden, lehnen sich schlaff gegen ihre Stützen; die Felder im Umkreis sind alle unbestellt. Zwei oder drei Kilometer vor ihnen, über der mageren, geduckten Stadt, quillt schwarzer Rauch aus einem Dutzend Schornsteinpaaren.
Die Stadt ist eine Kaserne für die Fabrik. Zwanzigtausend Menschen wohnen in den einförmigen Blocks, kaufen ihre Lebensmittel in den beiden Supermärkten, lernen in den drei Schulen. Es gibt eine Geschäftsstraße, eine Polizeistation, einen staubigen Park.
Im Krankenhaus reden Webster und Inessa mit Ärzten, die brüchige Knochen und Lungenentzündungen behandeln, mit Kindern, die niemals lächeln und beim Sprechen ihre Zähne verstecken, mit Arbeitern, die Mitte dreißig sind, aber die Körper alter Männer haben. Es ist ein Tal ohne Landwirtschaft. Seit Jahrzehnten wird der Müll in einer Deponie entsorgt, die über keinerlei Abdichtung verfügt und chemikalien ungehindert ins Grundwasser sickern lässt. Die neuen Eigentümer haben die Anlage vor fünf Jahren übernommen und nichts geändert.
Niemand aus dem Unternehmen will mit ihnen sprechen. Sie stehen eine Zeit lang in der Hitze herum und diskutieren sinnlos mit einem Sicherheitsmann, der in seinem Häuschen an der Pforte sitzt. Hinter ihm scheint die Fabrik drohend auf die Stadt herabzublicken. Zwölf riesige, klotzige Hallen beherbergen die Öfen, und aus jeder von ihnen erheben sich dreißig Meter hohe Schornsteine, rot und weiß gestreift. Webster fotografiert und versucht, die immense Ausdehnung der Anlage einzufangen; es würde eine Viertelstunde dauern, sie zu durchqueren. Zwei Polizisten kommen, schwitzend in ihren Schirmmützen und militärisch anmutenden Uniformen, und schicken sie weg. Inessa weigert sich zunächst, aber ihnen ist klar, dass sie besser verschwinden sollten. Sie haben genug gesehen.
Die Sonne steht tief am Himmel, sie geht früh hinter der schwarzen Bergkette unter, und es ist dunkel, bevor sie Öskemen erreichen. Beim Essen ist Inessa wütender, als er sie je erlebt hat. Er muss ihr versprechen, dass sie gegen dieses Unrecht kämpfen werden, gegen den Verrat an diesen Menschen.
Webster schläft unruhig in seinem harten, sauberen Hotelbett. Eine Stunde vor Sonnenaufgang hört er im Halbschlaf, wie sich ein Schlüssel im Schloss dreht. Als er die Bettdecke zurückschlägt, öffnet sich die Tür, und das Neonlicht geht flackernd an. Zwei uniformierte Polizisten schieben einen Hotelangestellten zur Seite und betreten den Raum. Einer der beiden steht über Webster, seine Mütze verdeckt das Licht der Lampe. Er teilt ihm in ruhigem, gleichmütigem Russisch mit, dass er liegen bleiben soll; der andere durchsucht das Zimmer, öffnet Schubladen, leert eine Tüte auf den Boden aus. Webster kneift die Augen zusammen und will aufstehen, doch der erste Polizist hindert ihn daran. Sein Kollege zieht mit drei langen Bewegungen den Film aus Websters Kamera und beginnt dann, seine Notizen durchzublättern.
Webster will nach seinem Notizbuch greifen, aber er wird ins Bett zurückgestoßen. Bevor die Polizisten die Tür hinter sich schließen, teilen sie ihm mit, dass er das Land mit dem nächsten Flug verlassen soll.
Seine Kamera liegt weit geöffnet auf der Kommode, die Kleidungsstücke vom Vortag sind über den Boden verstreut.
Er hastet barfuß die Treppe ins nächste Stockwerk hinauf, nimmt immer drei der gefliesten Treppenstufen auf einmal. Er muss seine Wut mit jemandem teilen. Inessas Tür steht offen, die Angst greift nach seiner Brust, als er in ihr Zimmer tritt. Sie ist weg.
Der Nachtportier sitzt in einem Sessel in seinem Büro, der Fernseher läuft mit heruntergedrehtem Ton. Er runzelt die Stirn, und als Webster ihn nach der Polizeistation fragt, schaut er ihm nicht in die Augen.
Er rennt die ganze Strecke, die zwei Taschen auf seinem Rücken schwingen wild hin und her, seine Lungen krampfen sich zusammen, sein Atem geht rasselnd. Inzwischen ist es sechs Uhr morgens, und ein gleichmäßig graublaues Licht beginnt, die Stadt zu wecken. Autos fahren vorbei, aber er sieht niemanden. Außer Atem und wütend erklärt er am Empfang der Polizeiwache einem Beamten, dass er Journalist ist und dass er, wenn sie seine Freundin nicht auf der Stelle freilassen, die britische Botschaft und jeden Zeitungsredakteur, den er kennt, verständigen wird. Der Beamte schaut ihn einen Moment lang gleichgültig an, dann holt er einen Kollegen, und sie nehmen ihn fest.
