Feindesland / Hartmut und ich Bd.5
Hartmut und ich in Berlin, Roman
Hartmut und ich, der Philosoph und der Packer aus dem Ruhrpott, krachen gegen die krasse Realität der Hauptstadt Berlin. Die Weltverbesserer mit Haustier machen mobil gegen Überwachungsstaat, Schutzgelderpresser und Lifestyle-Ausbeuter - und...
lieferbar
versandkostenfrei
Taschenbuch
9.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Feindesland / Hartmut und ich Bd.5 “
Hartmut und ich, der Philosoph und der Packer aus dem Ruhrpott, krachen gegen die krasse Realität der Hauptstadt Berlin. Die Weltverbesserer mit Haustier machen mobil gegen Überwachungsstaat, Schutzgelderpresser und Lifestyle-Ausbeuter - und geraten zwischen alle Fronten ... »Provokant, satirisch und ein scharfes Spiegelbild der Gesellschaft.« Welt Kompakt »Schlimm, wie wahr dieses Buch ist. Schön, wie zuversichtlich mich die Tatsache macht, dass es geschrieben wurde!« Bela B. Felsenheimer »'Feindesland' ist böse, ergreifend, aber auch wirklich komisch.« RBB Radio FRITZ »Willst du Spaß haben, musst du Uschmann lesen!« Denglers Buchkritik
Klappentext zu „Feindesland / Hartmut und ich Bd.5 “
Hartmut und ich, der Philosoph und der Packer aus dem Ruhrpott, krachen gegen die krasse Realität der Hauptstadt Berlin. Die Weltverbesserer mit Haustier machen mobil gegen Überwachungsstaat, Schutzgelderpresser und Lifestyle-Ausbeuter - und geraten zwischen alle Fronten ... »Provokant, satirisch und ein scharfes Spiegelbild der Gesellschaft.« Welt Kompakt
»Schlimm, wie wahr dieses Buch ist. Schön, wie zuversichtlich mich die Tatsache macht, dass es geschrieben wurde!« Bela B. Felsenheimer
»'Feindesland' ist böse, ergreifend, aber auch wirklich komisch.« RBB Radio FRITZ
»Willst du Spaß haben, musst du Uschmann lesen!« Denglers Buchkritik
Lese-Probe zu „Feindesland / Hartmut und ich Bd.5 “
Feindesland von Oliver UschmannAusweichmanöver
... mehr
Den ersten Arbeitstag in der Agentur beende ich bedeutend früher als Hartmut und Caterina. Als bloß nach Projekten bezahlter Offiziell-gar-nicht-da-Seiender kann ich das Gebäude um 16 Uhr verlassen, während meine Lieben noch mindestens bis 20 Uhr über Hipps neuen Brei für Erwachsene grübeln. Wie lange sie genau bleiben, hängt davon ab, wann der erste Kollege Feierabend macht. Das sei das ungeschriebene Gesetz der Werbebranche, hat mir Gerd in unserem Hausmeisterkeller erklärt: Keiner geht nach Hause, bevor nicht der Erste nach Hause geht. Streng genommen führt das dazu, dass nie jemand geht, was auch häufig genug passiere. »Wie oft klingelte damals um 4 Uhr nachts mein Telefon«, erinnerte sich Gerd, »bis ich den Mädels beigebracht hatte, dass ihre Gesetze nicht für das Facilitymanagement gelten.« Bei ›Facilitymanagement‹ lachte er. Dazu lief Barry White auf seinem alten Kassettenrekorder. 4 Uhr nachts ... Ich mache mir Sorgen um meine Lieben. Ich mache mir Sorgen um uns.
Ich beschließe, mit der U-Bahn nicht direkt bis nach Hause zu fahren, sondern früher auszusteigen und mir anzusehen, wo wir eigentlich leben. Ich verlasse die U-Bahn an der Haltestelle Seestraße und klettere mit den Rentnern, Studenten, Kleinkriminellen und Müttern die dreckige Treppe hinauf aus dem Schacht. Ein Drogeriemarkt neben dem Aufgang verscheuert ein eigentlich teures Duschgel für sensationelle 99 Cent die Flasche. Anti-Hangover mit Rubbelperlen, ein Gel, das wach hält, egal, was passiert. Duschen statt schlafen. Schlafen können wir noch, wenn wir tot sind.
Ich schlurfe zur Kreuzung. Ein gelber Kasten an der Ampel klopft den Blinden den Takt. Vor dem Kinocenter Alhambra lungern junge Leute mit silbernen Panzergliedketten herum. Die Vokuhila-Frisur scheint im arabischen Umfeld wieder zu neuen Ehren zu kommen. Eine digitale Laufschrift kündigt die kommenden Filme an. Vor meinen Füßen dampft ein erst zwei Ampelphasen junger, aus drei Würsten bestehender Hundehaufen. Auf Augenhöhe schlingt sich eine große Hand um den Mast der Ampel, als wolle sie ihn würgen. Sie gehört zu dem Fahrradkurier, den wir vorgestern hinterm Reichstag getroffen haben. Seine straffen Waden bewegen sachte die Pedale hin und zurück, um das Rad im Stand auszubalancieren. Ein kleiner Hautfetzen seiner Akne wackelt, als er mich anspricht: »Wohnt ihr in diesem Viertel?«
Ich zeige nach Nordwesten, über den Kinopalast hinweg. Der Mann folgt meiner Geste mit den Augen und denkt still über unsere Überlebenschancen nach. Ich spüre, dass ihm mehr auf der Zunge liegt, doch er sagt nur: »Passt hier mit den Kneipen auf. Am besten meidet ihr sie komplett.« Er spitzt die Lippen, so dass sich seine Wangenknochen nach oben schieben. »Ja«, bekräftigt er, den Blick geradeaus, »meidet sie.« Die Ampel wird grün, er saust davon.
Ich gehe die Müllerstraße hinab, langsam, ich lasse mir Zeit. Vor dem Eingang des Urnenfriedhofs steht ein Mann und sieht stumm hinein ins Gelände, eine Hand am Gitter. Dann dreht er sich um, geht die Straße hinab an mir vorüber und hustet, ein lautes und unerbittliches Husten. Eine Bugwelle aus Schleim schiebt sich in seinem Inneren über die Bronchien und zieht Tentakeln aus rostigen Ketten hinter sich her. Ich weiche ihm aus.
