Die Liebe eines Mörders
Roman
Michael Cellini ist besessen, nicht nur von seiner Liebe zu dem schönen Topmodel Nerisha, sondern auch von einem Serienmörder, der einst in den Straßen von London sein Unwesen trieb. Fantasie und Wirklichkeit verschmelzen mehr und mehr, und die Folgen...
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Produktinformationen zu „Die Liebe eines Mörders “
Michael Cellini ist besessen, nicht nur von seiner Liebe zu dem schönen Topmodel Nerisha, sondern auch von einem Serienmörder, der einst in den Straßen von London sein Unwesen trieb. Fantasie und Wirklichkeit verschmelzen mehr und mehr, und die Folgen sind tödlich.
Großartiger, tiefgründiger Nervenkitzel der Erfolgsautorin.
Klappentext zu „Die Liebe eines Mörders “
Michael Cellini ist besessen. Nicht nur vom schönen Top-Model Nerisha, sondern auch von seinem großen Idol, dem berüchtigten Serienkiller John Christie. Und so ist es kein Wunder, dass der leidenschaftliche junge Mann sich von Christies Taten inspirieren lässt, als Nerisha sein zärtliches Werben hartnäckig ignoriert
Wenn hoffnungslose Schwärmerei zur Besessenheit wird, können die Folgen tödlich sein ...
Michael Cellini ist besessen. Nicht nur vom schönen Top-Model Nerisha, sondern auch von seinem großen Idol, dem berüchtigten Serienkiller John Christie. Und so ist es kein Wunder, dass der leidenschaftliche junge Mann sich von Christies Taten inspirieren lässt, als Nerisha sein zärtliches Werben hartnäckig ignoriert ...
Hätte Michael Cellini gewusst, dass sie das Haus des berühmten John Christie dem Erdboden gleich gemacht haben, wäre er ganz sicher nicht nach Notting Hill gezogen. Schließlich wollte der junge Mann immer nur seinem Idol nahe sein - auch wenn der verurteilte Serienmörder Christie bereits vor fünf Jahrzehnten am Galgen endete. Niemals hätte Michael sich die schäbige Wohnung in Hausnummer 13 genommen, mit den viermal 13 Stufen bis unter das Dach. Nicht einmal für seine große Liebe Nerisha ...
Genau wie ihr neuer Mieter lebt auch die betagte Gwendolyn Chawcer in ihrer ganz eigenen, eifersüchtig gehüteten Traumwelt: Wie der unscheinbare Michael, der überzeugt ist, schon bald das Herz des bekannten Top-Models Nerisha zu erobern, sucht auch Gwendolyn die Liebe, wo es keine geben kann - in der Erinnerung an einen Mann, den sie vor fünfzig Jahren das letzte Mal sah. Erst als Michael allmählich die Kontrolle über seine Obsessionen verliert, kehrt Gwendolyn wieder in die Wirklichkeit zurück. Denn seine Gewaltfantasien werden für die alte Dame immer mehr zur schrecklichen Realität ...
"Ruth Rendell ist ohne Frage eine der besten Krimiautorinnen der Welt. Eine Meisterin im Aufdecken der Abgründe unter der Decke einer scheinbar kleinbürgerlichen Wohlanständigkeit." Frankfurter Rundschau
"Rendell zieht mit düsterer Ironie das Netz aus unseliger Abhängigkeit und fataler Koinzidenz zu!" Westdeutsche Allgemeine
"Unwiderstehlich und aufwühlend!" The Times
Michael Cellini ist besessen. Nicht nur vom schönen Top-Model Nerisha, sondern auch von seinem großen Idol, dem berüchtigten Serienkiller John Christie. Und so ist es kein Wunder, dass der leidenschaftliche junge Mann sich von Christies Taten inspirieren lässt, als Nerisha sein zärtliches Werben hartnäckig ignoriert ...
Hätte Michael Cellini gewusst, dass sie das Haus des berühmten John Christie dem Erdboden gleich gemacht haben, wäre er ganz sicher nicht nach Notting Hill gezogen. Schließlich wollte der junge Mann immer nur seinem Idol nahe sein - auch wenn der verurteilte Serienmörder Christie bereits vor fünf Jahrzehnten am Galgen endete. Niemals hätte Michael sich die schäbige Wohnung in Hausnummer 13 genommen, mit den viermal 13 Stufen bis unter das Dach. Nicht einmal für seine große Liebe Nerisha ...
Genau wie ihr neuer Mieter lebt auch die betagte Gwendolyn Chawcer in ihrer ganz eigenen, eifersüchtig gehüteten Traumwelt: Wie der unscheinbare Michael, der überzeugt ist, schon bald das Herz des bekannten Top-Models Nerisha zu erobern, sucht auch Gwendolyn die Liebe, wo es keine geben kann - in der Erinnerung an einen Mann, den sie vor fünfzig Jahren das letzte Mal sah. Erst als Michael allmählich die Kontrolle über seine Obsessionen verliert, kehrt Gwendolyn wieder in die Wirklichkeit zurück. Denn seine Gewaltfantasien werden für die alte Dame immer mehr zur schrecklichen Realität ...
"Ruth Rendell ist ohne Frage eine der besten Krimiautorinnen der Welt. Eine Meisterin im Aufdecken der Abgründe unter der Decke einer scheinbar kleinbürgerlichen Wohlanständigkeit." Frankfurter Rundschau
"Rendell zieht mit düsterer Ironie das Netz aus unseliger Abhängigkeit und fataler Koinzidenz zu!" Westdeutsche Allgemeine
"Unwiderstehlich und aufwühlend!" The Times
Lese-Probe zu „Die Liebe eines Mörders “
Hier m sste eigentlich die Stra e sein, genau da, wo er stand. Davon war Mix berzeugt. Unglaublich. Inzwischen hatte er seinen Schock berwunden. Bittere Entt uschung stieg in ihm auf. Dann kam die Wut. Es schn rte ihm fast die Kehle zu. Wie konnten sie es wagen? Wie konnten diese Unbekannten etwas zerst ren, was eigentlich ein Nationaldenkmal sein sollte? Das Haus h tte l ngst ein Museum mit einer dieser blauen Tafeln oben an der Wand sein m ssen, und den Garten h tte man als Teil einer Besichtigungstour in seinem urspr nglichen Zustand liebevoll bewahren sollen. Ein Kurator w re auch gleich bei der Hand gewesen: er pers nlich.Alles war sorgf ltig neu gestylt und seelenlos. Das war der richtige Begriff daf r - "seelenlos". Er war ganz stolz auf seinen Einfall. Was f r ein h bsches Fleckchen, dachte er angewidert. Genau das Richtige f r Yuppies. Besonders w tend machten ihn die Petunien in den Blumenbeeten. Dass man den Rillington Place schon einige Zeit vor seiner Geburt in Ruston Close umbenannt hatte, wusste er nat rlich, aber jetzt existierte nicht einmal dieser mehr. Der alte Stadtplan, den er mitgebracht hatte, half auch nicht weiter. Alte Stra en waren noch schwerer zu finden als die Spuren eines Kindergesichtes bei einem F nfzigj hrigen. Ja, ganz genau, f nfzig Jahre. Vor einem halben Jahrhundert hatten sie Reggie geschnappt und geh ngt. Wenn sie schon die Stra en umbenennen mussten, dann h tte man wenigstens eine Tafel mit dem Hinweis "Ehemals Rillington Place" oder irgendetwas aufstellen k nnen, was den Besuchern verriet: Hier lebte Reggie. Sicher w rden ganze Hundertschaften hierherkommen, einige voller Erwartung und dann dementsprechend tief entt uscht, w hrend andere keine Ahnung von den historischen Begebenheiten hatten, die mit diesem Ort verbunden waren. Und alle w rden sie vor dieser kleinen Enklave mit den roten Backsteinh usern stehen, deren Blumenk sten ppig mit Geranien und Flei igen Lieschen bepflanzt waren und deren Grundst cke von
... mehr
Blumenrabatten und B umen ges umt wurden, die man wegen ihrer wei umrandeten, goldenen Bl tter ausgesucht hatte.
