Die Toten von St. Petersburg
Roman. Deutsche Erstausgabe
Russland in der dunkelsten Phase seiner Geschichte
Russland am Vorabend der Revolution. Auf der zugefrorenen Neva in St. Petersburg werden zwei Tote gefunden: ein Mann und eine Frau. Beide kommen aus dem Umfeld der Zarenfamilie. Die Polizei ermittelt...
Russland am Vorabend der Revolution. Auf der zugefrorenen Neva in St. Petersburg werden zwei Tote gefunden: ein Mann und eine Frau. Beide kommen aus dem Umfeld der Zarenfamilie. Die Polizei ermittelt...
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Produktinformationen zu „Die Toten von St. Petersburg “
Russland in der dunkelsten Phase seiner Geschichte
Russland am Vorabend der Revolution. Auf der zugefrorenen Neva in St. Petersburg werden zwei Tote gefunden: ein Mann und eine Frau. Beide kommen aus dem Umfeld der Zarenfamilie. Die Polizei ermittelt unter schwierigsten Bedingungen, denn die Ordnung in der Stadt geht immer mehr verloren. Das politische Chaos bricht aus und lässt keinen Spielraum mehr für »normale« Morde.
Russland am Vorabend der Revolution. Auf der zugefrorenen Neva in St. Petersburg werden zwei Tote gefunden: ein Mann und eine Frau. Beide kommen aus dem Umfeld der Zarenfamilie. Die Polizei ermittelt unter schwierigsten Bedingungen, denn die Ordnung in der Stadt geht immer mehr verloren. Das politische Chaos bricht aus und lässt keinen Spielraum mehr für »normale« Morde.
Klappentext zu „Die Toten von St. Petersburg “
Russland in der dunkelsten Phase seiner GeschichteRussland am Vorabend der Revolution. Auf der zugefrorenen Neva in St. Petersburg werden zwei Tote gefunden: ein Mann und eine Frau. Beide kommen aus dem Umfeld der Zarenfamilie. Die Polizei ermittelt unter schwierigsten Bedingungen, denn die Ordnung in der Stadt geht immer mehr verloren. Das politische Chaos bricht aus und lässt keinen Spielraum mehr für »normale« Morde.
Lese-Probe zu „Die Toten von St. Petersburg “
St. Petersburg (Petrograd), 1. Januar 1917 Der arktische Wind schnitt durch Ruzskys dünnen Wollmantel, seine Stiefel waren feucht und kalt, die Zehen fast taub. Aber er achtete nicht darauf und sah nur in die Ferne, vor sich nichts als Eis. Er wollte einen Fuß auf dieses Eis stellen, doch dann verlagerte er sein Gewicht wieder auf die Stufen, die von der Straße herunter zum Fluss führten. Er betrachtete seine Stiefel, konnte sie aber nicht scharf sehen. Sein Atem ging unregelmäßig. "Herrgott nochmal", flüsterte er zu sich selbst. Musste es wirklich so losgehen, kaum dass er einen Tag wieder da war?
Die Polizisten standen schon in der Mitte der gefrorenen Newa, die von einem Kreis Fackeln beleuchtet wurde. Der Schneefall hatte sich abgeschwächt und der nächtliche Himmel klarte auf. Der schmale Turm der Peter-und-Paul-Kathedrale war in bleiches Mondlicht getaucht.
Ruzsky nahm in der Gruppe Polizisten eine Bewegung wahr, dann löste sich eine dunkle, massige Gestalt und kam mit tanzender Fackel in der Hand auf ihn zu. Ruzsky sah seinem Partner entgegen.
"Wartest du auf Geleitschutz?" Pawel Miliutin stand vor ihm am Ufer, eine Hand hatte er tief in der Manteltasche vergraben. Eiskristalle hingen an den Spitzen seines dichten Schnurrbarts.
"Nein."
"Oder hast du Angst vor dem Eis?" Sie hatten schon einmal mit einer Leiche auf dem Eis zu tun gehabt. Das war schon Jahre her und auf einem See außerhalb der Stadt gewesen.
Ruzsky räusperte sich. "Nein", log er.
"Komm schon. Es ist Januar, der Fluss ist schon seit Monaten zugefroren und wenn hier irgendwer einbricht, dann ja wohl ich. Pawels rundes Gesicht sah Ruzsky missbilligend an und strahlte doch Wärme aus. Natürlich hatte er Recht.
"Ach, scheiß drauf", murmelte Ruzsky. Er schloss kurz die Augen und machte einen Schritt vor und unterdrückte die Angst, als er das Knirschen unter seinen Schuhen hörte.
"Der mutigste Ermittler der Stadt hat Angst auf dem Eis", sagte Pawel. "Nicht zu
... mehr
fassen."
Ruzsky öffnete seine Augen. Sie liefen zügig und er konnte jetzt schon wieder etwas freier atmen.
"Hab's nicht so gemeint", sagte Pawel.
"Ich weiß."
"Ich mach dir keine Vorwürfe, alter Freund. Du bist ja kaum zwölf Stunden wieder da, und was bringt uns das verdammte Eis?" Pawel nickte in Richtung des Winterpalastes. "Und dann auch noch ausgerechnet hier."
Der kalte, feuchte Wind aus dem Golf von Finnland blies ihnen ins Gesicht und sie trotteten mit gesenkten Köpfen weiter. Hier draußen auf dem Eis war die Temperatur noch einmal um mehrere Grad niedriger. Ruzsky vergrub seine Hände tief in den Taschen. Immerhin hielt die alte Schaffellmütze seines Vaters den Kopf warm.
Die Polizisten standen neben den Leichen und rauchten. Sie trugen ihre übliche Petersburger Uniform: lange Mäntel und schwarze Schaffellmützen.
Dem Ufer Richtung Winterpalast am nächsten lag eine Frau, ihr schwarzes Haar wie ein Kranz um den Kopf gebreitet. "Fackel!", verlangte Ruzsky und streckte eine Hand aus.
Einer der Polizisten machte einen Schritt vor. Er konnte kaum älter als siebzehn oder achtzehn sein, hatte eine große Nase und eng zusammenstehende, nervös wirkende Augen. Er konnte von Glück sagen, dass er nicht an der Front kämpfen muss, dachte Ruzsky. Dann nahm er die Fackel, beugte sich über die Frau und sank dann neben ihr in die Knie.
Das Opfer war jung und hübsch. Er zog einen Handschuh aus und befühlte ihre Haut an der Wange. Sie war hart gefroren. Mit dem starren Blick in den Himmel gerichtet wirkte sie fast friedlich. Offenbar hatte die Verletzung auf der Brust sie getötet, aber Ruzsky konnte nicht erkennen, ob es sich um einen Messerstich handelte. Das festzustellen musste er Sarlow überlassen.
Weil seine Hand schon fast gefühllos war, zog er den Handschuh wieder an und steckte die Hand zurück in die Manteltasche.