Auf der anderen Straßenseite grenzen der Internetshop Net-Nex, der Call-Shop Netbox und der Gebrauchtelektronikladen NetTek direkt aneinander. In keinem der drei ist Kundschaft zu sehen. Vor dem Yildiz-Café plauschen zwei alte Männer, deren Hosenbünde zwei Nummern zu klein sind. Ich weiche einem weiteren Hundehaufen aus, einem Viermaster, noch unberührt. Ein Mann in Jeansjacke hustet knöchern. Ich weiche den Bakterien aus. Zwei Teenagermädchen hüpfen aus einem Shop, der Kunstlederhandtaschen mit Nieten für drei Euro verschleudert. Sie schnattern. Dann niesen sie. Ich beschleunige meinen Schritt. Vor der Post lehnt ein Trinker an der Wand und wippt, auf den Fersen hockend, regelmäßig vor und zurück. Als ich ihn erreiche, kippt er mir vornüber vor die Füße, fängt sich mit einer Hand ab und verflucht sich und die Welt. Ich weiche dem Trinker aus. Gegenüber verlässt ein Mann in grauer Jogginghose aus Baumwolle die Döneria mit zwei randvollgepackten Tüten Hammelfleisch in Brot. Er überquert die Straße und beeilt sich, auf den diesseitigen Bürgersteig zu kommen. Unter der Jogginghose klingeln gut sichtbar seine Glocken. Mit jedem Schritt beulen sie die graue Baumwolle aus. Mein Gott, denke ich, der Mann kauft frisches Fleisch in Brot und trägt keine Unterwäsche. Ich gehe schneller. Der Spaziergang hat wenig Spazierendes mehr. Kurz vor dem großen, beruhigend altertümlichen Gebäude des Paul Gerhardt Stifts liegt die Videothek. Ich überlege, kurz in ihr zu verschwinden und die Hüllen von Spielen und Filmen zu lesen, bis draußen mehr Ruhe herrscht, doch erstens herrscht auf der Müllerstraße nie Ruhe, und zweitens steht ein wuchtiger, käseweißer Kerl ohne Haare mit verschränkten Armen in der Tür. Er trägt ein dunkelblaues T-Shirt von Umbro. Seine Panzergliedkette baumelt nicht so locker wie bei den Arabern vor dem Alhambra, sondern quetscht sich in einen Fleischwulst seines Nackens. Vor dem Display mit den Dutzenden bedruckten Schildern der Arzt- und Therapieangebote, die der gigantische Komplex des Paul Gerhardt Stifts anbietet, bleibe ich kurz stehen und frage mich, was Psychotherapie, Akupunktur und Stressabbau wohl kosten. Ein Haufen neben meinem Schuh lenkt mich ab, nur um einen Zentimeter habe ich ihn verfehlt, das kleine Biest versucht gerade, den Rest der Strecke in unauffälligen Millimeter-Rutschern zurückzulegen, um sich doch noch unter meine Sohle zu hangeln. Ich verlasse die Müllerstraße und biege in die Barfusstraße ein. Hier ist es etwas ruhiger. Große, ehrwürdige Eschen und Kastanien rauschen über den breiten Bürgersteigen. Man kann die Vögel besser hören, da man sich von der Verkehrsader Müllerstraße entfernt. Ein hagerer Mann schiebt einen Doppelkinderwagen neben einer Frau daher und raucht dabei. Er hat oben drei und unten fünf Zähne, zahllose Furchen im Gesicht und eine handtellergroße Spinne auf dem Hals. Ihr Körper ist exakt auf den Kehlkopf tätowiert, die Beine ziehen sich über den Hals. Man weiß nicht, ob der Mann die zwei Kinder in dem Doppelbuggy selbst gezeugt hat oder ob er der Vater der Frau ist, die in einer schwarzen, glänzenden Hose von Reebok und einem tiefausgeschnittenen weißen Top neben ihm läuft. Man weiß nur, dass er nicht gesund sein kann, da auch er exakt auf meiner Höhe so zu husten beginnt, als fuhrwerke ein sadistischer Entführer mit einem Schraubenzieher an seinen Mandeln herum. Ich umgehe ihn weitläufig, muss aber schon wieder aufpassen, da sich von einem Balkon ein Schwall Wasser auf die Straße ergießt. Berlin ist ein einziges Ausweichmanöver.
Einige Meter weiter scheinen alle Läden dichtgemacht zu haben. Ein Comicladen, der mit Schlagworten wie »Manga XXL« und »ab 18« warb, nun aber einen grauen Film auf den Scheiben hat.
Das »Legastheniezentrum Berlin«, heute nur eine windschiefe Tür mit angeschimmeltem Lamellenvorhang. Die Bar, vor der ich stehe, in einem Anfall von Kreativität »Moni-Tion« genannt; wahrscheinlich weil hier mal eine Moni die Wirtin gab und man bei ihr ordentlich nachladen konnte. Die Fenster sind mit Metallrollos verrammelt, deren Schlitze mit Dreck, Staub und Spinnenkokons ausgefüllt sind, was darauf schließen lässt, dass sie lange nicht mehr geöffnet wurden. Vor der Tür liegen unaufgesammelte Gratiszeitungen. Dennoch glaube ich von drinnen Stimmen zu hören, russische Stimmen. Kehlig und streitlustig schubsen sie sich Argumente zu, dann höre ich ein Klatschen und einen Stuhl, der auf den Boden fällt. Ich schleiche zur Tür, die aus Holz und Buntglas besteht, rüttele sacht und erfolglos daran, schirme meine Augen mit den Handflächen ab und sehe in den Kneipenraum. Bar, Tische, Stühle aufgebockt, ein umgekippter alter Eimer auf dem Boden. Keine Menschen. Man hört so viele Stimmen in dieser Stadt, dass sie weiterschwätzen, wenn längst keine mehr da sind. Ich brauche Stimmfreiheit. Ich brauche Frieden.
Ich finde einen Hauch davon im Schillerpark. Auf der riesigen Wiese zwitschern die Amseln so entspannt, als wäre ihnen überhaupt nicht klar, wo sie eigentlich leben. Nichts deutet darauf hin, dass es schon so gut wie Winter ist. Ich steige die Treppen eines alten Gemäuers hinauf, das von runden Burgtürmen begrenzt wird und in dessen Mitte, aufgebockt auf ein Podest und gegossen in unverwüstliche Bronze, Friedrich Schiller steht. Die Bastion ist umgeben von Büschen, Wiesen, Wegen und Bänken. Ich atme aus, prüfe den Boden, der erträglich warm und trocken ist, lege mich ins Gras hinter ein schützendes Gestrüpp, so dass trotzdem noch ein wenig Sonne auf mich fällt, und schließe die Augen. Lasse los. Beine, Arsch, Rücken, Arme, Kiefer, Kopf.