Es war ein sch ner Hochsommertag mit einem wolkenlos blauen Himmel. ppig gr n leuchteten die kleinen Rasenfl chen. Eine rosarote Kletterpflanze legte sich wie ein pastellfarbener Mantel ber die geschickt versetzten Gartenmauern. Mix drehte sich um. Vor unterdr ckter Wut klopfte sein Herz schneller und lauter. Poch. Poch. Poch. Wenn er gewusst h tte, dass man jede Spur ausgemerzt hatte, h tte er die Wohnung im St. Blaise House nie in Betracht gezogen. In diese Ecke von Notting Hill war er nur gezogen, weil Reggie in diesem Viertel gelebt hatte. Das eigentliche Haus und die Nachbarh user waren weg, das hatte er nat rlich gewusst. Trotzdem hatte er darauf gesetzt, dass man den Ort selbst leicht wiedererkennen k nne: eine Stra e, um die Leute mit schwachen Nerven einen weiten Bogen machten, eine Pilgerst tte f r intelligente Kenner seines Schlages. Leider hatten sich die zart besaiteten Schw chlinge und die politisch korrekten B rger durchgesetzt und alles abgerissen. ber seinesgleichen h tten solche Typen nur gelacht und gen sslich triumphiert, weil man einen geschichtstr chtigen Ort durch eine geschmacklose Wohnsiedlung ersetzt hatte.
Den Besuch selbst hatte er sich als besonderes Vergn gen f r die Zeit nach seinem Einzug aufgespart. Und was f r ein Vergn gen! Wie oft hatte sich in seiner Kindheit ein ganz besonderes Vergn gen als Niete entpuppt? Seiner Erinnerung nach viel zu oft. Und das ging so weiter, sobald man als Erwachsener selbst Verantwortung bernehmen musste. Ein Auszug kam trotzdem nicht in Frage, daf r hatte er an Ed und dessen Kumpel viel zu viel f rs Streichen der Wohnung und die K chenrenovierung bezahlt. Er drehte den h bschen neuen H uschen samt ihren B umen und Blumenbeeten den R cken zu, ging langsam die Oxford Gardens hinauf und berquerte den Ladbroke Grove, um sich das Haus anzusehen, in dem Reggies erstes Opfer ein Zimmer bewohnt hatte. Wenigstens hier hatte sich nichts ver ndert. Dem u eren Anschein nach hatte das Haus seit dem Tod dieser Frau im Jahre 1943 keine Farbe mehr gesehen. Offensichtlich wusste niemand, um welches Zimmer es sich gehandelt hatte. Keines der B cher, die er gelesen hatte, machte dazu irgendwelche detaillierten Angaben. W hrend er in Spekulationen und Mutma ungen versank, starrte er zu den Fenstern hinauf, bis jemand zu ihm hinunterschaute und er es f r besser hielt weiterzugehen.
Je weiter er die St. Blaise Avenue bergabging, umso mehr ging es auch mit dem Viertel bergab: nur noch st dtische Sozialwohnungen, Reinigungen, Gesch fte f r Motorradersatzteile und an der Ecke die blichen Tante-Emma-L den. Die einzige Ausnahme bildete die Reihenhauszeile auf der anderen Stra enseite, die durch ihren eleganten viktorianischen Stil herausstach, und die gro e Villa. St. Blaise House hatte man als einziges im ganzen Viertel nicht in ein Dutzend Wohnungen aufgeteilt. Schade, dass sie nicht diesen alten Kasten abgerissen und daf r vom Rillington Place die Finger gelassen haben, dachte Mix.
Statt Kirschb umen standen hier riesige gro bl ttrige Platanen voller Stra enstaub, von deren St mmen sich die Rinde sch lte. Sie waren weitgehend daran schuld, dass es hier so dunkel war. Er blieb stehen, betrachtete das Haus und staunte wie immer ber dessen Gr e. Ihm war es schleierhaft, warum die Alte das Haus nicht schon vor Jahren an einen Bautr ger verkauft hatte. Die grauen Stuckverzierungen des dreist ckigen Geb udes waren fr her einmal wei gewesen. Eine Treppe f hrte zu einem gro en Portal hinauf, das in den Tiefen eines mit S ulen verzierten Vorbaus halb verschwand. Ganz oben, knapp unterhalb des Giebels, befand sich ein kreisrundes Fenster mit bunten Glasscheiben, das von den anderen rechteckigen Fenstern abstach und schon lange nicht mehr geputzt worden war. Im Laufe der Jahre hatte sich eine dicke Schmutzschicht darauf abgelagert und tr bte die Farben.
Mix sperrte auf. Bereits die riesige quadratische Diele, in der es genauso dunkel war wie im brigen Haus, hatte die Ausma e einer normalen Wohnung. Dieser Gedanke war ihm schon bei der ersten Besichtigung durch den Kopf gegangen. Ringsum an den W nden standen m chtige dunkle Sessel mit geschnitzten Lehnen. Dar ber hing in einem geschnitzten Holzrahmen ein riesiger Spiegel mit gr nlichen Flecken, die an Inseln auf einer Seekarte erinnerten. Eine Treppe f hrte ins Kellergeschoss hinunter, das er nie betreten hatte und vermutlich seit vielen Jahren auch sonst niemand mehr.
Jedes Mal, wenn er heimkam, hoffte er, dass er sie nicht zu Gesicht bekam, was normalerweise auch zutraf, aber heute hatte er Pech. Mit einem bunten Werbeprospekt f r ein tibetanisches Restaurant in der Hand stand sie neben einem geschnitzten Tisch von enormen Ausma en, der mindestens eine Tonne wog. Wie blich trug sie eine lange, ausgeleierte Strickjacke und einen Rock mit einem zipfeligen Saum. "Guten Tag, Mr. Cellini", rief sie bei seinem Anblick vornehm n selnd. In seinen Ohren klang ihre Stimme ziemlich ver chtlich.
Er beschr nkte seine Unterhaltungen mit Gwendolen Chawcer aufs Allern tigste und bem hte sich dabei redlich, sie zu schockieren. Leider bisher ohne nennenswerten Erfolg.
"Sie werden nie erraten, wo ich gewesen bin."
"Da dies ziemlich wahrscheinlich ist", erwiderte sie, "scheint jeder entsprechende Versuch sinnlos zu sein."
Sarkastisches altes Biest. "Am Rillington Place", sagte er, "beziehungsweise dort, wo er fr her einmal lag. Ich wollte unbedingt sehen, wo Christie die ganzen Frauen, die er umbrachte, im Garten vergraben hat, aber es ist nichts mehr zu sehen."
Sie legte den Prospekt wieder auf den Tisch, wo er zweifelsohne die n chsten Monate liegen bleiben w rde. Ihr n chster Satz berraschte ihn. "In meiner Jugend bin ich einmal bei ihm im Haus gewesen."
"Wirklich? Warum?"
Sie w rde nicht viel verlauten lassen, das wusste er, und so war es auch. "Ich hatte meine Gr nde. Der Besuch dauerte h chstens eine halbe Stunde. Er war ein unangenehmer Mensch."
Er konnte sich vor Begeisterung nicht bremsen. "Welchen Eindruck hat er auf Sie gemacht? Haben Sie in seiner Gegenwart den M rder gesp rt? War seine Frau dabei?"
Wie immer lachte sie kalt. "Meine G te, Mr. Cellini, ich habe keine Zeit, lauter Fragen zu beantworten. Ich muss weitermachen."
Womit denn? Meistens fr nte sie ja doch nur ihrer Dauerbesch ftigung: Lesen. Sie musste Tausende B cher gelesen haben. Nach ihrer unbefriedigenden und gleichzeitig provozierenden Antwort f hlte er sich frustriert. Vielleicht hatte sie jede Menge Informationen ber Reggie, aber in ihrer k hlen Art w rde sie nie dar ber reden.
Er begann, die Treppe hinaufzusteigen, deren Stufen er aus tiefster Seele hasste, obwohl sie weder schmal noch steil oder gewendelt waren. Insgesamt waren es zweiundf nfzig Stufen, aufgeteilt in drei Treppenabs tze. Zweiundzwanzig Stufen im ersten Treppenabschnitt, siebzehn im zweiten und dreizehn ins Dachgeschoss. Und Letzteres war ein Grund, warum Mix die Treppe nicht ausstehen konnte. Denn nichts brachte ihn, abgesehen von unangenehmen berraschungen und unversch mten alten Weibern, mehr in Rage als die Zahl Dreizehn. Zum Gl ck hatte St. Blaise House die Nummer vierundf nfzig in der St. Blaise Avenue.