Ruzsky erhob sich und betrachtete den Abstand zu der zweiten Leiche. Um sie herum waren überall die Fußabdrücke der Polizisten im Schnee zu erkennen. Andere Spuren, die ihm etwas über die Ereignisse hätten erzählen können, gab es nicht mehr. "Bringt man denen heutzutage denn gar nichts mehr bei", knurrte er und deutete mit der Fackel auf den zertrampelten Tatort.
"Hauptsache, du bist wieder da." Pawel bot ihm seinen Flachmann an.
Ruzsky schüttelte den Kopf. Dann schritt er auf die zweite Leiche zu. Nur das Zischen der Fackel und das Knirschen der Stiefel übertönte den pfeifenden Wind.
Der Mann lag mit dem Gesicht nach unten in einer roten Pfütze. Er musste wie ein Springbrunnen geblutet haben.
"Dreht ihn um", sagte Ruzsky. Zwei Polizisten traten vor und wuchteten die Leiche auf den Rücken.
Ruzsky atmete tief aus.
"Heilige Mutter Gottes", stieß Pawel hervor.
Da waren Stichwunden an Brust, Hals und Gesicht, ein Stich hatte die Nase durchdrungen, ein weiterer seine Wange abgetrennt.
"Wer waren die beiden?"
"Ich weiß es nicht."
"Hast du ihre Taschen durchsucht?"
"Selbstverständlich, aber da war nur das hier." Pawel reichte Ruzsky eine Rolle Rubel-Banknoten. Kleine Scheine.
"Das ist alles? Keine Ausweise?"
"Nein."
"Visitenkarten? Briefe?"
"Nichts."
"Und du hast auch wirklich gut geschaut?"
"Natürlich hab ich das."
Ruzsky beugte sich über den Mann und schlug dessen Mantel zurück. Dann schob er seine Hand in die Innentasche, die tatsächlich leer war. Er richtete sich wieder auf und schob das Geldbündel in die eigene Manteltasche. "Was ist mit der Frau."
"Auch nichts."
"Habt ihr ein Messer gefunden?"
"Nein."
"In welchem Umkreis habt ihr gesucht?"
"Na ja, wir haben auf dich gewartet", sagte Pawel langsam.
Die Polizisten begannen wieder herumzuwandern und Ruzsky rief: "Bleibt, wo ihr seid." Er ging noch einmal zu der Toten. Sie konnte kaum älter als zwanzig gewesen sein. Elegant gekleidet war sie. Genau wie der tote Mann. Es war zwar schwer zu erkennen, doch Ruzsky glaubte nicht, dass sie mehr als eine Stichwunde aufwies. Er sah noch einmal zu dem Toten hinüber. Zwischen den beiden Leichen lagen etwa fünf Meter Abstand.
"Hast du wirklich alle ihre Taschen durchsucht?"
"Sogar zweimal."
"Dann schaffen wir sie erst mal weg", sagte Ruzsky mehr zu sich selbst. Er wollte nicht nochmal seine Handschuhe ausziehen.
Er blickte auf und sah die Turmspitze der Admiralität auf der Palastseite des Ufers. In der Ferne glänzte die goldene Kuppel der Isaaks-Kathedrale. Die blau-weiße Fassade des Winterpalastes lag direkt vor ihnen, kaum fünfzig Meter entfernt. Pawel folgte seinem Blick.
"Vielleicht hat einer der Bediensteten etwas beobachtet", sagte Ruzsky.
"Nicht, wenn sie in der Nacht ermordet wurden."
"Da sollten wir jedenfalls gleich mit unseren Erkundigungen anfangen."
"Aber sicher. Wir wecken einfach den Zaren und fragen ihn."
Ruzsky war nicht nach Scherzen zumute. Und er wusste so gut wie Pawel, dass der Zar schon seit Jahren keine Nacht mehr im Winterpalast verbracht hatte. Jedenfalls nicht seit Beginn des Krieges.
Ruzsky hob die Fackel höher. "Sie sollen sich nicht von der Stelle rühren, Pawel." Er ging langsam in eine Richtung und fand schließlich auf der dünnen Schneedecke die Fußspuren, nach denen er gesucht hatte. Er untersuchte sie und kehrte zu den Leichen zurück, um ihre Schuhe mit Form und Größe der Abdrücke zu vergleichen. So fand er außerhalb des zertrampelten Leichenfundorts recht schnell den Pfad, den die Toten auf dem Eis genommen hatten. Sie waren eng zusammengeblieben, vielleicht sogar Hand in Hand gelaufen. Er folgte ihrer Spur für etwa zwanzig Meter, dann blieb er stehen, drehte sich um und blickte auf den Tatort zurück. Pawel und die Polizisten beobachteten ihn.
Er drehte sich um neunzig Grad, hielt die hölzerne Ölfa- ckel vor sich und stiefelte in einem weiten Bogen über jungfräulichen Schnee um den Tatort herum. Er hatte erwartet, irgendwo auf weitere Fußspuren zu stoßen - die der Mörder -, aber der Schnee war unberührt.
Also ging Ruzsky zu dem ersten Pfad zurück und kniete sich davor. Er betrachtete die Spuren und hielt die Fackel so nah über dem Boden, dass es zischte. Er hob die Hand.
Pawel marschierte auf ihn zu. "Du siehst aus wie ein Jäger."
"Früher hab ich mit meinem Großvater Wölfe gejagt." Ruzsky spürte noch die Reste eines Katers von letzter Nacht.
"Es ist Neujahr", sagte Pawel, "und die jungen Liebenden machen einen romantischen Spaziergang."
"Könnte sein."
"Sie sind allein, kommen vom Ufer des Winterpalastes und gehen eng umschlungen, Arm in Arm. Sie halten einen Moment inne, betrachten die Sterne. Die Stadt sah nie schöner aus. Ein bisschen Wodka, schwarz gebrannt, alle Sorgen sind vergessen."
Ruzsky war nun ganz bei der Sache, er vergaß seine Angst vor brechendem Eis und seine vor Kälte schmerzenden Hände, Füße und Wangen.
Noch einmal folgte er den Fußspuren der Mordopfer zurück. Er achtete nicht auf Pawel, der ihm schweigend folgte. Erst als sie das Ufer schon fast erreicht hatten, fand Ruzsky, wonach er gesucht hatte.
Der Mörder war im wahrsten Sinne des Wortes in die Fußstapfen seines männlichen Opfers getreten, sowohl auf dem Weg hin als auch zurück über das Eis. Erst ein paar Schritte vor dem Ufer hatte er offenbar die Geduld verloren und die Spur verlassen.
Ruzsky langte in seine Tasche und holte ein Zigarettenetui hervor, das er Pawel hinhielt. Sie drehten sich mit dem Rücken zum Wind und steckten sich jeweils eine an, was mit den dicken Handschuhen gar nicht so leicht war. Der Rauch war angenehm warm, obwohl Ruzsky immer mehr fror.