Atme aus. Ich stelle mir vor, wie mein Körper in den Boden einsinkt. Stelle mir vor, ich läge in den Dünen oder in einem Wald in Bayern. Öffne die Augen und beobachte, wie ein Junge von vielleicht 16 Jahren sich auf die Bank unter Friedrich Schiller hockt, seinen Rucksack öffnet und eine Bong herauszieht, die er sich aus einer alten Fantaflasche gebastelt hat. Er spuckt auf den Boden unter dem deutschen Dichterfürsten und beginnt zu blubbern, als er einen älteren Bekannten die Treppe hinaufgehen sieht. Die beiden winken sich zu. Der Ältere trägt einen akkurat geschnittenen Bart und einen schlichten schwarzen Pullover zur grauen Jeans und hat sich den Kopf rasiert.
»Was geht?«, sagt der Junge und blubbert mit seiner Pulle.
Der Ältere setzt sich zu ihm. »Lass den Scheiß Mann, du rauchst das Plastik mit. Mach'n Kopf aus Metall oder Holz drauf, so ist doch schwachsinnig.«
Der 16-Jährige sagt: »Ey, Koseng, meinst du wirklich, gesundheitlich interessiert's mich? Fuck, ich werd nicht mal vierzig. Es rentiert sich nicht für mich, wenn ich nüchtern bleib.«
Der Ältere sagt: »Heute wieder 'ne Runde Selbstmitleid, Samir?«
Der Junge springt auf, seinen Gesundheitsruinierer aus Plastik in der Hand: »Das Land ist im Arsch, Mann! Ich bin schlau, Mann. Lernen, arbeiten - bringt mir doch nichts, oder was?«
»Mann, was ist los mit dir? Du bist jung, du hast 'ne Zukunft vor dir. Mach was draus, werd'n großes Tier.«
»Ich erzähl dir was von großen Tieren. Das sind die, die den Clowns die Fresse polieren und danach ihr Lobi kassieren. Das sind die, die am Staat vorbei voll am Start sind, ohne Schulabschluss Kohle verdienen und das ohne Steuern und all den Schwachsinn. Ich mach's wie die, weil's anders nicht geht. Keiner packt's von selbst, wenn Papa nicht massig Geld hat.«
»Das ist 'ne Entschuldigung, Alter. 'ne Ausrede. Ich kenne Jungs, die's geschafft haben, die früher krass waren und jetzt was reißen, aus eigener Kraft.«
Der Teenager zieht an der Bong, schaut weg, an der Statue vorbei, über die Mauern zur Amselwiese. Dass er nachdenkt, liegt auf der Hand.
Der Ältere steht auf und sagt: »Peace, Mann, ich muss jetzt gehen. Wenn's was gibt, was ich für dich tun kann: Sprich mich drauf an, du weißt, wo ich bin. Bis dann.«
Er zieht ab mit den leicht federnden Schritten von jemandem, der längst in sich ruht, aber sich noch nicht ganz abgewöhnen kann, den Polizei-in-der-Nähe-Prüfblick zu machen. Ich ziehe vorsichtig meine Füße hinter den Busch. Der Teenager sieht seinem älteren Berater nach, schüttelt den Kopf, wirft dann seine Fanta-Bong in den Mülleimer neben der Bank und klopft gegen Friedrich Schillers Oberschenkel. Er sieht an der Statue hinauf: »Fritz, alter Checker«, sagt er leicht bedröhnt, »meine Lehrerin wollte immer, dass ich deine Reime lese und was aus mir mache.« Er schnieft Schnodder hin und her und spuckt in die Platanen. »Vielleicht mach ich das mal irgendwann«, sagt er, klopft noch zweimal gegen die Beinmuskeln des Titanen und zieht ebenfalls ab, den Schritt so tief ausfedernd, wie es Jungs tun, die ihre Haltung noch finden müssen.
Auf dem Heimweg mache ich den Bogen um die Kolonie Togo, über den Nachtigalplatz und an der Grundschule vorbei zum Möwensee im Volkspark Rehberge. Das Wasser ist so schmierig, dass ein versehentlicher Sturz hinein ein Kind schnell in ein Sumpfmonster verwandeln würde, aber der Geruch und die Geräusche in diesem Stadtwald sind schön. Riecht es auf der Müllerstraße nach Kot und chinesischem Glutenessen, riecht es hier nach Baumharz und Schlick, und in den Wipfeln über dem Wasser schreien tatsächlich die Möwen. Tritt man an der Ecke des Parks wieder auf die Afrikanische Straße hinaus und läuft auf unsere Bettenburg zu, die sich den ganzen Block bis zur Transvaalstraße aufgeschichtet hat, schauert es einen. Man fragt sich, warum man in diesem Korallenriff aus Waschbeton gegenüber dem Park haust und nicht einfach in einer Hütte im Park lebt, aber dem stünden sicher zahllose Verordnungen entgegen. Ich nehme mir vor, gleich oben in der Wohnung mein 15-Minutenüber-Unbekanntes-Lesen-Synapsentraining zu absolvieren und im Internet nach Wohnrecht in Stadtparks zu suchen, als ich vor dem Eingang die Traube Jugendlicher herumlungern sehe, die uns Tag für Tag Probleme machen. Mein Herz erhöht den Taktschlag, und ich bemühe mich so sehr, ganz selbstverständlich an ihnen vorbei ins Haus zu gehen, dass ich in ihren Augen vor lauter Selbstverständlichkeit bereits so knallrot leuchten muss wie ein gegnerischer Soldat im Infrarotfernglas, das auf Körperwärme reagiert.
»Ey, salak!«, ruft ihr Anführer, ein kantiger Typ mit schwarzem Zopf, vorstehendem Oberkiefer und überheblichem Blick. Ich gehe weiter. »Ich red mit dir, Mann!«
Er steht auf und kommt von rechts auf mich zu, zwei seiner Assistenten folgen ihm wortlos im gleichmäßigen Abstand von Satelliten, die in alten Ballerspielen um das Mutterschiff kreisen. Der Rest der Gang bleibt einfach am Wegesrand hocken. Ein paar haben Spielkarten und Bierflaschen zwischen sich. Einer lässt einen Spliff rumgehen.
»Ey, ich mach dich Homo arm!«, sagt der Anführer und ist fast bei mir.
Die Tür ist noch fünf Meter entfernt. Das Blut pumpt rot durch meine Ohren. Ich beschleunige.