Eines sch nen Tages hatte er in Abwesenheit der alten Chawcer die Schlafzimmer gez hlt. Es waren neun, sein eigenes nicht eingerechnet. Einige waren mehr oder weniger m bliert, andere leer. Das ganze Haus starrte vor Dreck. Vermutlich hatte hier drinnen seit Jahren niemand mehr sauber gemacht, obwohl er sie auch schon mit einem Federwisch herumwedeln gesehen hatte. Der Staub von Jahrzehnten lag auf dem Holzwerk, das ber und ber mit Schilden, Schwertern, Helmen, Gesichtern, Blumen, Bl ttern, Girlanden und B ndern verziert war. Zwischen den einzelnen Sprossen des Treppengel nders hingen dichte Spinnwebennester und verbanden Gesimse und Bilderleisten. Hier hatte sie ihr ganzes langes Leben verbracht, zuerst gemeinsam mit ihren Eltern, dann nur noch mit ihrem Vater und schlie lich allein. Sonst wusste er nichts ber sie. Keine Ahnung, wie sie darauf gekommen war, drei Schlafzimmer in eine Dachgeschosswohnung umzubauen.
Nach dem ersten Treppenabsatz wurden die Stufen schmaler, und das letzte St ck zum Dachgeschoss war nicht mit einem Teppich belegt, sondern gefliest. Eine Treppe mit gl nzend schwarzen Fliesen hatte Mix noch nie zuvor gesehen. Allerdings gab es im Haus von Miss Chawcer vieles, was er noch nie gesehen hatte. Diese Fliesen waren schrecklich laut, egal, welche Schuhe er trug. Entweder polterte es dumpf oder es klackerte. Die Sache mit den Fliesen hatte wahrscheinlich einen Grund: Sie wollte genau wissen, wann ihr Mieter heimkam. Er hatte es sich bereits angew hnt, die Schuhe auszuziehen und auf Str mpfen weiterzugehen. Er wollte einfach nicht, dass sie ber sein Kommen und Gehen Bescheid wusste, auch wenn er nie etwas anstellte.
Das Buntglasfenster - ein M dchen in die Betrachtung einer Topfpflanze versunken - sprenkelte den obersten Treppenabsatz mit bunten Lichttupfen. Das Isabellafenster hatte es die alte Chawcer genannt, als sie ihn zum ersten Mal hier herauff hrte. Mix konnte mit dem Bild von Isabella und dem Basilikumtopf herzlich wenig anfangen. F r ihn war Basilikum ein Kraut aus einem Plastikbeutel, das man bei Tesco kaufte. Das M dchen sah krank aus. Ihr Gesicht war das einzig wei e Glasteil. Bei jedem Betreten oder Verlassen seiner Wohnung musste Mix sie anschauen, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.
Er bezeichnete sein Zuhause als Apartment, w hrend Gwendolen Chawcer von "R umlichkeiten" sprach. Seiner Ansicht nach lebte sie in der Vergangenheit, aber nicht vor drei ig oder vierzig Jahren wie die meisten alten Leute, sondern ein Jahrhundert fr her. Bad und K che hatte er selbst mit Hilfe von Ed und dessen Kumpel eingebaut und eingerichtet. Eigentlich h tte Miss Chawcer keinen Grund zur Klage und m sste zufrieden sein. Schlie lich hatte er den Umbau bezahlt, von dem der Nachmieter profitieren w rde, sobald der ber hmte Mix ausgezogen war. Leider hatte sie Sinn und Zweck eines Badezimmers nie eingesehen und ihm erkl rt, in ihrer Jugend habe im Schlafzimmer ein Nachttopf und ein St nder mit einer Waschsch ssel gestanden, und das Dienstm dchen habe einen Krug hei es Wasser heraufgebracht.
Neben K che und Bad verf gte Mix ber ein Schlafzimmer und ein gro es Wohnzimmer, in dem ein Fotoposter von Nerissa Nash alle Blicke auf sich zog. Dieses Bild war entstanden, als eine Modezeitschrift zum ersten Mal neben den Designernamen auch die Namen der Models nannte. Im Gegensatz zu heute galt Nerissa Nash damals noch weithin als die Naomi Campbell der kleinen Leute. Mix stellte sich vor das Poster, was er oft beim Betreten seiner Wohnung tat, und versank in stiller Andacht wie ein gl ubiger Mensch vor einem Heiligenbild. Doch statt eines Gebetes murmelte er: "Ich liebe dich, ich bete dich an."
Er verdiente bei Fiterama ordentlich Geld und hatte es gro z gig in diese Wohnung gesteckt. Fernseher, Videorecorder und DVD-Player - alle mit Chromgeh use - sowie die meisten K chenger te hatte er auf Raten gekauft, aber das war Jacke wie Hose, wie Ed gern zu sagen pflegte. Das machten schlie lich alle. Den wei en Teppich und die mit grauem Tweed bezogene Couchgarnitur hatte er bar bezahlt. Dabei hatte er aus reinem Impuls die schwarze Marmorstatue eines nackten M dchens gekauft und es keine Sekunde lang bereut. Das Poster von Nerissa hatte er, passend zum Fernseher, mit einer Chromleiste rahmen lassen. Im Regal aus schwarz lasierter Esche stand seine Sammlung von B chern ber Reggie: "Rillington Place Nummer zehn", "John Reginald Halliday Christie", "Der Christie-Mythos", "Mord am Rillington Place" und "Christie und seine Opfer", um nur einige zu nennen. Die Verfilmung von "Rillington Place Nummer zehn" mit Richard Attenborough besa er auf Video und auf DVD. Eines fand er wirklich emp rend: Von allen m glichen Hollywoodfilmen kamen laufend Remakes heraus, aber hiervon? Nicht die Bohne. Das Videoband lief oft, noch besser war aber die digitale Version, klarer und leuchtender in den Farben. Richard Attenborough war wunderbar, dagegen gab es nichts zu sagen, auch wenn er Reggie nicht allzu hnlich sah. Man br uchte einen gr eren Schauspieler mit markanteren Gesichtsz gen und gl henden Augen.
Mix neigte zu Tagtr umen. Manchmal spekulierte er dar ber, wodurch er ber hmt werden w rde: durch seine Beziehung zu Nerissa oder durch sein umfassendes Wissen ber Reggie? Unter den heutigen Zeitgenossen gab es wahrscheinlich keinen gr eren Kenner dieser Materie. Nicht einmal Ludovic Kennedy, der Verfasser des wichtigsten Buches zu diesem Thema, k nnte ihm das Wasser reichen. Vielleicht w re es seine Lebensaufgabe, das Interesse am Rillington Place und an seinem ber hmtesten Bewohner neu zu entfachen, auch wenn es ihm nach dem heutigen Nachmittag noch schleierhaft war, wie man das w rde bewerkstelligen k nnen. Selbstverst ndlich w rde er daf r eine L sung finden. Vielleicht w rde er selbst ein Buch ber Reggie schreiben, garantiert ohne die blichen schwachsinnigen Kommentare ber den b sartigen verdorbenen Charakter dieses Mannes. Sein Buch w rde die Aufmerksamkeit auf den M rder als K nstler lenken.
Es war kurz vor sechs Uhr. Mix g nnte sich seinen Lieblingsdrink, den er selbst erfunden und wegen seiner brutalen Wirkung "Boot Camp" getauft hatte. Sonderbar, dass bisher offensichtlich keiner, dem er ein Glas davon angeboten hatte, seine Vorliebe f r einen doppelten Wodka mit einem Glas Sauvignon und einem L ffel voll Cointreau ber gesto enem Eis teilte. Er besa einen K hlschrank, der gesto enes Eis fix und fertig ausspuckte. Er genoss den ersten kleinen Schluck, da l utete sein Handy.