"So eng wie die nebeneinander hergegangen sind, waren sie wahrscheinlich ein Liebespaar", sagte Pawel.
"Warum ist die Frau nicht weggerannt?"
"Was meinst du?"
"Auf den Mann ist doch zehn-, zwanzigmal eingestochen worden, in die Brust, ins Gesicht. Stand sie etwa nur daneben und hat zugesehen?"
"Vielleicht kannte sie den Angreifer?"
Ruzsky starrte über den Fluss.
"Oder es gab einen Plan und sie kannte ihn."
"Möglich", sagte Ruzsky und drehte sich zu seinem Kollegen um. "Aber hätte sie in diesem Fall nicht ahnen können, dass sie auch umgebracht werden würde?"
Pawel schüttelte den Kopf, schnippte seine Zigarette weg und lauschte auf das kurze Zischen, als sie in den Schnee fiel.
Ruzsky hob den Kopf und betrachtete eine Wolke, die sich vor den Mond schob. Ein Fotograf kam von der Peterund-Pauls-Festung herüber. Sie sahen, wie er seine Kamera aufbaute und die Aufnahme vorbereitete. Dann beugte er sich herunter, sein Kopf verschwand unter einem schwarzen Tuch und ein Blitz erhellte die Szene. Einen Augenblick später erreichte sie auch das Geräusch der dumpfen Explosion.
"Gab es irgendwelche Zeugen?", fragte Ruzsky.
"Siehst du etwa welche?"
"Dann fangen wir im Palast an."
Pawel sah nicht so aus, als wäre er gewillt, auch nur in die Nähe des Palastes zu gehen. "Ist das ein Befehl? So wie früher?"
Ruzsky hob beschämt den Kopf. "Nein, natürlich nicht. Tut mir leid."
Pawel lächelte. "So wie früher fände ich aber besser. Willkommen zurück, Herr Chefinspektor."
Ruzsky sah in das aufmunternde Gesicht seines Freundes und versuchte das Lächeln zu erwidern, aber seine vor Kälte erstarrten Gesichtsmuskeln gehorchten ihm nicht mehr. Er nahm Notizbuch und Stift aus der Manteltasche, reichte dann Pawel die Fackel und beugte sich zu der Spur des Mörders hinunter. Etwas zitternd zog er die Linie des Abdrucks nach, der der Treppe am nächsten war, und stellte seine Stiefel schließlich daneben. "Ungefähr meine Größe."
"Warum ist er nicht zur Strelka rübergegangen?"
"Wer?"
"Der Mörder." Pawel deutete zum Winterpalast. "Hier gibt es Wachen, und auf der Straße ist viel Verkehr. Drüben auf der Vasilevsky-Insel hätte ihn sicher niemand gesehen."
Ruzsky sagte nichts. Gedankenverloren starrte er auf die Gruppe von Menschen, die immer noch um die Leichen herum auf dem Eis stand.
"Ach, bevor ich's vergesse: ein frohes neues Jahr."
"Ja", sagte Ruzsky, "so ungefähr."
2 Sie kletterten das Ufer hoch und näherten sich dem Eingang zum Winterpalast des Zaren.
Ruzsky trat schließlich vor und klopfte an das gigantische grüne Tor. Da es keine Antwort gab, kletterte er auf einen steinernen Vorsprung, um durch das trübe Fenster rechts neben dem Eingang zu spähen.
"Pass auf, sonst erschießen sie dich noch", sagte Pawel.
Die Eingangshalle schien beleuchtet und nicht sonderlich gut bewacht. Es war allgemein bekannt, dass die Zarenfamilie sich lieber auf dem Land in Zarskoje Selo aufhielt als in der Stadt.
Ruzsky klopfte noch einmal nachdrücklich und sah dann zu der Laterne hoch, die über ihm an einer Kette hing. Die Kettenglieder knarrten im Wind.
"Hier stimmt was nicht", sagte Pawel.
"Wenn jemand was gesehen hat, dann noch am ehesten die Palastwachen."
Pawel zögerte. "Gehen wir nach vorn zum Büro der Palastwache."
"Dann können wir nie mit dem sprechen, der hier hinten Dienst hatte."
Sie warteten, lauschten dem Wind. Pawel drückte sich den Hut tiefer in die Stirn. "Hier ist es wahrscheinlich noch kälter als in Tobolsk, was?"
Ruzsky erkannte Schuldbewusstsein in dem Grinsen seines Freundes. "Das ist die Feuchtigkeit", sagte er, "in Sibirien ist die Kälte trocken, wie du weißt." Er hätte seinem Freund gern das Gewissen erleichtert, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Es war Pawels Schuld gewesen, dass Ruzsky damals verbannt worden war, aber er machte ihm keine Vorwürfe deswegen, nicht im Geringsten.
Vor drei Jahren hatten sie zusammen in einem nach Pisse stinkenden Treppenhaus eines Mietshauses in der Sennaya Ploschad einen kleinen Hausverwalter verhaftet. Er hatte die zehnjährige Tochter eines armen Mieters erwürgt. Der Kerl war zwar offenbar überrascht, dass sich die Mutter des Opfers überhaupt bei den Behörden gemeldet hatte, aber seine Sorglosigkeit auf der Polizeiwache hätte sie warnen müssen.
Sie verhörten die unverschämte, schwitzende fette Kröte abwechselnd die ganze Nacht und mussten sich, so gut sie konnten, zusammenreißen, um nicht vollends die Geduld zu verlieren.
Irgendwann zwischendurch hatte Ruzsky oben im Büro zu tun, und Pawel - der Gewalt gegen Kinder persönlich nahm -, hatte die Gelegenheit genutzt und den Hausverwalter kurzerhand in eine Zelle mit anderen Schwerverbrechern gelegt. Nicht ohne diese über das Verbrechen ihres neuen Genossen aufzuklären.
Ruzsky hatte keine moralischen Einwände gegen dieses Vorgehen, aber es kam sie teuer zu stehen: Wie sich herausstellte, war der Verhaftete nicht nur Aufseher in einer Waffenfabrik in Vyborg, sondern darüber hinaus auch noch Agent im Auftrag der Geheimpolizei des Zaren, der Ochrana. Nur Stunden nachdem sie die Leiche der fetten Kröte aus der Gemeinschaftszelle geschleift hatten, waren die Männer der Ochrana in ihren bodenlangen schwarzen Mänteln im Revier eingefallen und hatten alles auf den Kopf gestellt.
Eigentlich wollte Pawel die Verantwortung für den Tod des Mannes übernehmen, aber Ruzsky erzählte ihnen, es wäre seine Idee gewesen. Zur Strafe wurde er als Chefinspektor der Polizei von Tobolsk nach Sibirien verbannt.