»Der haut ab, Mann!«, ruft einer der Schaulustigen am Boden, und ich denke mir wieder, wie unsinnig das ist. Ich will rein in mein Haus, in dem ich eine Wohnung gemietet habe, und ein 17- Jähriger bezeichnet das als unverschämte Flucht, während er auf dem Asphalt trinkend Karten spielt. Bevor ich die Tür erreiche, spüre ich einen Schuh auf meinem rechten Spann. Ehe ich begreife, dass der Schuh stehenbleibt, während ich den Fuß heben will, falle ich vornüber auf die geschlossene Haustür zu, rudere mit den Armen und kann meinen Sturz gerade noch so mit der linken Hand an dem langen Metallgriff der Tür abfangen, was dazu führt, dass ich mir die Hand abknicke und mit dem linken Knie auf den Boden aufschlage. Schmerz und Schreck nehmen mir die Luft. Um mich herum und von den Kartenspielern auf dem Weg ertönt Lachen. Sie johlen, als hätten sie einen Scherz unter Kumpels gemacht. Der Anführer reicht mir sogar die Hand zum Aufstehen. Er sagt: »Ah, komm schon, kein Thema, Mann!«
Ich verstehe. Das Beinchenstellen war der Vertrag, den man bestätigen muss, bevor man als User akzeptiert wird. Wenn ich jetzt seine Hand nehme, mache ich damit das Häkchen unter seine AGB. Sage im Grunde: »Jawohl, ich akzeptiere, dass ich nichts wert bin und dir das Recht übertrage, mich täglich vor meinem eigenen Haus herumzuschubsen und zu misshandeln, wie es dir beliebt. Denn du bist die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen.« Ich stütze mich mit der linken Hand auf meinen Oberschenkel und reiche ihm die rechte. Er lächelt. Kurz, bevor er mich hochziehen kann, schlage ich seine Hand weg.
Er ist so verdutzt, dass er mich für einen Moment ansieht wie ein Mensch. Eine Sekunde lang fällt die hautenge Folie aus Posen und Grimassen, die er sich jeden Morgen überstreift, von ihm ab. Eine Sekunde lang schürt es in mir die Hoffnung, er und seine Gefährten würden jetzt wirklich lachen, sich ausschütten über ihre Possen und mich zu einem Kartenspiel einladen, das nicht den Charakter eines Gangster-Erkennungszeichens, sondern eines Sonntagnachmittags auf dem Campingplatz hat. Doch diese Sekunde geht schnell vorüber. Als sie vorbei ist, spüre ich seine Hände an meiner Kehle und meinen Hinterkopf am Glas der Haustür. Mit eisernem Griff stößt er ihn dagegen, meinen Kehlkopf fest umschlossen, während seine Lakaien mich an den Armen festhalten.
Er brüllt. »Bist du ein Opfer, oder was? Hä? Labunya? Bist du ein Opfer?«
Ich verstehe ihn nicht. Was ich gerade getan habe, belegt eigentlich, dass ich gerade das nicht bin. Ich versuche, mit meinen Armen gegen die Lakaien zu wirken und mich freizuwinden. Ich habe kräftige Arme, immer noch. Ich unterdrücke Tränen, die nicht wegen der Schmerzen entstehen, sondern wegen der Demütigung. Ihr schmierigen Ratten, denke ich. Ihr feigen, schmierigen Ratten. Was man halt so denkt, wenn man einzuschätzen versucht, ob wirklich hier, auf dem dreckigen Boden vor der Glastür einer Weddinger Mietskaserne, alles zu Ende gehen wird.
»Özgür!«, höre ich eine Männerstimme, als mich schon Schwindel überkommt. »Lass den Mann in Ruhe.«
Der Anführer, der also Özgür heißt, lässt prompt von meinem Hals ab. Seine Lakaien lassen meine Arme los und entfernen sich. Schnell huschen sie vorbei an dem großen, in Jeans und ein beiges Polohemd gekleideten Mann, der nun mit dem Finger auf Özgür zeigt und sagt: »Wenn ich das noch einmal sehe, sage ich Alexej Bescheid, hörst du?«
Özgür winkt ab, eine Schnute ziehend, auf die Udo Lindenberg stolz wäre: »Was redest du da, Mann? Der Scheißkerl kann mich mal!«
Er hat Angst vor Alexej. Ich höre das, denn wo seine Stimme sonst am Ende eines Satzes noch einmal an Lautstärke zunimmt, fällt sein Satz jetzt in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Der große Mann sieht ihn an wie ein Lehrer, der nichts zu sagen braucht, und Özgür gesellt sich mit seinen Lakaien wieder zu den Kartenspielern.
»Roland«, sagt mein Retter, reicht mir die Hand und zieht mich hoch. Er hat eine sehr spitze Nase. Nasenbein und Nasenflügel sind breit, aber die Spitze ist bedeutend länger als bei anderen Menschen. Sie stößt in den Luftraum vor ihm wie ein Keil.
»Danke«, sage ich.
»Eine Selbstverständlichkeit unter Nachbarn«, sagt er. »Ich wohne 818, zwischen Cevat und euch. Wir haben uns noch nicht vorgestellt.«
»Nein«, sage ich und gehe mit ihm zum Fahrstuhl.
Drei Etagen lang schweigen wir, dann frage ich: »Wer ist dieser Alexej, dass du ihnen mit seinem Namen solche Angst machen kannst?«
Roland schaut auf die Spiegelung seiner Nase im Silber der Aufzugtür und grinst: »Der Vermieter.«
»Der Vermieter ist die Wohnungsbaugesellschaft.«
»Der echte Vermieter.« Er grinst so breit, dass seine Nase sich ihrer eigenen Spiegelung entgegenstreckt. Es ist dieses Grinsen, das auch Computerkenner zeigen, bevor sie nach fünf Minuten endlich damit rausrücken, was man wieder alles falsch gemacht hat und in der Bedienung seines Betriebssystems noch nicht weiß. Mir kommt ein Gedanke.
»Nein«, sage ich, »wir reden hier vom Russen?«
Rolands Nasenspitze berührt bereits ihr Gegenstück im Spiegel, aber nicht, weil er lügt. Er dreht den Kopf. Die Nase wird in der Aufzugtür lang gezogen. So wie ein Stab, den man ins Wasser hält, sich durch die Lichtbrechung krümmt.
»Du hast einen Draht zu den Russen?«
»Was heißt hier Draht? Ich zahle ihnen Geld. Wie alle hier. Es gehört zum Service, sie dafür ab und zu rufen zu dürfen. Als Privatpolizei. Mein Anruf hat besonderes Gewicht, weil ich schon länger hier wohne.«
Der Aufzug kommt an. Die Türen öffnen sich. Wir gehen zu unseren Wohnungen, mit den Schlüsseln klimpernd.