Die Wände seiner fensterlosen Zelle sind grau gestrichen, zwei bloße Holzbretter dienen als Betten; er hat Glück, sie für sich allein zu haben. Mit dem Kopf in den Händen hockt er unter der einsamen nackten Glühbirne, deren Licht jeden Fleck und jeden Spalt des feuchten Betonbodens findet. Nicht zum ersten Mal befindet er sich an einem solchen Ort, und für Inessa ist es Routine. Trotzdem sitzt eine seltsame Angst in seiner Brust. Er will sie sehen, ihr versichern, dass man sie bald freilassen wird. Manchmal durchbricht ein Geräusch die Stille: ein Schrei, wildes Singen, eine zuschlagende Metalltür. Er raucht, um die Zeit zu vertreiben, und fängt an, in seinem Kopf seine Geschichte aufzuschreiben.
Niemand kommt, um ihn zu vernehmen, und er fragt sich, ob das hier noch lange dauern wird. Um die Mittagszeit herum hört er, wie die Zellentüren nacheinander geöffnet werden, und bereitet sich darauf vor, dass etwas passieren wird, aber es ist nur ein Wärter, der das Essen bringt. Als er auf seinem Tablett herumstochert, hört er Stimmen, die sich auf Kasachisch überbrüllen, geschriene Befehle und das Stakkato schwerer Stiefel. Der Tumult nimmt kein Ende. Wieder öffnet sich seine Tür. Zwei Polizisten kommen herein und führen ihn weg, an jedem Arm einer, ohne auf seine Fragen zu reagieren. Als sie in den Korridor treten, dreht er den Kopf und sieht drei Offiziere in einer offenen Zellentür stehen. Einer von ihnen, seine breite Brust ein Mosaik aus Orden, tritt mit verschränkten Armen einen Schritt zurück. Zu seinen Füßen liegt eine Trage.
Webster reißt einen Arm los und ruft Inessas Namen, Angst schnürt seine Kehle zusammen. Als sie ihn wieder in ihren Griff nehmen und weiterzerren, beginnt er zu toben und zu schreien. Er windet und wehrt sich, aber sie ziehen ihn vorwärts, seine Füße stolpern über den Boden. Plötzlich hallt ein Ruf wie ein Peitschenknall den Korridor entlang, und die Männer, die ihn festhalten, bleiben stehen und drehen sich um. Der Offizier mit den Orden winkt einmal kurz, und sie gehen mit Webster zurück, bis er vor der Zelle steht.
Drinnen halten zwei Wärter einen Gefangenen fest, drücken sein Gesicht gegen die Wand, einen Arm haben sie ihm hinter den Rücken gebogen. Sein weißes Hemd ist schmutzig und voller roter Spritzer. Auf dem Boden liegt Inessa auf dem Rücken, ein Knie ist angewinkelt, sie scheint die Wand anzustarren. Ihre Jeans sind durchweicht und dunkel, das T-Shirt purpurrot. Quer über ihren angespannten Hals verläuft, wie mit einem dicken Pinsel gezogen, eine einzelne leuchtend rote Linie Blut.
Webster schreit und versucht sich zu befreien. Starke Hände halten ihn zurück.
Er wehrt sich immer noch, als sie ihm Handschellen anlegen und ihn in einen Polizeitransporter sperren. In seinem Kopf rauscht es. Während das Auto die ansteigende Straße erklimmt, die aus der Stadt hinausführt, kann er durch die vergitterten Fenster nur den wolkenlosen Himmel sehen.
Zwei Stunden später halten sie an. über den immer noch laufenden Motor hinweg hört er russische Stimmen. Die Türen öffnen sich, der Käfig wird aufgeschlossen, und er stolpert gebückt nach draußen, sein Gesicht verzerrt in der plötzlichen Helligkeit. Ein Polizist, der ihm nicht in die Augen schauen kann, schließt seine Handschellen auf und gibt ihm seine Taschen. Der Transporter wendet auf der staubigen Straße und fährt davon.
Soldaten mit Maschinenpistolen starren ihn an. Das ist die Grenze. Er ist wieder in Russland.
1
Lock lag auf dem Rücken und spürte, wie die Hitze seinen Körper nach Stellen absuchte, die sie noch verbrennen konnte. Es war windstill, und durch die geschlossenen Augenlider hindurch sah er das rote Lodern der Sonne. Von Zeit zu Zeit begann eine lauernde Unruhe an ihm zu nagen, doch er verscheuchte sie wie eine Fliege. Er war nicht in Moskau, das genügte. Er fühlte seinen Körper bernsteinfarben erglühen, er spürte eine Leichtigkeit in seiner Brust. Wie viel besser es ihm hier ging.
Um ihn herum lagen andere Urlauber auf Sonnenliegen. Eine Bedienung lief mit leisen, flinken Schritten vorbei. Das Geräusch gedämpfter Unterhaltungen ließ ihn wegdösen; dann, laut und eindringlich, die eine Hälfte eines Telefongesprächs - natürlich auf Russisch, was sonst. Er konnte nur einzelne Worte verstehen, aber er erkannte den Tonfall: gebieterisch und fordernd. Er öffnete die Augen und überlegte, ob er sich noch einen Drink holen sollte. Einen Moment lang starrte er in den makellosen Himmel hinauf, umspült von der Hitze, dann stützte er sich auf einen Ellenbogen auf. Der Schmerz in seinem Rücken ließ ihn zusammenzucken. Sein verdammter Rücken.