Ruzsky versuchte zu lächeln. Pawel wäre es damals viel schlimmer ergangen, das wussten beide. Ruzsky war der Spross einer angesehenen Adelsfamilie, und dieser gute Name sowie der Einfluss seines Vaters als Regierungsmitglied hatten mehr Gewicht als sein Ruf als schwarzes Schaf in dieser Familie. So hatte sich seine Strafe in Maßen gehalten - damals jedenfalls.
Ruzsky hörte, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. Dann schwang die Tür auf und drei Männer in der Uniform der Gelben Kürassiere schälten sich aus der Dunkelheit. Der scheinbar Älteste hatte den Abzeichen nach den Rang eines Sergeants inne, weißes Haar und einen Schnurrbart. Die beiden jüngeren Kameraden hielten Gewehre fest in ihren Händen. Hinter ihnen konnte man schemenhaft eine gewaltige Eingangshalle erkennen.
"Stadtpolizei", sagte Ruzsky. Er hatte keine Lust, ein gutes neues Jahr zu wünschen.
"Sie hätten zum Eingang auf der anderen Seite kommen sollen."
"Zwei Menschen sind auf dem zugefrorenen Fluss ermordet worden."
Daraufhin trat der Sergeant ein paar Schritte heraus, die beiden Wachsoldaten folgten ihm. So stand die kleine Gruppe zusammen und blickte hinaus zu den Fackeln auf dem Eis. "Gestern ist ein Betrunkener gleich da drüben erfroren", sagte der Sergeant und deutete auf die Straße, die am Palast vorbeiführte.
"Ich fürchte, das hier ist ernster. Die Opfer wurden erstochen."
"Vor einer Woche wurde jemand gegenüber der Admiralität erstochen."
"Es ging um eine Familienstreitigkeit", korrigierte Pawel, der den Fall kannte, "und die beteiligten Brüder leben noch."
"Hatten Sie die ganze Nacht Dienst?", fragte Ruzsky.
"Selbstverständlich." "Sind Sie aus Zarskoje Selo abkommandiert?", bohrte Ruzsky weiter.
Dort waren die Gelben Kürassiere normalerweise als offizielle Leibgarde des Zaren stationiert. Zarskoje Selo lag ungefähr eine Zugstunde von St. Petersburg entfernt.
Der Sergeant antwortete nicht.
"Gibt es noch weitere Wachen?", fragte Ruzsky.
Der Mann zuckte mit den Schultern. "Auf dem Palastplatz. Aber die machen gar nichts, bis wir sie rufen."
Ruzsky blickte am Ufer entlang zur Eremitage. "Und hier draußen ist niemand?"
"Jeweils ein Wachtposten auf jeder Seite. Aber nur bis Mitternacht, danach ist es nicht mehr nötig, weil die Läden im Erdgeschoss und im ersten Stock geschlossen werden. Wir würden es hören, wenn sich jemand daran zu schaffen machen würde." Der Sergeant schien das Gefühl zu haben, sich verteidigen zu müssen.
"Es gibt also keine Patrouillen?"
Der Sergeant errötete und Ruzsky beschloss, ihn nicht weiter zu bedrängen. Immerhin war Neujahrstag. "Wann war heute Dienstbeginn für Sie und Ihre Männer?"
"Wenn Sie uns verhören wollen, müssen Sie einen Antrag im Büro der Palastwache oder beim Chef der Wachabordnung stellen."
"Na, kommen Sie", sagte Pawel sanft, ehe Ruzsky sich über den Sergeant aufregen konnte. "Zwei Turteltäubchen sind da draußen aufgeschlitzt worden und wir wollen nur herausfinden, ob irgendjemand was gesehen hat, dann sind wir schon wieder weg."
Der Mann entspannte sich sichtlich und atmete tief aus.
"Zigarette?", fragte Pawel und hielt dem Sergeant und seinen beiden Kameraden ein kleines Blechetui hin.
Die Männer zögerten - das Rauchen im Dienst war streng verboten -, doch dann nahm sich doch jeder eine. Sie zündeten sie an und rauchten schweigend wie Verschwörer.
Dabei schaute der Sergeant zu den Männern bei den Leichen auf dem Fluss hinüber. Hier im Schutz des großen Vorbaus war es nicht ganz so kalt wie auf dem Eis. "Wir haben um Mitternacht unseren Dienst angetreten", sagte er schließlich. "Ich mache meine Runde immer am Ufer entlang und schaue nach Betrunkenen. Nach ungefähr einer Stunde war ich mit meiner Patrouille fertig und habe das Tor hinter mir geschlossen."
"Und danach sind Sie hier in der Eingangshalle geblieben?"
"Außer wir überprüfen periodisch die Räume, aber die Läden sind ja überall sonst geschlossen."
"Sie haben also nichts gesehen oder gehört?"
Der Sergeant und die Männer schüttelten ihre Köpfe. Ruzsky glaubte ihnen. Wahrscheinlich hatten sie Karten gespielt, während das neue Jahr anbrach. Das und die Tatsache, dass sie Zigaretten angenommen hatten, waren Zeichen der neuen Zeit, dachte er bei sich. Ob sie an der Front gewesen waren? Der Sergeant bestimmt, aber die anderen sahen zu jung dafür aus.
"Als Sie gegen eins nochmal herausgekommen sind, haben Sie auch niemanden gesehen?"
"Bei der Admiralität standen ein paar Leute herum. Ich hatte den Eindruck, dass sie gerade den Fluss überquert hatten und auf dem Heimweg waren. Danach war es ruhig. Wenn wir irgendwen gehört hätten, wären wir eingeschritten. Herumlungern am Palast ist verboten."
"Hätte vielleicht ein Diener etwas aus einem Fenster der oberen Stockwerke sehen können?"
"Auf dieser Seite sind hauptsächlich die Prunkräume. Ganz oben auch noch Schlafzimmer der Familie, aber von denen wird zurzeit keines benutzt." Er deutete zu der Gruppe Menschen auf dem Eis. "Außerdem ist es ziemlich weit draußen."
"Aber in der klaren Nacht gut zu sehen."
"Stimmt." Er machte ein entschuldigendes Gesicht. "Sie können ja später mit dem Chef der Dienerschaft sprechen. Er wird Ihnen sicher sagen, ob und wann sich jemand in den oberen Räumen aufgehalten hat. Ich kann Ihnen da leider nicht helfen."
Daraufhin drehte sich der Sergeant um und zog sich mit seinen Leuten zurück. Das Tor schlug zu und es war wieder still bis auf das leise Quietschen der Lampenkette über ihnen. Am Rande des Flusses stand jetzt eine Ambulanz und zwei Männer trugen eine Bahre auf das Eis.
"Wirklich ein komischer Ort für einen Mord", sagte Pawel. "Gerade um diese Zeit."
Ruzsky blickte über seine Schulter. Hier waren sie nur wenige Minuten von der Wohnung seiner Eltern entfernt, wo sein Sohn Michael sicher gerade schlief, eingekuschelt in eine warme Decke mit seinem Teddybär im Arm. "Wir sollten nach dem Messer suchen", sagte er und ging wieder zum Rand des Eises hinunter.