Es war Colette Gilbert-Bamber, die ihm mitteilte, sie wolle unbedingt ihren Heimtrainer repariert haben. Vielleicht l ge es nur am Stecker; es k nnte aber auch etwas Gr eres sein. Ihr Mann sei nicht da, aber sie h tte daheimbleiben m ssen, weil sie einen wichtigen Anruf erwartete. Mix wusste, was dahintersteckte. Trotz der Fernliebe zu seinem Star, seiner K nigin und Herzensdame, durfte er sich ab und zu ruhig ein bisschen Spa g nnen. Das w rde sich grundlegend ndern, wenn er und Nerissa erst einmal ein richtiges Paar w ren.
Mix stellte seinen Boot Camp in den K hlschrank, mit leisem Bedauern zwar, aber ihm war klar, was Vorrang hatte. Er putzte sich die Z hne, gurgelte mit einem Mundwasser, das fast wie sein Cocktail schmeckte, nur leider den Kick vermissen lie , und machte sich auf den Weg nach unten. Hier drinnen im Haus w rde man nie vermuten, wie strahlend sch n es drau en war, wie hei die Sonne schien. Hier war es immer kalt und seltsam still, tagaus, tagein. Hier h rte man weder etwas von den U-Bahn-Linien Hammersmith und City, die zwischen Latimer Road und Shepherd's Bush oberirdisch fuhren, noch vom Verkehr auf dem Ladbroke Grove. Nur vom Westway drangen Ger usche her ber, die allerdings nur ein Eingeweihter als Verkehrsl rm einordnen w rde. Es klang wie am Meer, als w rden sich Wellen am Ufer brechen, oder so, als ob man sich eine gro e Muschel ans Ohr hielte: ein leises unaufh rliches Rauschen.
In letzter Zeit konnte Gwendolen Kleingedrucktes manchmal nur mit Hilfe einer Lupe entziffern. Leider waren die meisten B cher, die sie lesen wollte, in einer Schriftgr e gedruckt, die man ihres Wissens als Zehn-Punkt bezeichnete. Ihre normale Brille war beispielsweise mit Papas Ausgabe von "Verfall und Untergang des R mischen Reiches" genauso berfordert wie mit ihrer derzeitigen Lekt re, einer uralten Ausgabe von George Eliots "Middlemarch" aus dem neunzehnten Jahrhundert.
Der Salon erstreckte sich, wie ihr dar berliegendes Schlafzimmer, ber die ganze Tiefe des Hauses. Nach vorne gingen zwei gro e Schiebefenster auf die Stra e hinaus, w hrend hinten Verandat ren in den Garten f hrten. Zum Lesen machte es sich Gwendolen auf einem mit braunem Cordsamt gepolsterten Sofa bequem, dessen R ckenlehne ein geschnitzter Mahagonidrache kr nte. Der Schwanz des Drachen schl ngelte sich ber das halbe Sofa bis zu einer der Armlehnen hinunter, w hrend der hoch erhobene Kopf den schwarzen Marmorkamin anfauchte. Die meisten M bel sahen ziemlich hnlich aus: geschnitzt, dick gepolstert und mit braunem, mattgr nem oder weinrotem Samt bezogen. Dazwischen standen einige St cke aus dunkel ge dertem Marmor mit vergoldeten F en herum. An der einen Wand hing in einem vergoldeten Rahmen, der ber und ber mit Bl ttern, Fr chten und Schn rkeln verziert war, ein riesiger Spiegel, der im Laufe der Zeit und infolge mangelnder Pflege tr b geworden war.
Im warmen Abendlicht standen die Verandat ren zum Garten hinaus offen, der in Gwendolens Augen immer noch so aussah wie einst: Der kurz gem hte Rasenteppich erinnerte an smaragdgr nen Samt, Blumen leuchteten ringsum in den Rabatten, und die kunstvoll geschnittenen B ume prangten im ppigen Laub. Nein, so sah sie den Garten nicht wirklich, aber so k nnte er mit wenig Aufwand wieder sein. Ein Tag Arbeit - und alles w re wieder beim Alten. F r das kniehohe Gras, die mit Unkraut berwucherten Blumenbeete und die durch totes Ge st ruinierten B ume hatte sie keinen Blick. Das gedruckte Wort war f r sie realer als eine gem tliche Einrichtung und ein gepflegtes Grundst ck.
Aber hin und wieder waren auch ihre Gedanken und Erinnerungen st rker als das Buch. Dann legte sie es weg, starrte nachdenklich die mit Spinnweben berzogene, braun gewordene Decke und die verstaubten Glasprismen am Kronleuchter an und rief sich Vergangenes in ihr Ged chtnis zur ck.
Diesen Menschen, diesen Cellini, konnte sie nicht ausstehen, aber das war nicht sonderlich wichtig. Ihre kurze Konversation mit ihm hatte in ihr schlafende Dinge geweckt: Christie und seine Morde, den Rillington Place, Dr. Reeves und Bertha. Die Geschichte musste mindestens zweiundf nfzig Jahre her sein, vielleicht sogar dreiundf nfzig. Damals war der Rillington Place ein sch biges Elendsviertel gewesen, wo die Eingangst ren der H userzeile direkt auf die Stra e hinausgingen und am Stra enende der hohe Schlot einer Eisengie erei aufragte. Bis zu ihrem Besuch dort hatte sie nicht einmal gewusst, dass es solche Orte gab. Sie hatte ein beh tetes Leben gef hrt - vorher und nachher. Bertha hatte sicher geheiratet. Das machte diese Sorte Leute doch immer. Hatte vermutlich Kinder wie die Orgelpfeifen, von denen das lteste sie ins Ungl ck gest rzt hatte. Inzwischen m ssten auch diese l ngst erwachsen sein.
Warum verhielten sich Frauen so? Das hatte sie nie begriffen. Sie war nie in Versuchung geraten, nicht einmal bei Dr. Reeves, f r den sie immer nur keusche und ehrbare Gef hle gehegt hatte, wie umgekehrt auch er. Davon war sie trotz seines sp teren Verhaltens berzeugt. Vielleicht hatte sie letztlich doch den besseren Weg gew hlt.
Was machte Christie f r Cellini derma en interessant? Es zeugte von keiner gesunden Geisteshaltung. Gwendolen nahm wieder ihr Buch zur Hand. In einem anderen Roman von George Eliot - "Adam Bede" - kam ein M dchen vor, das sich wie Bertha verhalten und ein schreckliches Ende genommen hatte. Ganz versunken las sie noch eine halbe Stunde weiter und hatte nur noch Augen f r die Buchseite vor ihr. ber ihrem Kopf lie en sich Schritte vernehmen. Sie wurde hellwach.
Im Gegensatz zu ihrer nachlassenden Sehkraft hatte Gwendolen ein ausgezeichnetes Geh r, und das nicht nur f r eine Frau ihres Alters, sondern f r alle Altersstufen. Ihre Freundin Olive Fordyce war berzeugt, Gwendolen k nne eine Fledermaus quietschen h ren. Jetzt lauschte sie angespannt. Er ging soeben die Treppe herunter. Zweifellos bildete er sich ein, sie w sste nicht, dass er die Schuhe auszog, um heimlich, still und leise kommen und gehen zu k nnen. So leicht lie sie sich nicht hinters Licht f hren. Der unterste Treppenabsatz knarrte. Dagegen war er machtlos, schoss es ihr triumphierend durch den Kopf. Sie h rte ihn durch die Eingangshalle tappen, doch dann knallte er die Haust r derma en heftig zu, dass das ganze Haus wackelte. Von der Zimmerdecke bl tterte ein wei licher Farbfetzen ab und landete auf ihrem linken Fu .
Sie trat an eines der Vorderfenster und sah ihn in sein Auto steigen, einen blauen Kleinwagen, den er ihrer Meinung nach v llig absurd auf Hochglanz trimmte. Kaum war er fort, ging sie in die K che hinaus, ffnete eine betagte, nie benutzte W scheschleuder und zog ein ehemaliges Kartoffelnetz voller Schl ssel heraus. Obwohl keiner mit einem Anh nger versehen war, wusste sie ganz genau, wie der gesuchte aussah und welche Farbe er hatte. Sie steckte den Schl ssel in die Tasche ihrer Strickjacke und machte sich auf den Weg nach oben.