Oksana lag vielleicht einen Meter neben ihm auf dem Bauch, frisch gebräunt. Ihr Gesicht war ihm zugewandt, aber die Augen waren geschlossen, und er hätte nicht sagen können, ob sie schlief. Er schaute an sich selbst hinunter. Seine Haut war blass. Er sonnte sich seit drei Tagen, trotzdem sah er immer noch grau aus.
An diesem Morgen hatte sein Rücken ihn früh geweckt. Er hatte Oksana schlafen lassen und war joggen gegangen. Er zog sich im Bad an, um sie nicht zu wecken. Seine Laufschuhe hatten sich fremd angefühlt, und sein Shirt spannte. Unmittelbar vor Sonnenaufgang war Monte Carlo kühl und friedlich, überwölbt von einem Himmel, dessen dunkles Blau sich am Horizont langsam aufzuhellen begann, und Lock war, anfangs schwerfällig und dann mit einer Art angestrengtem Rhythmus, am Jachthafen vorbeigejoggt. Er folgte einem Uferweg, der weg von der aufgehenden Sonne gen Westen führte. Seine Rückenschmerzen ließen nach, und er lief weiter, seine Atemzüge wurden schwerer. Er verfluchte die ölige Luft Moskaus, während er sich am Anblick der Welt erfreute, die um ihn herum allmählich aus der Dämmerung auftauchte. Und dann war der Pfad plötzlich zu Ende gewesen, dort, wo Monaco einfach aufhört. Keuchend war Lock am Wegesrand stehen geblieben, hatte sich nach vorn gebeugt und gespürt, wie das Gewicht seines Körpers leicht vor und zurück schwankte, während das Herz in seiner Brust pochte.
Morgen würde er wieder laufen gehen, aber besser auf das richtige Tempo achten und sich vielleicht einen längeren Weg suchen. Jetzt brauchte er einen Drink. Er winkte der Bedienung, ihm das Gleiche noch einmal zu bringen, und nach einer Minute kam sie mit Scotch und Soda. Er setzte sich auf und trank. Der Drink seines Vaters. Wie er das zerstoßene Eis und das lange, zierliche Glas verachtet hätte. Wie er ganz Monaco verachtet hätte, wenn man es recht bedachte. Urlaub hatte für ihn bedeutet, im Harz zu wandern oder auf dem Ijsselmeer zu segeln, mit Lock und seiner Schwester als unfreiwilliger crew. Aktivität war die eine Konstante dieser Ferien gewesen, die andere Konstante war ein ordentlich in einer Aluminiumkiste verstauter Primuskocher, der purpurfarbenen Spiritus verbrannte, der in alten Wasserflaschen aufbewahrt wurde. Auf ihm kochte Everhart Lock mit nie ermüdendem Enthusiasmus Bohnen, Eier und Speck. Es war für ihn undenkbar, Locks Mutter in ihrem Urlaub arbeiten zu lassen. Er war ein großer, ernsthafter Mann, der die ständige Bewegung brauchte und dessen Instinkt ihn in die Wildnis trieb; dorthin, wo es nur vereinzelt Menschen gab, aber Luft im Übermaß. Städte waren zum Arbeiten da. Gott, sein Vater hätte es gehasst, Geld zu bezahlen, um mit den Reichen in einem Beach Club sitzen zu dürfen (in dem er, wie Lock grollend dachte, diesem lächerlichen Ober trotzdem zwei Fünfzig-Euro-Scheine hatte zustecken müssen, um einen halbwegs anständigen Platz in Strandnähe zu bekommen), er hätte es gehasst, den ganzen Tag in der Sonne zu liegen, umgeben von Jachten, Autoverkaufsräumen und Beton-Wohnblocks, nur in Restaurants zu essen - wie ein Gefangener in dieser kleinen reichen Enklave zu sitzen, eingepfercht zwischen den Bergen und dem Meer. Doch Lock fühlte sich wohl hier. Hier war sein Platz, ein Teil seiner Welt. Hier war das Leben leicht, überschaubar und beherrschbar.
Vor fünfzehn Jahren hatte er zum ersten Mal Monaco besucht, um Maître cricenti zu treffen und ein Unternehmen für Malin zu gründen, das erste von mittlerweile Hunderten. cricenti war winzig klein, kaum 1,50 Meter, aber er war ein echter Monegasse, mit einer Haltung, die uralten Stolz und Unangreifbarkeit ausstrahlte. In seinem Büro hingen Drucke des Palastes aus dem neunzehnten Jahrhundert und Porträts der Fürsten Rainier und Albert; in jeder Ecke gab es Stangen mit Flaggen. Ohne es wirklich auszusprechen, vermittelte er Lock den Eindruck, dass die Entscheidung für Monaco seinem Unternehmen den Glanz einer siebenhundertjährigen Tradition verleihen würde, einer Tradition würdevoller und kompromissloser Unabhängigkeit, die nichts mit der eintönigen Welt von Steuern und staatlicher Einmischung gemein hatte. Das hier war nicht irgendeine dieser vulgären Karibikinseln, auf denen die Skrupellosen ihren Reichtum versteckten; nein, dies war ein glorreiches Relikt aus einer Zeit, die noch gar nicht so weit zurücklag, in der winzige, bunte Königreiche wesentlich zahlreicher gewesen waren als Nationalstaaten und in der Könige das Sagen hatten. Hier wusste man sein Vermögen und sein Gewissen in sicheren Händen.