Als er die unterste Stufe der Ufertreppe erreicht hatte, hörte er das Geräusch einer Autotür, die zugeschlagen wurde. Er drehte sich um und sah eine große schwarze Limousine, der gerade zwei Männer mit Filzhüten entstiegen waren. Die beiden lehnten sich über die Mauer und beobachteten die Szene auf dem Fluss.
"Die Ochrana?", fragte Ruzsky leise.
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Pawel und er wussten nur zu genau, dass dies Männer von Wasiljew sein mussten. Die plötzliche Spannung in Pawels Körperhaltung war beinahe greifbar.
"Was machen die hier?", fragte Ruzsky.
Pawel antwortete nicht. Er starrte die Männer an und gab sich Mühe, keine Angst zu zeigen.
Die beiden Männer mit Filzhüten schlenderten zu ihrem Wagen zurück, stiegen ein und verschwanden, wie sie gekommen waren. Pawel und Ruzsky sahen der schwarzen Limousine nach, die am Ende der Uferstraße nach links auf die Brücke in Richtung Peter-und-Pauls-Festung fuhr.
3 Ruzsky hatte keine Lust, sich noch einmal auf das Eis zu begeben, also gab er Pawel Anweisungen und beobachtete vom Ufer aus, wie die Männer zum Suchen ausschwärmten. Das Gebiet war groß, deshalb beeilten sie sich. Aus der Entfernung sahen sie aus wie ein Rudel Jagdhunde, das Witterung aufnahm. Vielleicht wollten sie einfach nur möglichst schnell weg von dort. Der Wind hatte etwas nachgelassen, aber es war immer noch schneidend kalt. Im schwachen Licht wirkte die Luft fast neblig, so dass Ruzsky die Spitze der Kirche auf der gegenüberliegenden Flussseite kaum erkennen konnte. Die schlechte Sicht würde die Suche kaum leichter machen.
Ruzsky öffnete seine Augen. Sie liefen zügig und er konnte jetzt schon wieder etwas freier atmen.
"Hab's nicht so gemeint", sagte Pawel.
"Ich weiß."
"Ich mach dir keine Vorwürfe, alter Freund. Du bist ja kaum zwölf Stunden wieder da, und was bringt uns das verdammte Eis?" Pawel nickte in Richtung des Winterpalastes. "Und dann auch noch ausgerechnet hier."
Der kalte, feuchte Wind aus dem Golf von Finnland blies ihnen ins Gesicht und sie trotteten mit gesenkten Köpfen weiter. Hier draußen auf dem Eis war die Temperatur noch einmal um mehrere Grad niedriger. Ruzsky vergrub seine Hände tief in den Taschen. Immerhin hielt die alte Schaffellmütze seines Vaters den Kopf warm.
Die Polizisten standen neben den Leichen und rauchten. Sie trugen ihre übliche Petersburger Uniform: lange Mäntel und schwarze Schaffellmützen.
Dem Ufer Richtung Winterpalast am nächsten lag eine Frau, ihr schwarzes Haar wie ein Kranz um den Kopf gebreitet. "Fackel!", verlangte Ruzsky und streckte eine Hand aus.
Einer der Polizisten machte einen Schritt vor. Er konnte kaum älter als siebzehn oder achtzehn sein, hatte eine große Nase und eng zusammenstehende, nervös wirkende Augen. Er konnte von Glück sagen, dass er nicht an der Front kämpfen muss, dachte Ruzsky. Dann nahm er die Fackel, beugte sich über die Frau und sank dann neben ihr in die Knie.
Das Opfer war jung und hübsch. Er zog einen Handschuh aus und befühlte ihre Haut an der Wange. Sie war hart gefroren. Mit dem starren Blick in den Himmel gerichtet wirkte sie fast friedlich. Offenbar hatte die Verletzung auf der Brust sie getötet, aber Ruzsky konnte nicht erkennen, ob es sich um einen Messerstich handelte. Das festzustellen musste er Sarlow überlassen.
Weil seine Hand schon fast gefühllos war, zog er den Handschuh wieder an und steckte die Hand zurück in die Manteltasche.
Ruzsky erhob sich und betrachtete den Abstand zu der zweiten Leiche. Um sie herum waren überall die Fußabdrücke der Polizisten im Schnee zu erkennen. Andere Spuren, die ihm etwas über die Ereignisse hätten erzählen können, gab es nicht mehr. "Bringt man denen heutzutage denn gar nichts mehr bei", knurrte er und deutete mit der Fackel auf den zertrampelten Tatort.
"Hauptsache, du bist wieder da." Pawel bot ihm seinen Flachmann an.
Ruzsky schüttelte den Kopf. Dann schritt er auf die zweite Leiche zu. Nur das Zischen der Fackel und das Knirschen der Stiefel übertönte den pfeifenden Wind.
Der Mann lag mit dem Gesicht nach unten in einer roten Pfütze. Er musste wie ein Springbrunnen geblutet haben.
"Dreht ihn um", sagte Ruzsky. Zwei Polizisten traten vor und wuchteten die Leiche auf den Rücken.
Ruzsky atmete tief aus.
"Heilige Mutter Gottes", stieß Pawel hervor.
Da waren Stichwunden an Brust, Hals und Gesicht, ein Stich hatte die Nase durchdrungen, ein weiterer seine Wange abgetrennt.
"Wer waren die beiden?"
"Ich weiß es nicht."
"Hast du ihre Taschen durchsucht?"
"Selbstverständlich, aber da war nur das hier." Pawel reichte Ruzsky eine Rolle Rubel-Banknoten. Kleine Scheine.
"Das ist alles? Keine Ausweise?"
"Nein."
"Visitenkarten? Briefe?"
"Nichts."
"Und du hast auch wirklich gut geschaut?"
"Natürlich hab ich das."
Ruzsky beugte sich über den Mann und schlug dessen Mantel zurück. Dann schob er seine Hand in die Innentasche, die tatsächlich leer war. Er richtete sich wieder auf und schob das Geldbündel in die eigene Manteltasche. "Was ist mit der Frau."
"Auch nichts."
"Habt ihr ein Messer gefunden?"
"Nein."
"In welchem Umkreis habt ihr gesucht?"
"Na ja, wir haben auf dich gewartet", sagte Pawel langsam.
Die Polizisten begannen wieder herumzuwandern und Ruzsky rief: "Bleibt, wo ihr seid." Er ging noch einmal zu der Toten. Sie konnte kaum älter als zwanzig gewesen sein. Elegant gekleidet war sie. Genau wie der tote Mann. Es war zwar schwer zu erkennen, doch Ruzsky glaubte nicht, dass sie mehr als eine Stichwunde aufwies. Er sah noch einmal zu dem Toten hinüber. Zwischen den beiden Leichen lagen etwa fünf Meter Abstand.