»Cevat sagt, die Russen würden die Türken überhaupt erst aufstacheln, damit sie unliebsamen Bewohnern Ärger machen.«
»Wirken die so, als müsse man sie erst aufstacheln? Als würden sie sonst meditierend unten auf dem Pflaster sitzen und frische Räucherstäbchen verteilen?«
Ich muss lachen. Mein Hals schmerzt. Meine Arme auch.
Roland steckt seinen Schlüssel in die Tür neben unserer. »Cevat ist ein guter Kerl, wirklich. Ein richtig anständiger Mensch. Er erträgt es nicht, dass das auf viele seiner Landsleute nicht zutrifft. Wahrscheinlich stellt er es deswegen so dar, als müssten sie erst noch aufgestachelt werden. Aber glaub mir, es gibt hier keine Doppelagenten.«
Ich stecke ebenfalls meinen Schlüssel in die Tür. Von innen kratzt Yannick bereits dagegen, erfreut, den Papa nach Hause kommen zu hören. Er miaut.
»Ein Kater?«, fragt Roland.
»Ja«, sage ich, »Yannick. Kampfschmuser, Mampfmaschine, Schokopuddingschlecker. Rettet unser Leben.«
»Süß«, sagt Roland. »Ich hatte mal einen Hund. Paul Anka. So hab ich ihn genannt. Toller Kerl.« Er seufzt, er schluckt, er schabt mit dem Daumennagel auf dem Schlüssel, der quer in seiner Tür steckt. »Die Russen haben ihn mir gestohlen.«
»Was haben die???«
»Ausgesetzt? Verschenkt? Getötet? Ich weiß es nicht. Ich wollte sie anzeigen, umbringen, alles zugleich. Dann stand ein Körbchen vor meiner Tür. Ein Welpe drin. Man kann Tiere nicht ersetzen, aber dieses kleine Ding musste ich aufnehmen. Ich kann kein Tier ins Heim bringen, egal, wie es in mein Leben getreten ist. Im Körbchen lag ein Zettel. ›Wenn du den behalten willst, zahl endlich die zweite Miete.‹ Seither mache ich das. Und habe keine Probleme mehr. Besser noch: Ich habe Ruhe vor der Haustür. Ich habe Ruhe im ganzen Viertel. Ich bin unter Protektion.«
»Aber das ist doch ...«
»Es ist schrecklich, ja«, sagt Roland. »Es schlägt eine Kerbe in den Stolz eines Mannes, die sich nicht kitten lässt. Aber lieber eine Kerbe in mir als ein Messer in Lupo.«
»In Lupo?«
»So heißt der neue. Was heißt neu, das ist ja jetzt auch schon fünf Jahre her. Ich wollte ihn nicht mehr nach einem Sänger benennen. Schien mir kein gutes Omen. Zweite Miete zahlen, dem Hund einen Hundenamen geben, sicher leben, so dachte ich mir das.«
Ich stehe still vor unserer Tür, den Schlüssel im Blick, blaue Flecke am Hals.
»Habt ihr da drin eine Stereoanlage?«, fragt Roland. »Eine Spielkonsole? Einen Fernseher?«
Ich nicke. »Klar.«
Er vergisst seinen Schlüssel und dreht sich zu mir, sich in seinen Rahmen lehnend: »Siehst du, und das wurde alles in China gefertigt. Wir wissen, was in China abläuft. Mit den Menschenrechten. Tibet. Der Umwelt. Trotzdem zahlen wir ihnen Geld, und das nicht zu knapp. Und wofür? Um uns zu schützen? Um Lupo zu retten? Nein, nur um ein bisschen Spaß und Zerstreuung zu haben! So musst du das mal betrachten.«
Ich betrachte es so, während ich auf unsere Tür starre. Yannick kratzt sich drinnen die Pfoten wund. Er muss denken: Was machst du denn da draußen, du Schmock? Reinkommen oder nicht reinkommen, aber doch bitte nicht so'n Rumeiern!
»Jedenfalls noch mal danke«, sage ich.
»Du weißt, wo du mich findest«, sagt Roland, dreht den Schlüssel, öffnet seine Tür und geht hinein.
Zehn Minuten später liege ich in der Wanne, um zu verdrängen, was hier passiert. Das Bad ist sehr klein und grenzt in dieser Wohnung direkt an die Küche. Die Wanne, das Klo, eine Waschmaschine und das Waschbecken passen gerade so hinein. Dazwischen steht man eingezwängt auf der Badematte. Beleuchtung kommt nur von zwei Einbaustrahlern im Hängeschrank über dem Becken, auf dem Badewannenrand stehen Kerzen in Gläsern. Ich mische meinen »Ich bin so entspannt, ich zerfließe fast«- Mix aus den Badezusatzsorten >Nachtkerze< von Kneipp, >Gute Nacht< und >Moorbad< von Tetesept sowie >Erholung< und >Lockerung< aus der >So Zart<-Reihe. Yannick, der die letzten neuneinhalb Minuten enger an meinen Beinen geklebt hat als Fabio Cannavaro in seinen besten Spielen an denen des Gegners, stützt sich nun mit den Pfoten auf den Wannenrand und späht mit langem Hals in das Wasser, als hätte er ein solches Phänomen noch nie gesehen. Irmtraut habe ich mitsamt ihrer Styroporinsel ins Waschbecken verfrachtet. Ich schließe die Augen. Heute mal verdrängen, bitte. Einfach nur gepflegt verdrängen.
»Du meine Güte, was ist dir denn passiert?«, weckt mich Susannes Stimme fünf oder fünfzig Minuten später. Das kann ich nicht sagen, da in dem Fünffach-Bademix nicht nur der Körper, sondern auch die Zeit zerfließt. Susanne hockt sich neben die Wanne und streicht mit der Rückseite ihrer Hand zart über meinen zerschundenen Hals. Das irritiert mich ein wenig. Sorge ist ja gut und schön, aber wenn sie mich schon so streichelt, wie streichelt sie dann ihren eigenen Freund, wenn der mal vom Osmanen gewürgt wurde?
Ich erzähle ihr, was passiert ist, inklusive der Tatsachen und Halbtatsachen über unsere »zweiten Vermieter«, die wir bisher verschwiegen haben. Sie macht mir keine Vorwürfe deswegen.