Der Aufstieg dauerte lange, doch daran war sie gew hnt. Trotz ihrer mehr als achtzig Jahre war sie d nn und kr ftig und in ihrem ganzen Leben noch keinen Tag krank gewesen. Nat rlich konnte sie nicht mehr so schnell Treppen steigen wie vor f nfzig Jahren, aber das konnte man schlie lich auch nicht mehr erwarten. Mitten auf dem obersten Treppenabsatz sa Otto und zerlegte gen sslich irgendein kleines S ugetier. Sie k mmerten sich nicht umeinander. Die Abendsonne lie das Isabellafenster hell aufleuchten. Da drau en kein Wind bers Glas strich, zeichnete sich auf dem Boden ein fast perfektes Farbbild von dem M dchen und dem Basilikumtopf ab, ein rundes Mosaik aus roten, blauen, purpurfarbenen und gr nen Flecken. Bewundernd blieb Gwendolen stehen. So klar und ruhig sah man dieses Abbild wirklich selten.
Trotzdem g nnte sie sich nur eine Minute, dann steckte sie ihren Schl ssel ins Schloss und betrat Cellinis Wohnung.
berall nur wei gestrichene W nde. Wie unklug, dachte sie, da sieht man doch jeden Fleck. Und Grau war eine schrecklich kalte und harte M belfarbe. Beim Betreten seines Schlafzimmers fragte sie sich, warum er eigentlich m hsam sein Bett machte, wenn er es abends doch wieder aufdecken musste. Alles war deprimierend ordentlich. H chstwahrscheinlich litt er an dieser Krankheit, ber die sie etwas in einer Zeitung gelesen hatte, an Ordnungszwang. Die K che sah genauso schlimm aus, wie eine Musterk che auf der Sch ner-Wohnen-Ausstellung, in die sie Olive in den achtziger Jahren unbedingt hatte zerren m ssen. Ein Pl tzchen f r alles, und alles an seinem Platz. Kein P ckchen auf der Arbeitsfl che, nicht eine B chse, und nichts im Sp lbecken. Wie konnte jemand so leben?
Sie ffnete die K hlschrankt r, hinter der es herzlich wenig Essbares zu sehen gab. Nur im T rregal standen zwei Weinflaschen, und ganz vorne, im mittleren Fach, ein fast volles Glas mit einer Fl ssigkeit, die an leicht gef rbtes Wasser erinnerte. Nein, kein Wasser, ganz bestimmt nicht. Hie das, er trank? Es berraschte sie nicht sehr. Auf dem R ckweg ins Wohnzimmer blieb sie vor dem B cherregal stehen. B cher zogen sie stets magisch an, egal welche. Hier stand nicht die von ihr bevorzugte Lekt re herum. Vielleicht sollte niemand so etwas lesen. Bis auf ein Buch mit dem Titel "Sex f r M nner im einundzwanzigsten Jahrhundert" hatten alle nur ein Thema: Christie. ber vierzig Jahre hatte sie an diesen Mann kaum einen Gedanken verschwendet, und heute schien sie nicht mehr von ihm loszukommen.Dahinter verbarg sich wohl noch eine Zwangsneurose von Cellini. Je mehr ich die Menschen kenne, umso lieber sind mir die B cher. Mit diesem Zitat ihres Vaters auf den Lippen ging Gwendolen hinunter in die K che, wo sie sich ein Glas Orangensaft und ein K se-Gurken-Sandwich holte, das sie bereits fertig belegt in dem Laden am Eck gekauft hatte. Damit begab sie sich wieder zum Drachensofa und versank erneut in "Middlemarch".
Es war ein sch ner Hochsommertag mit einem wolkenlos blauen Himmel. ppig gr n leuchteten die kleinen Rasenfl chen. Eine rosarote Kletterpflanze legte sich wie ein pastellfarbener Mantel ber die geschickt versetzten Gartenmauern. Mix drehte sich um. Vor unterdr ckter Wut klopfte sein Herz schneller und lauter. Poch. Poch. Poch. Wenn er gewusst h tte, dass man jede Spur ausgemerzt hatte, h tte er die Wohnung im St. Blaise House nie in Betracht gezogen. In diese Ecke von Notting Hill war er nur gezogen, weil Reggie in diesem Viertel gelebt hatte. Das eigentliche Haus und die Nachbarh user waren weg, das hatte er nat rlich gewusst. Trotzdem hatte er darauf gesetzt, dass man den Ort selbst leicht wiedererkennen k nne: eine Stra e, um die Leute mit schwachen Nerven einen weiten Bogen machten, eine Pilgerst tte f r intelligente Kenner seines Schlages. Leider hatten sich die zart besaiteten Schw chlinge und die politisch korrekten B rger durchgesetzt und alles abgerissen. ber seinesgleichen h tten solche Typen nur gelacht und gen sslich triumphiert, weil man einen geschichtstr chtigen Ort durch eine geschmacklose Wohnsiedlung ersetzt hatte.
Den Besuch selbst hatte er sich als besonderes Vergn gen f r die Zeit nach seinem Einzug aufgespart. Und was f r ein Vergn gen! Wie oft hatte sich in seiner Kindheit ein ganz besonderes Vergn gen als Niete entpuppt? Seiner Erinnerung nach viel zu oft. Und das ging so weiter, sobald man als Erwachsener selbst Verantwortung bernehmen musste. Ein Auszug kam trotzdem nicht in Frage, daf r hatte er an Ed und dessen Kumpel viel zu viel f rs Streichen der Wohnung und die K chenrenovierung bezahlt. Er drehte den h bschen neuen H uschen samt ihren B umen und Blumenbeeten den R cken zu, ging langsam die Oxford Gardens hinauf und berquerte den Ladbroke Grove, um sich das Haus anzusehen, in dem Reggies erstes Opfer ein Zimmer bewohnt hatte. Wenigstens hier hatte sich nichts ver ndert. Dem u eren Anschein nach hatte das Haus seit dem Tod dieser Frau im Jahre 1943 keine Farbe mehr gesehen. Offensichtlich wusste niemand, um welches Zimmer es sich gehandelt hatte. Keines der B cher, die er gelesen hatte, machte dazu irgendwelche detaillierten Angaben. W hrend er in Spekulationen und Mutma ungen versank, starrte er zu den Fenstern hinauf, bis jemand zu ihm hinunterschaute und er es f r besser hielt weiterzugehen.
Je weiter er die St. Blaise Avenue bergabging, umso mehr ging es auch mit dem Viertel bergab: nur noch st dtische Sozialwohnungen, Reinigungen, Gesch fte f r Motorradersatzteile und an der Ecke die blichen Tante-Emma-L den. Die einzige Ausnahme bildete die Reihenhauszeile auf der anderen Stra enseite, die durch ihren eleganten viktorianischen Stil herausstach, und die gro e Villa. St. Blaise House hatte man als einziges im ganzen Viertel nicht in ein Dutzend Wohnungen aufgeteilt. Schade, dass sie nicht diesen alten Kasten abgerissen und daf r vom Rillington Place die Finger gelassen haben, dachte Mix.
Statt Kirschb umen standen hier riesige gro bl ttrige Platanen voller Stra enstaub, von deren St mmen sich die Rinde sch lte. Sie waren weitgehend daran schuld, dass es hier so dunkel war. Er blieb stehen, betrachtete das Haus und staunte wie immer ber dessen Gr e. Ihm war es schleierhaft, warum die Alte das Haus nicht schon vor Jahren an einen Bautr ger verkauft hatte. Die grauen Stuckverzierungen des dreist ckigen Geb udes waren fr her einmal wei gewesen. Eine Treppe f hrte zu einem gro en Portal hinauf, das in den Tiefen eines mit S ulen verzierten Vorbaus halb verschwand. Ganz oben, knapp unterhalb des Giebels, befand sich ein kreisrundes Fenster mit bunten Glasscheiben, das von den anderen rechteckigen Fenstern abstach und schon lange nicht mehr geputzt worden war. Im Laufe der Jahre hatte sich eine dicke Schmutzschicht darauf abgelagert und tr bte die Farben.