"Hast du wirklich alle ihre Taschen durchsucht?"
"Sogar zweimal."
"Dann schaffen wir sie erst mal weg", sagte Ruzsky mehr zu sich selbst. Er wollte nicht nochmal seine Handschuhe ausziehen.
Er blickte auf und sah die Turmspitze der Admiralität auf der Palastseite des Ufers. In der Ferne glänzte die goldene Kuppel der Isaaks-Kathedrale. Die blau-weiße Fassade des Winterpalastes lag direkt vor ihnen, kaum fünfzig Meter entfernt. Pawel folgte seinem Blick.
"Vielleicht hat einer der Bediensteten etwas beobachtet", sagte Ruzsky.
"Nicht, wenn sie in der Nacht ermordet wurden."
"Da sollten wir jedenfalls gleich mit unseren Erkundigungen anfangen."
"Aber sicher. Wir wecken einfach den Zaren und fragen ihn."
Ruzsky war nicht nach Scherzen zumute. Und er wusste so gut wie Pawel, dass der Zar schon seit Jahren keine Nacht mehr im Winterpalast verbracht hatte. Jedenfalls nicht seit Beginn des Krieges.
Ruzsky hob die Fackel höher. "Sie sollen sich nicht von der Stelle rühren, Pawel." Er ging langsam in eine Richtung und fand schließlich auf der dünnen Schneedecke die Fußspuren, nach denen er gesucht hatte. Er untersuchte sie und kehrte zu den Leichen zurück, um ihre Schuhe mit Form und Größe der Abdrücke zu vergleichen. So fand er außerhalb des zertrampelten Leichenfundorts recht schnell den Pfad, den die Toten auf dem Eis genommen hatten. Sie waren eng zusammengeblieben, vielleicht sogar Hand in Hand gelaufen. Er folgte ihrer Spur für etwa zwanzig Meter, dann blieb er stehen, drehte sich um und blickte auf den Tatort zurück. Pawel und die Polizisten beobachteten ihn.
Er drehte sich um neunzig Grad, hielt die hölzerne Ölfa- ckel vor sich und stiefelte in einem weiten Bogen über jungfräulichen Schnee um den Tatort herum. Er hatte erwartet, irgendwo auf weitere Fußspuren zu stoßen - die der Mörder -, aber der Schnee war unberührt.
Also ging Ruzsky zu dem ersten Pfad zurück und kniete sich davor. Er betrachtete die Spuren und hielt die Fackel so nah über dem Boden, dass es zischte. Er hob die Hand.
Pawel marschierte auf ihn zu. "Du siehst aus wie ein Jäger."
"Früher hab ich mit meinem Großvater Wölfe gejagt." Ruzsky spürte noch die Reste eines Katers von letzter Nacht.
"Es ist Neujahr", sagte Pawel, "und die jungen Liebenden machen einen romantischen Spaziergang."
"Könnte sein."
"Sie sind allein, kommen vom Ufer des Winterpalastes und gehen eng umschlungen, Arm in Arm. Sie halten einen Moment inne, betrachten die Sterne. Die Stadt sah nie schöner aus. Ein bisschen Wodka, schwarz gebrannt, alle Sorgen sind vergessen."
Ruzsky war nun ganz bei der Sache, er vergaß seine Angst vor brechendem Eis und seine vor Kälte schmerzenden Hände, Füße und Wangen.
Noch einmal folgte er den Fußspuren der Mordopfer zurück. Er achtete nicht auf Pawel, der ihm schweigend folgte. Erst als sie das Ufer schon fast erreicht hatten, fand Ruzsky, wonach er gesucht hatte.
Der Mörder war im wahrsten Sinne des Wortes in die Fußstapfen seines männlichen Opfers getreten, sowohl auf dem Weg hin als auch zurück über das Eis. Erst ein paar Schritte vor dem Ufer hatte er offenbar die Geduld verloren und die Spur verlassen.
Ruzsky langte in seine Tasche und holte ein Zigarettenetui hervor, das er Pawel hinhielt. Sie drehten sich mit dem Rücken zum Wind und steckten sich jeweils eine an, was mit den dicken Handschuhen gar nicht so leicht war. Der Rauch war angenehm warm, obwohl Ruzsky immer mehr fror.
"So eng wie die nebeneinander hergegangen sind, waren sie wahrscheinlich ein Liebespaar", sagte Pawel.
"Warum ist die Frau nicht weggerannt?"
"Was meinst du?"
"Auf den Mann ist doch zehn-, zwanzigmal eingestochen worden, in die Brust, ins Gesicht. Stand sie etwa nur daneben und hat zugesehen?"
"Vielleicht kannte sie den Angreifer?"
Ruzsky starrte über den Fluss.
"Oder es gab einen Plan und sie kannte ihn."
"Möglich", sagte Ruzsky und drehte sich zu seinem Kollegen um. "Aber hätte sie in diesem Fall nicht ahnen können, dass sie auch umgebracht werden würde?"
Pawel schüttelte den Kopf, schnippte seine Zigarette weg und lauschte auf das kurze Zischen, als sie in den Schnee fiel.
Ruzsky hob den Kopf und betrachtete eine Wolke, die sich vor den Mond schob. Ein Fotograf kam von der Peterund-Pauls-Festung herüber. Sie sahen, wie er seine Kamera aufbaute und die Aufnahme vorbereitete. Dann beugte er sich herunter, sein Kopf verschwand unter einem schwarzen Tuch und ein Blitz erhellte die Szene. Einen Augenblick später erreichte sie auch das Geräusch der dumpfen Explosion.
"Gab es irgendwelche Zeugen?", fragte Ruzsky.
"Siehst du etwa welche?"
"Dann fangen wir im Palast an."
Pawel sah nicht so aus, als wäre er gewillt, auch nur in die Nähe des Palastes zu gehen. "Ist das ein Befehl? So wie früher?"
Ruzsky hob beschämt den Kopf. "Nein, natürlich nicht. Tut mir leid."
Pawel lächelte. "So wie früher fände ich aber besser. Willkommen zurück, Herr Chefinspektor."
Ruzsky sah in das aufmunternde Gesicht seines Freundes und versuchte das Lächeln zu erwidern, aber seine vor Kälte erstarrten Gesichtsmuskeln gehorchten ihm nicht mehr. Er nahm Notizbuch und Stift aus der Manteltasche, reichte dann Pawel die Fackel und beugte sich zu der Spur des Mörders hinunter. Etwas zitternd zog er die Linie des Abdrucks nach, der der Treppe am nächsten war, und stellte seine Stiefel schließlich daneben. "Ungefähr meine Größe."
"Warum ist er nicht zur Strelka rübergegangen?"
"Wer?"
"Der Mörder." Pawel deutete zum Winterpalast. "Hier gibt es Wachen, und auf der Straße ist viel Verkehr. Drüben auf der Vasilevsky-Insel hätte ihn sicher niemand gesehen."