Lock hatte dieses Verkaufsgespräch genossen; er hatte sich eingeredet, dass er kein Wort davon glaubte, und unterschrieben. Das war die Geburtsstunde von Spirecrest Holdings S. A., ein Unternehmen von der Stange mit bedeutungslosem Namen, das cricenti einfach aus seinem wohlsortierten Regal gezogen und Lock vorgelegt hatte. Er hatte nur noch unterschreiben und bezahlen müssen. Es dauerte nicht lange, bis Lock feststellte, dass mit einer monegassischen Société Anonyme unendlich viel Papierkram einherging, der die mageren Steuervergünstigungen mehr oder weniger auffraß, und bald gründete er seine Unternehmen anderswo. Die lange und enge Geschäftsbeziehung mit Maître cricenti, die er sich ausgemalt hatte, kam nie zustande.
Doch seit dieser Zeit mochte er diesen Ort mit seinem sauberen, betörenden Mythos.
»Richard?«
Er schaute zu Oksana hinüber. Ihre Stimme klang tief und schlaftrunken.
»Ah, da bist du ja«, sagte er. »Ich dachte schon, wir hätten dich verloren. Möchtest du einen Drink?«
»Wie spät ist es?«
»Fünf.«
Sie atmete tief ein, ein halbes Gähnen. »Ich wollte nicht einschlafen.« Hier sprachen sie Englisch miteinander, in Moskau meistens Russisch.
Lock schaute sie wieder an. Er ertappte sich oft dabei, wie er Oksana anschaute. Sie erstaunte ihn - nicht die Tatsache, dass sie mit ihm zusammen war, was er verstehen konnte, sondern ihre Makellosigkeit. Manchmal beflügelte ihn das, doch meistens schien ihre Existenz seinen eigenen, alternden Körper und die ständigen Kompromisse seines Lebens zu verspotten. Sie war in Almaty zur Welt gekommen, in der Beuge des Tian Shan Gebirges, am Rand einer riesigen roten Wüste, und Lock fragte sich, ob das der Grund dafür war, dass ihre Schönheit ihn immer so unerwartet traf. In einem normalen Leben wäre sie für ihn unerreichbar gewesen.
»Was wollen wir heute Abend machen, Richard?«, fragte sie und schaute ihn nun an.
»Alles, was du willst. Was würdest du denn gerne machen?«
»Ich mag Sass. Können wir dort essen? Und dann ins Kasino. Jimmy's finde ich langweilig.«
Wie recht sie hatte. Was Lock an Oksana liebte - lieben würde, wenn er es zuließe -, war ihre klare Vorstellung davon, was sie von ihm und seinem Geld wollte. Und dazu gehörte nicht, mit ein paar Hundert lederhäutigen Männern und ihren schönen Freundinnen in einem Nachtclub zu tanzen, der seinen Namen auf absurde - und peinliche - Weise mit einem Z schrieb. Jimmy's. Vor ein paar Jahren hätte sich Lock vielleicht auf eine Nacht im Jimmy's gefreut und auf die Gelegenheit, zu sehen und gesehen zu werden, doch jetzt nicht mehr. Der Laden war voll von Mittsechzigern und sogar Mittsiebzigern, die sich offensichtlich niemals die Zeit nahmen, Zweifel an ihrem Status oder ihrer Leistungskraft aufkommen zu lassen - aber sie waren, wie Lock sich eingestehen musste, die wirklich Reichen, sie gehörten einer völlig anderen Rasse an.
»Ich rufe im Hotel an und lasse einen Tisch reservieren. Sonst hast du alles, was du brauchst? Einen Drink?«
»Ich mache jetzt die andere Seite.« Oksana drehte sich mit sparsamen Bewegungen auf den Rücken und schloss die Augen. Lock nahm eines der drei Handys, die neben ihm lagen, rief im Hotel an und sprach mit der Rezeption. Er lehnte sich zurück, trank und verfolgte mit den Augen einen Jetski, der durch die Bucht pflügte.
Leise und abrupt begann eines seiner Handys zu vibrieren. Er schaute hinunter und erkannte die Nummer. Ein französisches Mobiltelefon. Er ließ es einen Moment lang hilflos summen, schloss kurz resigniert die Augen und nahm es in die Hand. »Hallo«, sagte er auf Russisch. Allo. Es klang seltsam hier am Strand, in der Sonne.
»Hallo Richard.« Diese heisere, tiefe Stimme. »Ich brauche Sie hier, heute Abend. Bitte kommen Sie jetzt.«
»Natürlich.« Er legte auf und seufzte. Er war nicht bereit, in diese Welt zurückzukehren.
...
Übersetzung: Christoph und Karola Bausum
Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Öskemen gehört heute zu Kasachstan, doch seine sowjetische Vergangenheit ist nicht zu übersehen: breite Autostraßen, gesäumt von dichten Pappelreihen, Wohnsilos auf müllübersäten Grundstücken, einige prächtige Gebäude aus der Zarenzeit und Kirchen mit goldenen Kuppeln. Die Stadt liegt heiß unter der flirrenden Sonne, ein kräftiger Wind bläst aus der Ebene und lässt die Bäume sich über die Straße neigen.
Die Fabrik befindet sich etwa 100 Kilometer entfernt auf der anderen Seite eines niedrigen Gebirgskamms. Während Webster fährt, schimpft Inessa auf die Besitzer, eine Gruppe von Russen, die die Arbeiter ausplündern, die Regierung bestehlen und offenbar Freude daran haben, sogar den eigenen Betrieb langsam zugrunde zu richten. Er hat das alles schon gehört, hat ihre Artikel gelesen, doch er hört bereitwillig ein weiteres Mal zu.