»Du Ärmster«, sagt sie, »deswegen warst du wahrscheinlich so durch den Wind, dass du den Wohnungsschlüssel von außen hast stecken lassen.« Sie zeigt mir den Bund. »Ist zwar verständlich, aber wohl nicht gerade das Beste, wenn es hier so gefährlich ist, hm?«
Ich schaufele mir Badeschaum ins Gesicht, um zu verbergen, wie rot ich werde.
Sie geht in die Küche, schneidet eine orange Paprika in zwei Hälften, entfernt die Kerne und das weiße Innenleben, füllt Erdnusscreme hinein, legt sie auf einen Teller und kommt wieder zu mir. Sie setzt sich auf den Wannenrand, kaut und schaut dabei durch die Tür Richtung Küche. »Und du meinst, wir sollten auch lieber zahlen?«, fragt sie.
»Ich möchte heute Abend nicht mehr darüber sprechen«, sage ich.
»Okay«, sagt sie und kaut.
Ich patsche mit den Füßen.
»Wo sind unsere eigentlichen Lebenspartner?«, fragt sie.
»Die sind jetzt Werber«, sage ich, »und müssen daher so lange arbeiten, bis der Erste geht.«
»Das ist ein Paradoxon«, sagt Susanne, »weil dann keiner als Erster geht.«
»Ich weiß«, sage ich.
»Über das Geld müssen sie wahrscheinlich trotzdem erst später noch reden, nicht wahr?«, sagt Susanne.
»Ja«, sage ich. »Ich auch. Ich bin Assistent des Hausmeisters, aber eigentlich gar nicht da. Ich muss Rechnungen schreiben.«
Susanne hat die erste Paprikahälfte verputzt, prüft die zweite wie eine Auster und saugt dann erst mal ein wenig Erdnussbutterschmiere schlürfend aus dem organischen Gefäß. Ich schaue sie fragend an.
»Darüber möchte ich wiederum heute Abend nicht reden«, sagt Susanne.
»Okay«, sage ich.
Dann hört man wieder nur das Kauen und Planschen. »Sollen wir über meinen miesen Tag sprechen?«, fragt sie. »Bitte«, sage ich.
»Dieses Lernen für die Taxiprüfung ist Scheiße«, sagt sie. »Die Kerle im Betrieb warten nur darauf, dass ich scheitere. Weißt du, wie die hier drauf sind? Da kommt eine Frau von außerhalb und will in Berlin Taxifahrerin werden. Wo gibt's denn so was?«
»Du musst die hundert Schlüsselpunkte doch nur für die Prüfung auswendig im Kopf haben. In der Praxis danach hast du doch ein Navi. Und mit der Zeit prägst du dir alles von selbst ein.«
»Nein«, sagt sie, und ein Klumpen Erdnussbutter fliegt von ihrer Paprika in mein Badewasser und schwimmt obenauf. »Ich will diese Prüfung so ablegen, dass ich kein einziges Mal fragen, nach keinem Tipp angeln, niemals auch nur eine Sekunde zögern muss. Ich will dabei nicht ein einziges Mal falsch abbiegen. Die Kerle müssen den Eindruck bekommen, dass ich schon vier Leben reinkarniert in Berlin verbracht habe.«
»Okay«, sage ich.
»Nix okay. Wenn ich alleine übe, gucke ich an jeder roten Ampel wieder auf den Straßenatlas. Oder auf das Navi. So geht das nicht. Ich kann mir so viele Straßen nur merken, wenn ich zu jeder Ecke ein Bild im Kopf habe. Ein genaues Bild. Dazu muss ich gucken. Genau gucken. Intensiv gucken. Lange gucken. Dann rastet es ein. Wenn ich die Zeit hätte, würde ich ganz Berlin samt Umland mit dem Rad erobern, aber ich habe weder die Zeit noch ein Rad.«
Ich kämpfe kurz mit mir, weil ich aus meinem Moorbadmix nicht herauswill, sage dann aber: »Und wenn du auf dem Beifahrersitz hocken und genau gucken würdest? Nur zum Memorieren? Zum Lernen?«
»Das würdest du machen?«
Ich nicke und puste ein wenig Schaum von meinem Knie, das aus dem Wasser ragt. »Ich bin ein Offiziell-gar-nicht-da-Seiender. Ich nehme mir die Zeit. Und jetzt sofort fangen wir an!«
...
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Den ersten Arbeitstag in der Agentur beende ich bedeutend früher als Hartmut und Caterina. Als bloß nach Projekten bezahlter Offiziell-gar-nicht-da-Seiender kann ich das Gebäude um 16 Uhr verlassen, während meine Lieben noch mindestens bis 20 Uhr über Hipps neuen Brei für Erwachsene grübeln. Wie lange sie genau bleiben, hängt davon ab, wann der erste Kollege Feierabend macht. Das sei das ungeschriebene Gesetz der Werbebranche, hat mir Gerd in unserem Hausmeisterkeller erklärt: Keiner geht nach Hause, bevor nicht der Erste nach Hause geht. Streng genommen führt das dazu, dass nie jemand geht, was auch häufig genug passiere. »Wie oft klingelte damals um 4 Uhr nachts mein Telefon«, erinnerte sich Gerd, »bis ich den Mädels beigebracht hatte, dass ihre Gesetze nicht für das Facilitymanagement gelten.« Bei ›Facilitymanagement‹ lachte er. Dazu lief Barry White auf seinem alten Kassettenrekorder. 4 Uhr nachts ... Ich mache mir Sorgen um meine Lieben. Ich mache mir Sorgen um uns.
Ich beschließe, mit der U-Bahn nicht direkt bis nach Hause zu fahren, sondern früher auszusteigen und mir anzusehen, wo wir eigentlich leben. Ich verlasse die U-Bahn an der Haltestelle Seestraße und klettere mit den Rentnern, Studenten, Kleinkriminellen und Müttern die dreckige Treppe hinauf aus dem Schacht. Ein Drogeriemarkt neben dem Aufgang verscheuert ein eigentlich teures Duschgel für sensationelle 99 Cent die Flasche. Anti-Hangover mit Rubbelperlen, ein Gel, das wach hält, egal, was passiert. Duschen statt schlafen. Schlafen können wir noch, wenn wir tot sind.