Ruzsky sagte nichts. Gedankenverloren starrte er auf die Gruppe von Menschen, die immer noch um die Leichen herum auf dem Eis stand.
"Ach, bevor ich's vergesse: ein frohes neues Jahr."
"Ja", sagte Ruzsky, "so ungefähr."
2 Sie kletterten das Ufer hoch und näherten sich dem Eingang zum Winterpalast des Zaren.
Ruzsky trat schließlich vor und klopfte an das gigantische grüne Tor. Da es keine Antwort gab, kletterte er auf einen steinernen Vorsprung, um durch das trübe Fenster rechts neben dem Eingang zu spähen.
"Pass auf, sonst erschießen sie dich noch", sagte Pawel.
Die Eingangshalle schien beleuchtet und nicht sonderlich gut bewacht. Es war allgemein bekannt, dass die Zarenfamilie sich lieber auf dem Land in Zarskoje Selo aufhielt als in der Stadt.
Ruzsky klopfte noch einmal nachdrücklich und sah dann zu der Laterne hoch, die über ihm an einer Kette hing. Die Kettenglieder knarrten im Wind.
"Hier stimmt was nicht", sagte Pawel.
"Wenn jemand was gesehen hat, dann noch am ehesten die Palastwachen."
Pawel zögerte. "Gehen wir nach vorn zum Büro der Palastwache."
"Dann können wir nie mit dem sprechen, der hier hinten Dienst hatte."
Sie warteten, lauschten dem Wind. Pawel drückte sich den Hut tiefer in die Stirn. "Hier ist es wahrscheinlich noch kälter als in Tobolsk, was?"
Ruzsky erkannte Schuldbewusstsein in dem Grinsen seines Freundes. "Das ist die Feuchtigkeit", sagte er, "in Sibirien ist die Kälte trocken, wie du weißt." Er hätte seinem Freund gern das Gewissen erleichtert, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Es war Pawels Schuld gewesen, dass Ruzsky damals verbannt worden war, aber er machte ihm keine Vorwürfe deswegen, nicht im Geringsten.
Vor drei Jahren hatten sie zusammen in einem nach Pisse stinkenden Treppenhaus eines Mietshauses in der Sennaya Ploschad einen kleinen Hausverwalter verhaftet. Er hatte die zehnjährige Tochter eines armen Mieters erwürgt. Der Kerl war zwar offenbar überrascht, dass sich die Mutter des Opfers überhaupt bei den Behörden gemeldet hatte, aber seine Sorglosigkeit auf der Polizeiwache hätte sie warnen müssen.
Sie verhörten die unverschämte, schwitzende fette Kröte abwechselnd die ganze Nacht und mussten sich, so gut sie konnten, zusammenreißen, um nicht vollends die Geduld zu verlieren.
Irgendwann zwischendurch hatte Ruzsky oben im Büro zu tun, und Pawel - der Gewalt gegen Kinder persönlich nahm -, hatte die Gelegenheit genutzt und den Hausverwalter kurzerhand in eine Zelle mit anderen Schwerverbrechern gelegt. Nicht ohne diese über das Verbrechen ihres neuen Genossen aufzuklären.
Ruzsky hatte keine moralischen Einwände gegen dieses Vorgehen, aber es kam sie teuer zu stehen: Wie sich herausstellte, war der Verhaftete nicht nur Aufseher in einer Waffenfabrik in Vyborg, sondern darüber hinaus auch noch Agent im Auftrag der Geheimpolizei des Zaren, der Ochrana. Nur Stunden nachdem sie die Leiche der fetten Kröte aus der Gemeinschaftszelle geschleift hatten, waren die Männer der Ochrana in ihren bodenlangen schwarzen Mänteln im Revier eingefallen und hatten alles auf den Kopf gestellt.
Eigentlich wollte Pawel die Verantwortung für den Tod des Mannes übernehmen, aber Ruzsky erzählte ihnen, es wäre seine Idee gewesen. Zur Strafe wurde er als Chefinspektor der Polizei von Tobolsk nach Sibirien verbannt.
Ruzsky versuchte zu lächeln. Pawel wäre es damals viel schlimmer ergangen, das wussten beide. Ruzsky war der Spross einer angesehenen Adelsfamilie, und dieser gute Name sowie der Einfluss seines Vaters als Regierungsmitglied hatten mehr Gewicht als sein Ruf als schwarzes Schaf in dieser Familie. So hatte sich seine Strafe in Maßen gehalten - damals jedenfalls.
Ruzsky hörte, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. Dann schwang die Tür auf und drei Männer in der Uniform der Gelben Kürassiere schälten sich aus der Dunkelheit. Der scheinbar Älteste hatte den Abzeichen nach den Rang eines Sergeants inne, weißes Haar und einen Schnurrbart. Die beiden jüngeren Kameraden hielten Gewehre fest in ihren Händen. Hinter ihnen konnte man schemenhaft eine gewaltige Eingangshalle erkennen.
"Stadtpolizei", sagte Ruzsky. Er hatte keine Lust, ein gutes neues Jahr zu wünschen.
"Sie hätten zum Eingang auf der anderen Seite kommen sollen."
"Zwei Menschen sind auf dem zugefrorenen Fluss ermordet worden."
Daraufhin trat der Sergeant ein paar Schritte heraus, die beiden Wachsoldaten folgten ihm. So stand die kleine Gruppe zusammen und blickte hinaus zu den Fackeln auf dem Eis. "Gestern ist ein Betrunkener gleich da drüben erfroren", sagte der Sergeant und deutete auf die Straße, die am Palast vorbeiführte.
"Ich fürchte, das hier ist ernster. Die Opfer wurden erstochen."
"Vor einer Woche wurde jemand gegenüber der Admiralität erstochen."
"Es ging um eine Familienstreitigkeit", korrigierte Pawel, der den Fall kannte, "und die beteiligten Brüder leben noch."
"Hatten Sie die ganze Nacht Dienst?", fragte Ruzsky.
"Selbstverständlich." "Sind Sie aus Zarskoje Selo abkommandiert?", bohrte Ruzsky weiter.
Dort waren die Gelben Kürassiere normalerweise als offizielle Leibgarde des Zaren stationiert. Zarskoje Selo lag ungefähr eine Zugstunde von St. Petersburg entfernt.
Der Sergeant antwortete nicht.
"Gibt es noch weitere Wachen?", fragte Ruzsky.
Der Mann zuckte mit den Schultern. "Auf dem Palastplatz. Aber die machen gar nichts, bis wir sie rufen."
Ruzsky blickte am Ufer entlang zur Eremitage. "Und hier draußen ist niemand?"
"Jeweils ein Wachtposten auf jeder Seite. Aber nur bis Mitternacht, danach ist es nicht mehr nötig, weil die Läden im Erdgeschoss und im ersten Stock geschlossen werden. Wir würden es hören, wenn sich jemand daran zu schaffen machen würde." Der Sergeant schien das Gefühl zu haben, sich verteidigen zu müssen.