Die Straße windet sich von den Bergen hinunter, und sie sehen, dass ein schweres, graues Wolkenband über dem breiten Tal hängt, in dem die Fabrik steht. Das Gras am Straßenrand ist gelb und spärlich; junge Bäume, die kürzlich entlang der Böschung gepflanzt wurden, lehnen sich schlaff gegen ihre Stützen; die Felder im Umkreis sind alle unbestellt. Zwei oder drei Kilometer vor ihnen, über der mageren, geduckten Stadt, quillt schwarzer Rauch aus einem Dutzend Schornsteinpaaren.
Die Stadt ist eine Kaserne für die Fabrik. Zwanzigtausend Menschen wohnen in den einförmigen Blocks, kaufen ihre Lebensmittel in den beiden Supermärkten, lernen in den drei Schulen. Es gibt eine Geschäftsstraße, eine Polizeistation, einen staubigen Park.
Im Krankenhaus reden Webster und Inessa mit Ärzten, die brüchige Knochen und Lungenentzündungen behandeln, mit Kindern, die niemals lächeln und beim Sprechen ihre Zähne verstecken, mit Arbeitern, die Mitte dreißig sind, aber die Körper alter Männer haben. Es ist ein Tal ohne Landwirtschaft. Seit Jahrzehnten wird der Müll in einer Deponie entsorgt, die über keinerlei Abdichtung verfügt und chemikalien ungehindert ins Grundwasser sickern lässt. Die neuen Eigentümer haben die Anlage vor fünf Jahren übernommen und nichts geändert.
Niemand aus dem Unternehmen will mit ihnen sprechen. Sie stehen eine Zeit lang in der Hitze herum und diskutieren sinnlos mit einem Sicherheitsmann, der in seinem Häuschen an der Pforte sitzt. Hinter ihm scheint die Fabrik drohend auf die Stadt herabzublicken. Zwölf riesige, klotzige Hallen beherbergen die Öfen, und aus jeder von ihnen erheben sich dreißig Meter hohe Schornsteine, rot und weiß gestreift. Webster fotografiert und versucht, die immense Ausdehnung der Anlage einzufangen; es würde eine Viertelstunde dauern, sie zu durchqueren. Zwei Polizisten kommen, schwitzend in ihren Schirmmützen und militärisch anmutenden Uniformen, und schicken sie weg. Inessa weigert sich zunächst, aber ihnen ist klar, dass sie besser verschwinden sollten. Sie haben genug gesehen.
Die Sonne steht tief am Himmel, sie geht früh hinter der schwarzen Bergkette unter, und es ist dunkel, bevor sie Öskemen erreichen. Beim Essen ist Inessa wütender, als er sie je erlebt hat. Er muss ihr versprechen, dass sie gegen dieses Unrecht kämpfen werden, gegen den Verrat an diesen Menschen.
Webster schläft unruhig in seinem harten, sauberen Hotelbett. Eine Stunde vor Sonnenaufgang hört er im Halbschlaf, wie sich ein Schlüssel im Schloss dreht. Als er die Bettdecke zurückschlägt, öffnet sich die Tür, und das Neonlicht geht flackernd an. Zwei uniformierte Polizisten schieben einen Hotelangestellten zur Seite und betreten den Raum. Einer der beiden steht über Webster, seine Mütze verdeckt das Licht der Lampe. Er teilt ihm in ruhigem, gleichmütigem Russisch mit, dass er liegen bleiben soll; der andere durchsucht das Zimmer, öffnet Schubladen, leert eine Tüte auf den Boden aus. Webster kneift die Augen zusammen und will aufstehen, doch der erste Polizist hindert ihn daran. Sein Kollege zieht mit drei langen Bewegungen den Film aus Websters Kamera und beginnt dann, seine Notizen durchzublättern.
Webster will nach seinem Notizbuch greifen, aber er wird ins Bett zurückgestoßen. Bevor die Polizisten die Tür hinter sich schließen, teilen sie ihm mit, dass er das Land mit dem nächsten Flug verlassen soll.
Seine Kamera liegt weit geöffnet auf der Kommode, die Kleidungsstücke vom Vortag sind über den Boden verstreut.
Er hastet barfuß die Treppe ins nächste Stockwerk hinauf, nimmt immer drei der gefliesten Treppenstufen auf einmal. Er muss seine Wut mit jemandem teilen. Inessas Tür steht offen, die Angst greift nach seiner Brust, als er in ihr Zimmer tritt. Sie ist weg.
Der Nachtportier sitzt in einem Sessel in seinem Büro, der Fernseher läuft mit heruntergedrehtem Ton. Er runzelt die Stirn, und als Webster ihn nach der Polizeistation fragt, schaut er ihm nicht in die Augen.
Er rennt die ganze Strecke, die zwei Taschen auf seinem Rücken schwingen wild hin und her, seine Lungen krampfen sich zusammen, sein Atem geht rasselnd. Inzwischen ist es sechs Uhr morgens, und ein gleichmäßig graublaues Licht beginnt, die Stadt zu wecken. Autos fahren vorbei, aber er sieht niemanden. Außer Atem und wütend erklärt er am Empfang der Polizeiwache einem Beamten, dass er Journalist ist und dass er, wenn sie seine Freundin nicht auf der Stelle freilassen, die britische Botschaft und jeden Zeitungsredakteur, den er kennt, verständigen wird. Der Beamte schaut ihn einen Moment lang gleichgültig an, dann holt er einen Kollegen, und sie nehmen ihn fest.