Ich schlurfe zur Kreuzung. Ein gelber Kasten an der Ampel klopft den Blinden den Takt. Vor dem Kinocenter Alhambra lungern junge Leute mit silbernen Panzergliedketten herum. Die Vokuhila-Frisur scheint im arabischen Umfeld wieder zu neuen Ehren zu kommen. Eine digitale Laufschrift kündigt die kommenden Filme an. Vor meinen Füßen dampft ein erst zwei Ampelphasen junger, aus drei Würsten bestehender Hundehaufen. Auf Augenhöhe schlingt sich eine große Hand um den Mast der Ampel, als wolle sie ihn würgen. Sie gehört zu dem Fahrradkurier, den wir vorgestern hinterm Reichstag getroffen haben. Seine straffen Waden bewegen sachte die Pedale hin und zurück, um das Rad im Stand auszubalancieren. Ein kleiner Hautfetzen seiner Akne wackelt, als er mich anspricht: »Wohnt ihr in diesem Viertel?«
Ich zeige nach Nordwesten, über den Kinopalast hinweg. Der Mann folgt meiner Geste mit den Augen und denkt still über unsere Überlebenschancen nach. Ich spüre, dass ihm mehr auf der Zunge liegt, doch er sagt nur: »Passt hier mit den Kneipen auf. Am besten meidet ihr sie komplett.« Er spitzt die Lippen, so dass sich seine Wangenknochen nach oben schieben. »Ja«, bekräftigt er, den Blick geradeaus, »meidet sie.« Die Ampel wird grün, er saust davon.
Ich gehe die Müllerstraße hinab, langsam, ich lasse mir Zeit. Vor dem Eingang des Urnenfriedhofs steht ein Mann und sieht stumm hinein ins Gelände, eine Hand am Gitter. Dann dreht er sich um, geht die Straße hinab an mir vorüber und hustet, ein lautes und unerbittliches Husten. Eine Bugwelle aus Schleim schiebt sich in seinem Inneren über die Bronchien und zieht Tentakeln aus rostigen Ketten hinter sich her. Ich weiche ihm aus.
Auf der anderen Straßenseite grenzen der Internetshop Net-Nex, der Call-Shop Netbox und der Gebrauchtelektronikladen NetTek direkt aneinander. In keinem der drei ist Kundschaft zu sehen. Vor dem Yildiz-Café plauschen zwei alte Männer, deren Hosenbünde zwei Nummern zu klein sind. Ich weiche einem weiteren Hundehaufen aus, einem Viermaster, noch unberührt. Ein Mann in Jeansjacke hustet knöchern. Ich weiche den Bakterien aus. Zwei Teenagermädchen hüpfen aus einem Shop, der Kunstlederhandtaschen mit Nieten für drei Euro verschleudert. Sie schnattern. Dann niesen sie. Ich beschleunige meinen Schritt. Vor der Post lehnt ein Trinker an der Wand und wippt, auf den Fersen hockend, regelmäßig vor und zurück. Als ich ihn erreiche, kippt er mir vornüber vor die Füße, fängt sich mit einer Hand ab und verflucht sich und die Welt. Ich weiche dem Trinker aus. Gegenüber verlässt ein Mann in grauer Jogginghose aus Baumwolle die Döneria mit zwei randvollgepackten Tüten Hammelfleisch in Brot. Er überquert die Straße und beeilt sich, auf den diesseitigen Bürgersteig zu kommen. Unter der Jogginghose klingeln gut sichtbar seine Glocken. Mit jedem Schritt beulen sie die graue Baumwolle aus. Mein Gott, denke ich, der Mann kauft frisches Fleisch in Brot und trägt keine Unterwäsche. Ich gehe schneller. Der Spaziergang hat wenig Spazierendes mehr. Kurz vor dem großen, beruhigend altertümlichen Gebäude des Paul Gerhardt Stifts liegt die Videothek. Ich überlege, kurz in ihr zu verschwinden und die Hüllen von Spielen und Filmen zu lesen, bis draußen mehr Ruhe herrscht, doch erstens herrscht auf der Müllerstraße nie Ruhe, und zweitens steht ein wuchtiger, käseweißer Kerl ohne Haare mit verschränkten Armen in der Tür. Er trägt ein dunkelblaues T-Shirt von Umbro. Seine Panzergliedkette baumelt nicht so locker wie bei den Arabern vor dem Alhambra, sondern quetscht sich in einen Fleischwulst seines Nackens. Vor dem Display mit den Dutzenden bedruckten Schildern der Arzt- und Therapieangebote, die der gigantische Komplex des Paul Gerhardt Stifts anbietet, bleibe ich kurz stehen und frage mich, was Psychotherapie, Akupunktur und Stressabbau wohl kosten. Ein Haufen neben meinem Schuh lenkt mich ab, nur um einen Zentimeter habe ich ihn verfehlt, das kleine Biest versucht gerade, den Rest der Strecke in unauffälligen Millimeter-Rutschern zurückzulegen, um sich doch noch unter meine Sohle zu hangeln. Ich verlasse die Müllerstraße und biege in die Barfusstraße ein. Hier ist es etwas ruhiger. Große, ehrwürdige Eschen und Kastanien rauschen über den breiten Bürgersteigen. Man kann die Vögel besser hören, da man sich von der Verkehrsader Müllerstraße entfernt. Ein hagerer Mann schiebt einen Doppelkinderwagen neben einer Frau daher und raucht dabei. Er hat oben drei und unten fünf Zähne, zahllose Furchen im Gesicht und eine handtellergroße Spinne auf dem Hals. Ihr Körper ist exakt auf den Kehlkopf tätowiert, die Beine ziehen sich über den Hals. Man weiß nicht, ob der Mann die zwei Kinder in dem Doppelbuggy selbst gezeugt hat oder ob er der Vater der Frau ist, die in einer schwarzen, glänzenden Hose von Reebok und einem tiefausgeschnittenen weißen Top neben ihm läuft. Man weiß nur, dass er nicht gesund sein kann, da auch er exakt auf meiner Höhe so zu husten beginnt, als fuhrwerke ein sadistischer Entführer mit einem Schraubenzieher an seinen Mandeln herum. Ich umgehe ihn weitläufig, muss aber schon wieder aufpassen, da sich von einem Balkon ein Schwall Wasser auf die Straße ergießt. Berlin ist ein einziges Ausweichmanöver.
Einige Meter weiter scheinen alle Läden dichtgemacht zu haben. Ein Comicladen, der mit Schlagworten wie »Manga XXL« und »ab 18« warb, nun aber einen grauen Film auf den Scheiben hat.