Mix sperrte auf. Bereits die riesige quadratische Diele, in der es genauso dunkel war wie im brigen Haus, hatte die Ausma e einer normalen Wohnung. Dieser Gedanke war ihm schon bei der ersten Besichtigung durch den Kopf gegangen. Ringsum an den W nden standen m chtige dunkle Sessel mit geschnitzten Lehnen. Dar ber hing in einem geschnitzten Holzrahmen ein riesiger Spiegel mit gr nlichen Flecken, die an Inseln auf einer Seekarte erinnerten. Eine Treppe f hrte ins Kellergeschoss hinunter, das er nie betreten hatte und vermutlich seit vielen Jahren auch sonst niemand mehr.
Jedes Mal, wenn er heimkam, hoffte er, dass er sie nicht zu Gesicht bekam, was normalerweise auch zutraf, aber heute hatte er Pech. Mit einem bunten Werbeprospekt f r ein tibetanisches Restaurant in der Hand stand sie neben einem geschnitzten Tisch von enormen Ausma en, der mindestens eine Tonne wog. Wie blich trug sie eine lange, ausgeleierte Strickjacke und einen Rock mit einem zipfeligen Saum. "Guten Tag, Mr. Cellini", rief sie bei seinem Anblick vornehm n selnd. In seinen Ohren klang ihre Stimme ziemlich ver chtlich.
Er beschr nkte seine Unterhaltungen mit Gwendolen Chawcer aufs Allern tigste und bem hte sich dabei redlich, sie zu schockieren. Leider bisher ohne nennenswerten Erfolg.
"Sie werden nie erraten, wo ich gewesen bin."
"Da dies ziemlich wahrscheinlich ist", erwiderte sie, "scheint jeder entsprechende Versuch sinnlos zu sein."
Sarkastisches altes Biest. "Am Rillington Place", sagte er, "beziehungsweise dort, wo er fr her einmal lag. Ich wollte unbedingt sehen, wo Christie die ganzen Frauen, die er umbrachte, im Garten vergraben hat, aber es ist nichts mehr zu sehen."
Sie legte den Prospekt wieder auf den Tisch, wo er zweifelsohne die n chsten Monate liegen bleiben w rde. Ihr n chster Satz berraschte ihn. "In meiner Jugend bin ich einmal bei ihm im Haus gewesen."
"Wirklich? Warum?"
Sie w rde nicht viel verlauten lassen, das wusste er, und so war es auch. "Ich hatte meine Gr nde. Der Besuch dauerte h chstens eine halbe Stunde. Er war ein unangenehmer Mensch."
Er konnte sich vor Begeisterung nicht bremsen. "Welchen Eindruck hat er auf Sie gemacht? Haben Sie in seiner Gegenwart den M rder gesp rt? War seine Frau dabei?"
Wie immer lachte sie kalt. "Meine G te, Mr. Cellini, ich habe keine Zeit, lauter Fragen zu beantworten. Ich muss weitermachen."
Womit denn? Meistens fr nte sie ja doch nur ihrer Dauerbesch ftigung: Lesen. Sie musste Tausende B cher gelesen haben. Nach ihrer unbefriedigenden und gleichzeitig provozierenden Antwort f hlte er sich frustriert. Vielleicht hatte sie jede Menge Informationen ber Reggie, aber in ihrer k hlen Art w rde sie nie dar ber reden.
Er begann, die Treppe hinaufzusteigen, deren Stufen er aus tiefster Seele hasste, obwohl sie weder schmal noch steil oder gewendelt waren. Insgesamt waren es zweiundf nfzig Stufen, aufgeteilt in drei Treppenabs tze. Zweiundzwanzig Stufen im ersten Treppenabschnitt, siebzehn im zweiten und dreizehn ins Dachgeschoss. Und Letzteres war ein Grund, warum Mix die Treppe nicht ausstehen konnte. Denn nichts brachte ihn, abgesehen von unangenehmen berraschungen und unversch mten alten Weibern, mehr in Rage als die Zahl Dreizehn. Zum Gl ck hatte St. Blaise House die Nummer vierundf nfzig in der St. Blaise Avenue.
Eines sch nen Tages hatte er in Abwesenheit der alten Chawcer die Schlafzimmer gez hlt. Es waren neun, sein eigenes nicht eingerechnet. Einige waren mehr oder weniger m bliert, andere leer. Das ganze Haus starrte vor Dreck. Vermutlich hatte hier drinnen seit Jahren niemand mehr sauber gemacht, obwohl er sie auch schon mit einem Federwisch herumwedeln gesehen hatte. Der Staub von Jahrzehnten lag auf dem Holzwerk, das ber und ber mit Schilden, Schwertern, Helmen, Gesichtern, Blumen, Bl ttern, Girlanden und B ndern verziert war. Zwischen den einzelnen Sprossen des Treppengel nders hingen dichte Spinnwebennester und verbanden Gesimse und Bilderleisten. Hier hatte sie ihr ganzes langes Leben verbracht, zuerst gemeinsam mit ihren Eltern, dann nur noch mit ihrem Vater und schlie lich allein. Sonst wusste er nichts ber sie. Keine Ahnung, wie sie darauf gekommen war, drei Schlafzimmer in eine Dachgeschosswohnung umzubauen.
Nach dem ersten Treppenabsatz wurden die Stufen schmaler, und das letzte St ck zum Dachgeschoss war nicht mit einem Teppich belegt, sondern gefliest. Eine Treppe mit gl nzend schwarzen Fliesen hatte Mix noch nie zuvor gesehen. Allerdings gab es im Haus von Miss Chawcer vieles, was er noch nie gesehen hatte. Diese Fliesen waren schrecklich laut, egal, welche Schuhe er trug. Entweder polterte es dumpf oder es klackerte. Die Sache mit den Fliesen hatte wahrscheinlich einen Grund: Sie wollte genau wissen, wann ihr Mieter heimkam. Er hatte es sich bereits angew hnt, die Schuhe auszuziehen und auf Str mpfen weiterzugehen. Er wollte einfach nicht, dass sie ber sein Kommen und Gehen Bescheid wusste, auch wenn er nie etwas anstellte.
Das Buntglasfenster - ein M dchen in die Betrachtung einer Topfpflanze versunken - sprenkelte den obersten Treppenabsatz mit bunten Lichttupfen. Das Isabellafenster hatte es die alte Chawcer genannt, als sie ihn zum ersten Mal hier herauff hrte. Mix konnte mit dem Bild von Isabella und dem Basilikumtopf herzlich wenig anfangen. F r ihn war Basilikum ein Kraut aus einem Plastikbeutel, das man bei Tesco kaufte. Das M dchen sah krank aus. Ihr Gesicht war das einzig wei e Glasteil. Bei jedem Betreten oder Verlassen seiner Wohnung musste Mix sie anschauen, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.
Er bezeichnete sein Zuhause als Apartment, w hrend Gwendolen Chawcer von "R umlichkeiten" sprach. Seiner Ansicht nach lebte sie in der Vergangenheit, aber nicht vor drei ig oder vierzig Jahren wie die meisten alten Leute, sondern ein Jahrhundert fr her. Bad und K che hatte er selbst mit Hilfe von Ed und dessen Kumpel eingebaut und eingerichtet. Eigentlich h tte Miss Chawcer keinen Grund zur Klage und m sste zufrieden sein. Schlie lich hatte er den Umbau bezahlt, von dem der Nachmieter profitieren w rde, sobald der ber hmte Mix ausgezogen war. Leider hatte sie Sinn und Zweck eines Badezimmers nie eingesehen und ihm erkl rt, in ihrer Jugend habe im Schlafzimmer ein Nachttopf und ein St nder mit einer Waschsch ssel gestanden, und das Dienstm dchen habe einen Krug hei es Wasser heraufgebracht.
Neben K che und Bad verf gte Mix ber ein Schlafzimmer und ein gro es Wohnzimmer, in dem ein Fotoposter von Nerissa Nash alle Blicke auf sich zog. Dieses Bild war entstanden, als eine Modezeitschrift zum ersten Mal neben den Designernamen auch die Namen der Models nannte. Im Gegensatz zu heute galt Nerissa Nash damals noch weithin als die Naomi Campbell der kleinen Leute. Mix stellte sich vor das Poster, was er oft beim Betreten seiner Wohnung tat, und versank in stiller Andacht wie ein gl ubiger Mensch vor einem Heiligenbild. Doch statt eines Gebetes murmelte er: "Ich liebe dich, ich bete dich an."