Die Wände seiner fensterlosen Zelle sind grau gestrichen, zwei bloße Holzbretter dienen als Betten; er hat Glück, sie für sich allein zu haben. Mit dem Kopf in den Händen hockt er unter der einsamen nackten Glühbirne, deren Licht jeden Fleck und jeden Spalt des feuchten Betonbodens findet. Nicht zum ersten Mal befindet er sich an einem solchen Ort, und für Inessa ist es Routine. Trotzdem sitzt eine seltsame Angst in seiner Brust. Er will sie sehen, ihr versichern, dass man sie bald freilassen wird. Manchmal durchbricht ein Geräusch die Stille: ein Schrei, wildes Singen, eine zuschlagende Metalltür. Er raucht, um die Zeit zu vertreiben, und fängt an, in seinem Kopf seine Geschichte aufzuschreiben.
Niemand kommt, um ihn zu vernehmen, und er fragt sich, ob das hier noch lange dauern wird. Um die Mittagszeit herum hört er, wie die Zellentüren nacheinander geöffnet werden, und bereitet sich darauf vor, dass etwas passieren wird, aber es ist nur ein Wärter, der das Essen bringt. Als er auf seinem Tablett herumstochert, hört er Stimmen, die sich auf Kasachisch überbrüllen, geschriene Befehle und das Stakkato schwerer Stiefel. Der Tumult nimmt kein Ende. Wieder öffnet sich seine Tür. Zwei Polizisten kommen herein und führen ihn weg, an jedem Arm einer, ohne auf seine Fragen zu reagieren. Als sie in den Korridor treten, dreht er den Kopf und sieht drei Offiziere in einer offenen Zellentür stehen. Einer von ihnen, seine breite Brust ein Mosaik aus Orden, tritt mit verschränkten Armen einen Schritt zurück. Zu seinen Füßen liegt eine Trage.
Webster reißt einen Arm los und ruft Inessas Namen, Angst schnürt seine Kehle zusammen. Als sie ihn wieder in ihren Griff nehmen und weiterzerren, beginnt er zu toben und zu schreien. Er windet und wehrt sich, aber sie ziehen ihn vorwärts, seine Füße stolpern über den Boden. Plötzlich hallt ein Ruf wie ein Peitschenknall den Korridor entlang, und die Männer, die ihn festhalten, bleiben stehen und drehen sich um. Der Offizier mit den Orden winkt einmal kurz, und sie gehen mit Webster zurück, bis er vor der Zelle steht.
Drinnen halten zwei Wärter einen Gefangenen fest, drücken sein Gesicht gegen die Wand, einen Arm haben sie ihm hinter den Rücken gebogen. Sein weißes Hemd ist schmutzig und voller roter Spritzer. Auf dem Boden liegt Inessa auf dem Rücken, ein Knie ist angewinkelt, sie scheint die Wand anzustarren. Ihre Jeans sind durchweicht und dunkel, das T-Shirt purpurrot. Quer über ihren angespannten Hals verläuft, wie mit einem dicken Pinsel gezogen, eine einzelne leuchtend rote Linie Blut.
Webster schreit und versucht sich zu befreien. Starke Hände halten ihn zurück.
Er wehrt sich immer noch, als sie ihm Handschellen anlegen und ihn in einen Polizeitransporter sperren. In seinem Kopf rauscht es. Während das Auto die ansteigende Straße erklimmt, die aus der Stadt hinausführt, kann er durch die vergitterten Fenster nur den wolkenlosen Himmel sehen.
Zwei Stunden später halten sie an. über den immer noch laufenden Motor hinweg hört er russische Stimmen. Die Türen öffnen sich, der Käfig wird aufgeschlossen, und er stolpert gebückt nach draußen, sein Gesicht verzerrt in der plötzlichen Helligkeit. Ein Polizist, der ihm nicht in die Augen schauen kann, schließt seine Handschellen auf und gibt ihm seine Taschen. Der Transporter wendet auf der staubigen Straße und fährt davon.
Soldaten mit Maschinenpistolen starren ihn an. Das ist die Grenze. Er ist wieder in Russland.
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Lock lag auf dem Rücken und spürte, wie die Hitze seinen Körper nach Stellen absuchte, die sie noch verbrennen konnte. Es war windstill, und durch die geschlossenen Augenlider hindurch sah er das rote Lodern der Sonne. Von Zeit zu Zeit begann eine lauernde Unruhe an ihm zu nagen, doch er verscheuchte sie wie eine Fliege. Er war nicht in Moskau, das genügte. Er fühlte seinen Körper bernsteinfarben erglühen, er spürte eine Leichtigkeit in seiner Brust. Wie viel besser es ihm hier ging.
Um ihn herum lagen andere Urlauber auf Sonnenliegen. Eine Bedienung lief mit leisen, flinken Schritten vorbei. Das Geräusch gedämpfter Unterhaltungen ließ ihn wegdösen; dann, laut und eindringlich, die eine Hälfte eines Telefongesprächs - natürlich auf Russisch, was sonst. Er konnte nur einzelne Worte verstehen, aber er erkannte den Tonfall: gebieterisch und fordernd. Er öffnete die Augen und überlegte, ob er sich noch einen Drink holen sollte. Einen Moment lang starrte er in den makellosen Himmel hinauf, umspült von der Hitze, dann stützte er sich auf einen Ellenbogen auf. Der Schmerz in seinem Rücken ließ ihn zusammenzucken. Sein verdammter Rücken.