"Es gibt also keine Patrouillen?"
Der Sergeant errötete und Ruzsky beschloss, ihn nicht weiter zu bedrängen. Immerhin war Neujahrstag. "Wann war heute Dienstbeginn für Sie und Ihre Männer?"
"Wenn Sie uns verhören wollen, müssen Sie einen Antrag im Büro der Palastwache oder beim Chef der Wachabordnung stellen."
"Na, kommen Sie", sagte Pawel sanft, ehe Ruzsky sich über den Sergeant aufregen konnte. "Zwei Turteltäubchen sind da draußen aufgeschlitzt worden und wir wollen nur herausfinden, ob irgendjemand was gesehen hat, dann sind wir schon wieder weg."
Der Mann entspannte sich sichtlich und atmete tief aus.
"Zigarette?", fragte Pawel und hielt dem Sergeant und seinen beiden Kameraden ein kleines Blechetui hin.
Die Männer zögerten - das Rauchen im Dienst war streng verboten -, doch dann nahm sich doch jeder eine. Sie zündeten sie an und rauchten schweigend wie Verschwörer.
Dabei schaute der Sergeant zu den Männern bei den Leichen auf dem Fluss hinüber. Hier im Schutz des großen Vorbaus war es nicht ganz so kalt wie auf dem Eis. "Wir haben um Mitternacht unseren Dienst angetreten", sagte er schließlich. "Ich mache meine Runde immer am Ufer entlang und schaue nach Betrunkenen. Nach ungefähr einer Stunde war ich mit meiner Patrouille fertig und habe das Tor hinter mir geschlossen."
"Und danach sind Sie hier in der Eingangshalle geblieben?"
"Außer wir überprüfen periodisch die Räume, aber die Läden sind ja überall sonst geschlossen."
"Sie haben also nichts gesehen oder gehört?"
Der Sergeant und die Männer schüttelten ihre Köpfe. Ruzsky glaubte ihnen. Wahrscheinlich hatten sie Karten gespielt, während das neue Jahr anbrach. Das und die Tatsache, dass sie Zigaretten angenommen hatten, waren Zeichen der neuen Zeit, dachte er bei sich. Ob sie an der Front gewesen waren? Der Sergeant bestimmt, aber die anderen sahen zu jung dafür aus.
"Als Sie gegen eins nochmal herausgekommen sind, haben Sie auch niemanden gesehen?"
"Bei der Admiralität standen ein paar Leute herum. Ich hatte den Eindruck, dass sie gerade den Fluss überquert hatten und auf dem Heimweg waren. Danach war es ruhig. Wenn wir irgendwen gehört hätten, wären wir eingeschritten. Herumlungern am Palast ist verboten."
"Hätte vielleicht ein Diener etwas aus einem Fenster der oberen Stockwerke sehen können?"
"Auf dieser Seite sind hauptsächlich die Prunkräume. Ganz oben auch noch Schlafzimmer der Familie, aber von denen wird zurzeit keines benutzt." Er deutete zu der Gruppe Menschen auf dem Eis. "Außerdem ist es ziemlich weit draußen."
"Aber in der klaren Nacht gut zu sehen."
"Stimmt." Er machte ein entschuldigendes Gesicht. "Sie können ja später mit dem Chef der Dienerschaft sprechen. Er wird Ihnen sicher sagen, ob und wann sich jemand in den oberen Räumen aufgehalten hat. Ich kann Ihnen da leider nicht helfen."
Daraufhin drehte sich der Sergeant um und zog sich mit seinen Leuten zurück. Das Tor schlug zu und es war wieder still bis auf das leise Quietschen der Lampenkette über ihnen. Am Rande des Flusses stand jetzt eine Ambulanz und zwei Männer trugen eine Bahre auf das Eis.
"Wirklich ein komischer Ort für einen Mord", sagte Pawel. "Gerade um diese Zeit."
Ruzsky blickte über seine Schulter. Hier waren sie nur wenige Minuten von der Wohnung seiner Eltern entfernt, wo sein Sohn Michael sicher gerade schlief, eingekuschelt in eine warme Decke mit seinem Teddybär im Arm. "Wir sollten nach dem Messer suchen", sagte er und ging wieder zum Rand des Eises hinunter.
Als er die unterste Stufe der Ufertreppe erreicht hatte, hörte er das Geräusch einer Autotür, die zugeschlagen wurde. Er drehte sich um und sah eine große schwarze Limousine, der gerade zwei Männer mit Filzhüten entstiegen waren. Die beiden lehnten sich über die Mauer und beobachteten die Szene auf dem Fluss.
"Die Ochrana?", fragte Ruzsky leise.
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Pawel und er wussten nur zu genau, dass dies Männer von Wasiljew sein mussten. Die plötzliche Spannung in Pawels Körperhaltung war beinahe greifbar.
"Was machen die hier?", fragte Ruzsky.
Pawel antwortete nicht. Er starrte die Männer an und gab sich Mühe, keine Angst zu zeigen.
Die beiden Männer mit Filzhüten schlenderten zu ihrem Wagen zurück, stiegen ein und verschwanden, wie sie gekommen waren. Pawel und Ruzsky sahen der schwarzen Limousine nach, die am Ende der Uferstraße nach links auf die Brücke in Richtung Peter-und-Pauls-Festung fuhr.
3 Ruzsky hatte keine Lust, sich noch einmal auf das Eis zu begeben, also gab er Pawel Anweisungen und beobachtete vom Ufer aus, wie die Männer zum Suchen ausschwärmten. Das Gebiet war groß, deshalb beeilten sie sich. Aus der Entfernung sahen sie aus wie ein Rudel Jagdhunde, das Witterung aufnahm. Vielleicht wollten sie einfach nur möglichst schnell weg von dort. Der Wind hatte etwas nachgelassen, aber es war immer noch schneidend kalt. Im schwachen Licht wirkte die Luft fast neblig, so dass Ruzsky die Spitze der Kirche auf der gegenüberliegenden Flussseite kaum erkennen konnte. Die schlechte Sicht würde die Suche kaum leichter machen.
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Autoren-Porträt von Tom Bradby
Tom Bradby wurde 1967 in Malta geboren, wuchs in England auf und studierte in Schottland. Ab 1990 arbeitete er als Korrespondent für den größten englischen privaten Newssender ITV zunächst in Irland und dann in Südostasien. Während eines Berichts über Aufstände in Jakarta wurde er schwer verletzt und kam zurück nach London, wo er als Royal Correspondent beste Kontakte zum Königshaus knüpfte. Seit 2003 ist er Hauptstadt-Korrespondent in London und lebt ebenda mit seiner Frau und drei Kindern.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tom Bradby
- 2010, 543 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Henning Marchfeld
- Übersetzer: Henning Marchfeld, Isaak Biberschild
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453017277
- ISBN-13: 9783453017276
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