Er verdiente bei Fiterama ordentlich Geld und hatte es gro z gig in diese Wohnung gesteckt. Fernseher, Videorecorder und DVD-Player - alle mit Chromgeh use - sowie die meisten K chenger te hatte er auf Raten gekauft, aber das war Jacke wie Hose, wie Ed gern zu sagen pflegte. Das machten schlie lich alle. Den wei en Teppich und die mit grauem Tweed bezogene Couchgarnitur hatte er bar bezahlt. Dabei hatte er aus reinem Impuls die schwarze Marmorstatue eines nackten M dchens gekauft und es keine Sekunde lang bereut. Das Poster von Nerissa hatte er, passend zum Fernseher, mit einer Chromleiste rahmen lassen. Im Regal aus schwarz lasierter Esche stand seine Sammlung von B chern ber Reggie: "Rillington Place Nummer zehn", "John Reginald Halliday Christie", "Der Christie-Mythos", "Mord am Rillington Place" und "Christie und seine Opfer", um nur einige zu nennen. Die Verfilmung von "Rillington Place Nummer zehn" mit Richard Attenborough besa er auf Video und auf DVD. Eines fand er wirklich emp rend: Von allen m glichen Hollywoodfilmen kamen laufend Remakes heraus, aber hiervon? Nicht die Bohne. Das Videoband lief oft, noch besser war aber die digitale Version, klarer und leuchtender in den Farben. Richard Attenborough war wunderbar, dagegen gab es nichts zu sagen, auch wenn er Reggie nicht allzu hnlich sah. Man br uchte einen gr eren Schauspieler mit markanteren Gesichtsz gen und gl henden Augen.
Mix neigte zu Tagtr umen. Manchmal spekulierte er dar ber, wodurch er ber hmt werden w rde: durch seine Beziehung zu Nerissa oder durch sein umfassendes Wissen ber Reggie? Unter den heutigen Zeitgenossen gab es wahrscheinlich keinen gr eren Kenner dieser Materie. Nicht einmal Ludovic Kennedy, der Verfasser des wichtigsten Buches zu diesem Thema, k nnte ihm das Wasser reichen. Vielleicht w re es seine Lebensaufgabe, das Interesse am Rillington Place und an seinem ber hmtesten Bewohner neu zu entfachen, auch wenn es ihm nach dem heutigen Nachmittag noch schleierhaft war, wie man das w rde bewerkstelligen k nnen. Selbstverst ndlich w rde er daf r eine L sung finden. Vielleicht w rde er selbst ein Buch ber Reggie schreiben, garantiert ohne die blichen schwachsinnigen Kommentare ber den b sartigen verdorbenen Charakter dieses Mannes. Sein Buch w rde die Aufmerksamkeit auf den M rder als K nstler lenken.
Es war kurz vor sechs Uhr. Mix g nnte sich seinen Lieblingsdrink, den er selbst erfunden und wegen seiner brutalen Wirkung "Boot Camp" getauft hatte. Sonderbar, dass bisher offensichtlich keiner, dem er ein Glas davon angeboten hatte, seine Vorliebe f r einen doppelten Wodka mit einem Glas Sauvignon und einem L ffel voll Cointreau ber gesto enem Eis teilte. Er besa einen K hlschrank, der gesto enes Eis fix und fertig ausspuckte. Er genoss den ersten kleinen Schluck, da l utete sein Handy.
Es war Colette Gilbert-Bamber, die ihm mitteilte, sie wolle unbedingt ihren Heimtrainer repariert haben. Vielleicht l ge es nur am Stecker; es k nnte aber auch etwas Gr eres sein. Ihr Mann sei nicht da, aber sie h tte daheimbleiben m ssen, weil sie einen wichtigen Anruf erwartete. Mix wusste, was dahintersteckte. Trotz der Fernliebe zu seinem Star, seiner K nigin und Herzensdame, durfte er sich ab und zu ruhig ein bisschen Spa g nnen. Das w rde sich grundlegend ndern, wenn er und Nerissa erst einmal ein richtiges Paar w ren.
Mix stellte seinen Boot Camp in den K hlschrank, mit leisem Bedauern zwar, aber ihm war klar, was Vorrang hatte. Er putzte sich die Z hne, gurgelte mit einem Mundwasser, das fast wie sein Cocktail schmeckte, nur leider den Kick vermissen lie , und machte sich auf den Weg nach unten. Hier drinnen im Haus w rde man nie vermuten, wie strahlend sch n es drau en war, wie hei die Sonne schien. Hier war es immer kalt und seltsam still, tagaus, tagein. Hier h rte man weder etwas von den U-Bahn-Linien Hammersmith und City, die zwischen Latimer Road und Shepherd's Bush oberirdisch fuhren, noch vom Verkehr auf dem Ladbroke Grove. Nur vom Westway drangen Ger usche her ber, die allerdings nur ein Eingeweihter als Verkehrsl rm einordnen w rde. Es klang wie am Meer, als w rden sich Wellen am Ufer brechen, oder so, als ob man sich eine gro e Muschel ans Ohr hielte: ein leises unaufh rliches Rauschen.
In letzter Zeit konnte Gwendolen Kleingedrucktes manchmal nur mit Hilfe einer Lupe entziffern. Leider waren die meisten B cher, die sie lesen wollte, in einer Schriftgr e gedruckt, die man ihres Wissens als Zehn-Punkt bezeichnete. Ihre normale Brille war beispielsweise mit Papas Ausgabe von "Verfall und Untergang des R mischen Reiches" genauso berfordert wie mit ihrer derzeitigen Lekt re, einer uralten Ausgabe von George Eliots "Middlemarch" aus dem neunzehnten Jahrhundert.
Der Salon erstreckte sich, wie ihr dar berliegendes Schlafzimmer, ber die ganze Tiefe des Hauses. Nach vorne gingen zwei gro e Schiebefenster auf die Stra e hinaus, w hrend hinten Verandat ren in den Garten f hrten. Zum Lesen machte es sich Gwendolen auf einem mit braunem Cordsamt gepolsterten Sofa bequem, dessen R ckenlehne ein geschnitzter Mahagonidrache kr nte. Der Schwanz des Drachen schl ngelte sich ber das halbe Sofa bis zu einer der Armlehnen hinunter, w hrend der hoch erhobene Kopf den schwarzen Marmorkamin anfauchte. Die meisten M bel sahen ziemlich hnlich aus: geschnitzt, dick gepolstert und mit braunem, mattgr nem oder weinrotem Samt bezogen. Dazwischen standen einige St cke aus dunkel ge dertem Marmor mit vergoldeten F en herum. An der einen Wand hing in einem vergoldeten Rahmen, der ber und ber mit Bl ttern, Fr chten und Schn rkeln verziert war, ein riesiger Spiegel, der im Laufe der Zeit und infolge mangelnder Pflege tr b geworden war.
Im warmen Abendlicht standen die Verandat ren zum Garten hinaus offen, der in Gwendolens Augen immer noch so aussah wie einst: Der kurz gem hte Rasenteppich erinnerte an smaragdgr nen Samt, Blumen leuchteten ringsum in den Rabatten, und die kunstvoll geschnittenen B ume prangten im ppigen Laub. Nein, so sah sie den Garten nicht wirklich, aber so k nnte er mit wenig Aufwand wieder sein. Ein Tag Arbeit - und alles w re wieder beim Alten. F r das kniehohe Gras, die mit Unkraut berwucherten Blumenbeete und die durch totes Ge st ruinierten B ume hatte sie keinen Blick. Das gedruckte Wort war f r sie realer als eine gem tliche Einrichtung und ein gepflegtes Grundst ck.
Aber hin und wieder waren auch ihre Gedanken und Erinnerungen st rker als das Buch. Dann legte sie es weg, starrte nachdenklich die mit Spinnweben berzogene, braun gewordene Decke und die verstaubten Glasprismen am Kronleuchter an und rief sich Vergangenes in ihr Ged chtnis zur ck.