Oksana lag vielleicht einen Meter neben ihm auf dem Bauch, frisch gebräunt. Ihr Gesicht war ihm zugewandt, aber die Augen waren geschlossen, und er hätte nicht sagen können, ob sie schlief. Er schaute an sich selbst hinunter. Seine Haut war blass. Er sonnte sich seit drei Tagen, trotzdem sah er immer noch grau aus.
An diesem Morgen hatte sein Rücken ihn früh geweckt. Er hatte Oksana schlafen lassen und war joggen gegangen. Er zog sich im Bad an, um sie nicht zu wecken. Seine Laufschuhe hatten sich fremd angefühlt, und sein Shirt spannte. Unmittelbar vor Sonnenaufgang war Monte Carlo kühl und friedlich, überwölbt von einem Himmel, dessen dunkles Blau sich am Horizont langsam aufzuhellen begann, und Lock war, anfangs schwerfällig und dann mit einer Art angestrengtem Rhythmus, am Jachthafen vorbeigejoggt. Er folgte einem Uferweg, der weg von der aufgehenden Sonne gen Westen führte. Seine Rückenschmerzen ließen nach, und er lief weiter, seine Atemzüge wurden schwerer. Er verfluchte die ölige Luft Moskaus, während er sich am Anblick der Welt erfreute, die um ihn herum allmählich aus der Dämmerung auftauchte. Und dann war der Pfad plötzlich zu Ende gewesen, dort, wo Monaco einfach aufhört. Keuchend war Lock am Wegesrand stehen geblieben, hatte sich nach vorn gebeugt und gespürt, wie das Gewicht seines Körpers leicht vor und zurück schwankte, während das Herz in seiner Brust pochte.
Morgen würde er wieder laufen gehen, aber besser auf das richtige Tempo achten und sich vielleicht einen längeren Weg suchen. Jetzt brauchte er einen Drink. Er winkte der Bedienung, ihm das Gleiche noch einmal zu bringen, und nach einer Minute kam sie mit Scotch und Soda. Er setzte sich auf und trank. Der Drink seines Vaters. Wie er das zerstoßene Eis und das lange, zierliche Glas verachtet hätte. Wie er ganz Monaco verachtet hätte, wenn man es recht bedachte. Urlaub hatte für ihn bedeutet, im Harz zu wandern oder auf dem Ijsselmeer zu segeln, mit Lock und seiner Schwester als unfreiwilliger crew. Aktivität war die eine Konstante dieser Ferien gewesen, die andere Konstante war ein ordentlich in einer Aluminiumkiste verstauter Primuskocher, der purpurfarbenen Spiritus verbrannte, der in alten Wasserflaschen aufbewahrt wurde. Auf ihm kochte Everhart Lock mit nie ermüdendem Enthusiasmus Bohnen, Eier und Speck. Es war für ihn undenkbar, Locks Mutter in ihrem Urlaub arbeiten zu lassen. Er war ein großer, ernsthafter Mann, der die ständige Bewegung brauchte und dessen Instinkt ihn in die Wildnis trieb; dorthin, wo es nur vereinzelt Menschen gab, aber Luft im Übermaß. Städte waren zum Arbeiten da. Gott, sein Vater hätte es gehasst, Geld zu bezahlen, um mit den Reichen in einem Beach Club sitzen zu dürfen (in dem er, wie Lock grollend dachte, diesem lächerlichen Ober trotzdem zwei Fünfzig-Euro-Scheine hatte zustecken müssen, um einen halbwegs anständigen Platz in Strandnähe zu bekommen), er hätte es gehasst, den ganzen Tag in der Sonne zu liegen, umgeben von Jachten, Autoverkaufsräumen und Beton-Wohnblocks, nur in Restaurants zu essen - wie ein Gefangener in dieser kleinen reichen Enklave zu sitzen, eingepfercht zwischen den Bergen und dem Meer. Doch Lock fühlte sich wohl hier. Hier war sein Platz, ein Teil seiner Welt. Hier war das Leben leicht, überschaubar und beherrschbar.
Vor fünfzehn Jahren hatte er zum ersten Mal Monaco besucht, um Maître cricenti zu treffen und ein Unternehmen für Malin zu gründen, das erste von mittlerweile Hunderten. cricenti war winzig klein, kaum 1,50 Meter, aber er war ein echter Monegasse, mit einer Haltung, die uralten Stolz und Unangreifbarkeit ausstrahlte. In seinem Büro hingen Drucke des Palastes aus dem neunzehnten Jahrhundert und Porträts der Fürsten Rainier und Albert; in jeder Ecke gab es Stangen mit Flaggen. Ohne es wirklich auszusprechen, vermittelte er Lock den Eindruck, dass die Entscheidung für Monaco seinem Unternehmen den Glanz einer siebenhundertjährigen Tradition verleihen würde, einer Tradition würdevoller und kompromissloser Unabhängigkeit, die nichts mit der eintönigen Welt von Steuern und staatlicher Einmischung gemein hatte. Das hier war nicht irgendeine dieser vulgären Karibikinseln, auf denen die Skrupellosen ihren Reichtum versteckten; nein, dies war ein glorreiches Relikt aus einer Zeit, die noch gar nicht so weit zurücklag, in der winzige, bunte Königreiche wesentlich zahlreicher gewesen waren als Nationalstaaten und in der Könige das Sagen hatten. Hier wusste man sein Vermögen und sein Gewissen in sicheren Händen.