Diesen Menschen, diesen Cellini, konnte sie nicht ausstehen, aber das war nicht sonderlich wichtig. Ihre kurze Konversation mit ihm hatte in ihr schlafende Dinge geweckt: Christie und seine Morde, den Rillington Place, Dr. Reeves und Bertha. Die Geschichte musste mindestens zweiundf nfzig Jahre her sein, vielleicht sogar dreiundf nfzig. Damals war der Rillington Place ein sch biges Elendsviertel gewesen, wo die Eingangst ren der H userzeile direkt auf die Stra e hinausgingen und am Stra enende der hohe Schlot einer Eisengie erei aufragte. Bis zu ihrem Besuch dort hatte sie nicht einmal gewusst, dass es solche Orte gab. Sie hatte ein beh tetes Leben gef hrt - vorher und nachher. Bertha hatte sicher geheiratet. Das machte diese Sorte Leute doch immer. Hatte vermutlich Kinder wie die Orgelpfeifen, von denen das lteste sie ins Ungl ck gest rzt hatte. Inzwischen m ssten auch diese l ngst erwachsen sein.
Warum verhielten sich Frauen so? Das hatte sie nie begriffen. Sie war nie in Versuchung geraten, nicht einmal bei Dr. Reeves, f r den sie immer nur keusche und ehrbare Gef hle gehegt hatte, wie umgekehrt auch er. Davon war sie trotz seines sp teren Verhaltens berzeugt. Vielleicht hatte sie letztlich doch den besseren Weg gew hlt.
Was machte Christie f r Cellini derma en interessant? Es zeugte von keiner gesunden Geisteshaltung. Gwendolen nahm wieder ihr Buch zur Hand. In einem anderen Roman von George Eliot - "Adam Bede" - kam ein M dchen vor, das sich wie Bertha verhalten und ein schreckliches Ende genommen hatte. Ganz versunken las sie noch eine halbe Stunde weiter und hatte nur noch Augen f r die Buchseite vor ihr. ber ihrem Kopf lie en sich Schritte vernehmen. Sie wurde hellwach.
Im Gegensatz zu ihrer nachlassenden Sehkraft hatte Gwendolen ein ausgezeichnetes Geh r, und das nicht nur f r eine Frau ihres Alters, sondern f r alle Altersstufen. Ihre Freundin Olive Fordyce war berzeugt, Gwendolen k nne eine Fledermaus quietschen h ren. Jetzt lauschte sie angespannt. Er ging soeben die Treppe herunter. Zweifellos bildete er sich ein, sie w sste nicht, dass er die Schuhe auszog, um heimlich, still und leise kommen und gehen zu k nnen. So leicht lie sie sich nicht hinters Licht f hren. Der unterste Treppenabsatz knarrte. Dagegen war er machtlos, schoss es ihr triumphierend durch den Kopf. Sie h rte ihn durch die Eingangshalle tappen, doch dann knallte er die Haust r derma en heftig zu, dass das ganze Haus wackelte. Von der Zimmerdecke bl tterte ein wei licher Farbfetzen ab und landete auf ihrem linken Fu .
Sie trat an eines der Vorderfenster und sah ihn in sein Auto steigen, einen blauen Kleinwagen, den er ihrer Meinung nach v llig absurd auf Hochglanz trimmte. Kaum war er fort, ging sie in die K che hinaus, ffnete eine betagte, nie benutzte W scheschleuder und zog ein ehemaliges Kartoffelnetz voller Schl ssel heraus. Obwohl keiner mit einem Anh nger versehen war, wusste sie ganz genau, wie der gesuchte aussah und welche Farbe er hatte. Sie steckte den Schl ssel in die Tasche ihrer Strickjacke und machte sich auf den Weg nach oben.
Der Aufstieg dauerte lange, doch daran war sie gew hnt. Trotz ihrer mehr als achtzig Jahre war sie d nn und kr ftig und in ihrem ganzen Leben noch keinen Tag krank gewesen. Nat rlich konnte sie nicht mehr so schnell Treppen steigen wie vor f nfzig Jahren, aber das konnte man schlie lich auch nicht mehr erwarten. Mitten auf dem obersten Treppenabsatz sa Otto und zerlegte gen sslich irgendein kleines S ugetier. Sie k mmerten sich nicht umeinander. Die Abendsonne lie das Isabellafenster hell aufleuchten. Da drau en kein Wind bers Glas strich, zeichnete sich auf dem Boden ein fast perfektes Farbbild von dem M dchen und dem Basilikumtopf ab, ein rundes Mosaik aus roten, blauen, purpurfarbenen und gr nen Flecken. Bewundernd blieb Gwendolen stehen. So klar und ruhig sah man dieses Abbild wirklich selten.
Trotzdem g nnte sie sich nur eine Minute, dann steckte sie ihren Schl ssel ins Schloss und betrat Cellinis Wohnung.
berall nur wei gestrichene W nde. Wie unklug, dachte sie, da sieht man doch jeden Fleck. Und Grau war eine schrecklich kalte und harte M belfarbe. Beim Betreten seines Schlafzimmers fragte sie sich, warum er eigentlich m hsam sein Bett machte, wenn er es abends doch wieder aufdecken musste. Alles war deprimierend ordentlich. H chstwahrscheinlich litt er an dieser Krankheit, ber die sie etwas in einer Zeitung gelesen hatte, an Ordnungszwang. Die K che sah genauso schlimm aus, wie eine Musterk che auf der Sch ner-Wohnen-Ausstellung, in die sie Olive in den achtziger Jahren unbedingt hatte zerren m ssen. Ein Pl tzchen f r alles, und alles an seinem Platz. Kein P ckchen auf der Arbeitsfl che, nicht eine B chse, und nichts im Sp lbecken. Wie konnte jemand so leben?
Sie ffnete die K hlschrankt r, hinter der es herzlich wenig Essbares zu sehen gab. Nur im T rregal standen zwei Weinflaschen, und ganz vorne, im mittleren Fach, ein fast volles Glas mit einer Fl ssigkeit, die an leicht gef rbtes Wasser erinnerte. Nein, kein Wasser, ganz bestimmt nicht. Hie das, er trank? Es berraschte sie nicht sehr. Auf dem R ckweg ins Wohnzimmer blieb sie vor dem B cherregal stehen. B cher zogen sie stets magisch an, egal welche. Hier stand nicht die von ihr bevorzugte Lekt re herum. Vielleicht sollte niemand so etwas lesen. Bis auf ein Buch mit dem Titel "Sex f r M nner im einundzwanzigsten Jahrhundert" hatten alle nur ein Thema: Christie. ber vierzig Jahre hatte sie an diesen Mann kaum einen Gedanken verschwendet, und heute schien sie nicht mehr von ihm loszukommen.Dahinter verbarg sich wohl noch eine Zwangsneurose von Cellini. Je mehr ich die Menschen kenne, umso lieber sind mir die B cher. Mit diesem Zitat ihres Vaters auf den Lippen ging Gwendolen hinunter in die K che, wo sie sich ein Glas Orangensaft und ein K se-Gurken-Sandwich holte, das sie bereits fertig belegt in dem Laden am Eck gekauft hatte. Damit begab sie sich wieder zum Drachensofa und versank erneut in "Middlemarch".
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Autoren-Porträt von Ruth Rendell
Ruth Rendell, auch unter dem Pseudonym Barbara Vine bekannt, ist mit ihren zahlreichen Romanen eine der ganz großen englischen Autorinnen. Dreimal schon erhielt sie den "Edgar-Allen-Poe-Preis" und zweimal den "Golden Dagger Award" für den besten Kriminalroman des Jahres. 1997 wurde sie mit dem Grand Masters Award der Crime Writers Association of America, dem renommiertesten Krimipreis überhaupt, ausgezeichnet und darüber hinaus von Königin Elizabeth in den Adelsstand erhoben. Ruth Rendell wurde 1930 in einem Londoner Vorort geboren. Sie arbeitete zunächst als Journalistin, bis sie sich 1964 ganz auf den Schriftstellerberuf konzentrierte. Ruth Rendell starb 85-Jährig am 2. Mai 2015.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ruth Rendell
- 2007, 1, 415 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Wahser, Eva L.
- Übersetzer: Eva L. Wahser
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3764501189
- ISBN-13: 9783764501181
Rezension zu „Die Liebe eines Mörders “
"Rendell zieht mit düsterer Ironie das Netz aus unseliger Abhängigkeit und fataler Koinzidenz zu!"
Kommentar zu "Die Liebe eines Mörders"
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