Lock hatte dieses Verkaufsgespräch genossen; er hatte sich eingeredet, dass er kein Wort davon glaubte, und unterschrieben. Das war die Geburtsstunde von Spirecrest Holdings S. A., ein Unternehmen von der Stange mit bedeutungslosem Namen, das cricenti einfach aus seinem wohlsortierten Regal gezogen und Lock vorgelegt hatte. Er hatte nur noch unterschreiben und bezahlen müssen. Es dauerte nicht lange, bis Lock feststellte, dass mit einer monegassischen Société Anonyme unendlich viel Papierkram einherging, der die mageren Steuervergünstigungen mehr oder weniger auffraß, und bald gründete er seine Unternehmen anderswo. Die lange und enge Geschäftsbeziehung mit Maître cricenti, die er sich ausgemalt hatte, kam nie zustande.
Doch seit dieser Zeit mochte er diesen Ort mit seinem sauberen, betörenden Mythos.
»Richard?«
Er schaute zu Oksana hinüber. Ihre Stimme klang tief und schlaftrunken.
»Ah, da bist du ja«, sagte er. »Ich dachte schon, wir hätten dich verloren. Möchtest du einen Drink?«
»Wie spät ist es?«
»Fünf.«
Sie atmete tief ein, ein halbes Gähnen. »Ich wollte nicht einschlafen.« Hier sprachen sie Englisch miteinander, in Moskau meistens Russisch.
Lock schaute sie wieder an. Er ertappte sich oft dabei, wie er Oksana anschaute. Sie erstaunte ihn - nicht die Tatsache, dass sie mit ihm zusammen war, was er verstehen konnte, sondern ihre Makellosigkeit. Manchmal beflügelte ihn das, doch meistens schien ihre Existenz seinen eigenen, alternden Körper und die ständigen Kompromisse seines Lebens zu verspotten. Sie war in Almaty zur Welt gekommen, in der Beuge des Tian Shan Gebirges, am Rand einer riesigen roten Wüste, und Lock fragte sich, ob das der Grund dafür war, dass ihre Schönheit ihn immer so unerwartet traf. In einem normalen Leben wäre sie für ihn unerreichbar gewesen.
»Was wollen wir heute Abend machen, Richard?«, fragte sie und schaute ihn nun an.
»Alles, was du willst. Was würdest du denn gerne machen?«
»Ich mag Sass. Können wir dort essen? Und dann ins Kasino. Jimmy's finde ich langweilig.«
Wie recht sie hatte. Was Lock an Oksana liebte - lieben würde, wenn er es zuließe -, war ihre klare Vorstellung davon, was sie von ihm und seinem Geld wollte. Und dazu gehörte nicht, mit ein paar Hundert lederhäutigen Männern und ihren schönen Freundinnen in einem Nachtclub zu tanzen, der seinen Namen auf absurde - und peinliche - Weise mit einem Z schrieb. Jimmy's. Vor ein paar Jahren hätte sich Lock vielleicht auf eine Nacht im Jimmy's gefreut und auf die Gelegenheit, zu sehen und gesehen zu werden, doch jetzt nicht mehr. Der Laden war voll von Mittsechzigern und sogar Mittsiebzigern, die sich offensichtlich niemals die Zeit nahmen, Zweifel an ihrem Status oder ihrer Leistungskraft aufkommen zu lassen - aber sie waren, wie Lock sich eingestehen musste, die wirklich Reichen, sie gehörten einer völlig anderen Rasse an.
»Ich rufe im Hotel an und lasse einen Tisch reservieren. Sonst hast du alles, was du brauchst? Einen Drink?«
»Ich mache jetzt die andere Seite.« Oksana drehte sich mit sparsamen Bewegungen auf den Rücken und schloss die Augen. Lock nahm eines der drei Handys, die neben ihm lagen, rief im Hotel an und sprach mit der Rezeption. Er lehnte sich zurück, trank und verfolgte mit den Augen einen Jetski, der durch die Bucht pflügte.
Leise und abrupt begann eines seiner Handys zu vibrieren. Er schaute hinunter und erkannte die Nummer. Ein französisches Mobiltelefon. Er ließ es einen Moment lang hilflos summen, schloss kurz resigniert die Augen und nahm es in die Hand. »Hallo«, sagte er auf Russisch. Allo. Es klang seltsam hier am Strand, in der Sonne.
»Hallo Richard.« Diese heisere, tiefe Stimme. »Ich brauche Sie hier, heute Abend. Bitte kommen Sie jetzt.«
»Natürlich.« Er legte auf und seufzte. Er war nicht bereit, in diese Welt zurückzukehren.
...
Übersetzung: Christoph und Karola Bausum
Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Chris Morgan Jones
Chris Morgan Jones arbeitete für eine der weltweit größten Unternehmensberatungen. Zu seinen Kunden gehörten Regierungen im Mittleren Osten, Bänker in New York, Londoner Investmentfonds, afrikanische Minen-Unternehmen und russische Oligarchen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Chris Morgan Jones
- 2012, 447 Seiten, Maße: 13,5 x 20,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Bausum, Christoph
- Übersetzer: Christoph Bausum
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453436067
- ISBN-13: 9783453436060
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