Das »Legastheniezentrum Berlin«, heute nur eine windschiefe Tür mit angeschimmeltem Lamellenvorhang. Die Bar, vor der ich stehe, in einem Anfall von Kreativität »Moni-Tion« genannt; wahrscheinlich weil hier mal eine Moni die Wirtin gab und man bei ihr ordentlich nachladen konnte. Die Fenster sind mit Metallrollos verrammelt, deren Schlitze mit Dreck, Staub und Spinnenkokons ausgefüllt sind, was darauf schließen lässt, dass sie lange nicht mehr geöffnet wurden. Vor der Tür liegen unaufgesammelte Gratiszeitungen. Dennoch glaube ich von drinnen Stimmen zu hören, russische Stimmen. Kehlig und streitlustig schubsen sie sich Argumente zu, dann höre ich ein Klatschen und einen Stuhl, der auf den Boden fällt. Ich schleiche zur Tür, die aus Holz und Buntglas besteht, rüttele sacht und erfolglos daran, schirme meine Augen mit den Handflächen ab und sehe in den Kneipenraum. Bar, Tische, Stühle aufgebockt, ein umgekippter alter Eimer auf dem Boden. Keine Menschen. Man hört so viele Stimmen in dieser Stadt, dass sie weiterschwätzen, wenn längst keine mehr da sind. Ich brauche Stimmfreiheit. Ich brauche Frieden.
Ich finde einen Hauch davon im Schillerpark. Auf der riesigen Wiese zwitschern die Amseln so entspannt, als wäre ihnen überhaupt nicht klar, wo sie eigentlich leben. Nichts deutet darauf hin, dass es schon so gut wie Winter ist. Ich steige die Treppen eines alten Gemäuers hinauf, das von runden Burgtürmen begrenzt wird und in dessen Mitte, aufgebockt auf ein Podest und gegossen in unverwüstliche Bronze, Friedrich Schiller steht. Die Bastion ist umgeben von Büschen, Wiesen, Wegen und Bänken. Ich atme aus, prüfe den Boden, der erträglich warm und trocken ist, lege mich ins Gras hinter ein schützendes Gestrüpp, so dass trotzdem noch ein wenig Sonne auf mich fällt, und schließe die Augen. Lasse los. Beine, Arsch, Rücken, Arme, Kiefer, Kopf.
Atme aus. Ich stelle mir vor, wie mein Körper in den Boden einsinkt. Stelle mir vor, ich läge in den Dünen oder in einem Wald in Bayern. Öffne die Augen und beobachte, wie ein Junge von vielleicht 16 Jahren sich auf die Bank unter Friedrich Schiller hockt, seinen Rucksack öffnet und eine Bong herauszieht, die er sich aus einer alten Fantaflasche gebastelt hat. Er spuckt auf den Boden unter dem deutschen Dichterfürsten und beginnt zu blubbern, als er einen älteren Bekannten die Treppe hinaufgehen sieht. Die beiden winken sich zu. Der Ältere trägt einen akkurat geschnittenen Bart und einen schlichten schwarzen Pullover zur grauen Jeans und hat sich den Kopf rasiert.
»Was geht?«, sagt der Junge und blubbert mit seiner Pulle.
Der Ältere setzt sich zu ihm. »Lass den Scheiß Mann, du rauchst das Plastik mit. Mach'n Kopf aus Metall oder Holz drauf, so ist doch schwachsinnig.«
Der 16-Jährige sagt: »Ey, Koseng, meinst du wirklich, gesundheitlich interessiert's mich? Fuck, ich werd nicht mal vierzig. Es rentiert sich nicht für mich, wenn ich nüchtern bleib.«
Der Ältere sagt: »Heute wieder 'ne Runde Selbstmitleid, Samir?«
Der Junge springt auf, seinen Gesundheitsruinierer aus Plastik in der Hand: »Das Land ist im Arsch, Mann! Ich bin schlau, Mann. Lernen, arbeiten - bringt mir doch nichts, oder was?«
»Mann, was ist los mit dir? Du bist jung, du hast 'ne Zukunft vor dir. Mach was draus, werd'n großes Tier.«
»Ich erzähl dir was von großen Tieren. Das sind die, die den Clowns die Fresse polieren und danach ihr Lobi kassieren. Das sind die, die am Staat vorbei voll am Start sind, ohne Schulabschluss Kohle verdienen und das ohne Steuern und all den Schwachsinn. Ich mach's wie die, weil's anders nicht geht. Keiner packt's von selbst, wenn Papa nicht massig Geld hat.«
»Das ist 'ne Entschuldigung, Alter. 'ne Ausrede. Ich kenne Jungs, die's geschafft haben, die früher krass waren und jetzt was reißen, aus eigener Kraft.«
Der Teenager zieht an der Bong, schaut weg, an der Statue vorbei, über die Mauern zur Amselwiese. Dass er nachdenkt, liegt auf der Hand.
Der Ältere steht auf und sagt: »Peace, Mann, ich muss jetzt gehen. Wenn's was gibt, was ich für dich tun kann: Sprich mich drauf an, du weißt, wo ich bin. Bis dann.«
Er zieht ab mit den leicht federnden Schritten von jemandem, der längst in sich ruht, aber sich noch nicht ganz abgewöhnen kann, den Polizei-in-der-Nähe-Prüfblick zu machen. Ich ziehe vorsichtig meine Füße hinter den Busch. Der Teenager sieht seinem älteren Berater nach, schüttelt den Kopf, wirft dann seine Fanta-Bong in den Mülleimer neben der Bank und klopft gegen Friedrich Schillers Oberschenkel. Er sieht an der Statue hinauf: »Fritz, alter Checker«, sagt er leicht bedröhnt, »meine Lehrerin wollte immer, dass ich deine Reime lese und was aus mir mache.« Er schnieft Schnodder hin und her und spuckt in die Platanen. »Vielleicht mach ich das mal irgendwann«, sagt er, klopft noch zweimal gegen die Beinmuskeln des Titanen und zieht ebenfalls ab, den Schritt so tief ausfedernd, wie es Jungs tun, die ihre Haltung noch finden müssen.
Auf dem Heimweg mache ich den Bogen um die Kolonie Togo, über den Nachtigalplatz und an der Grundschule vorbei zum Möwensee im Volkspark Rehberge. Das Wasser ist so schmierig, dass ein versehentlicher Sturz hinein ein Kind schnell in ein Sumpfmonster verwandeln würde, aber der Geruch und die Geräusche in diesem Stadtwald sind schön. Riecht es auf der Müllerstraße nach Kot und chinesischem Glutenessen, riecht es hier nach Baumharz und Schlick, und in den Wipfeln über dem Wasser schreien tatsächlich die Möwen. Tritt man an der Ecke des Parks wieder auf die Afrikanische Straße hinaus und läuft auf unsere Bettenburg zu, die sich den ganzen Block bis zur Transvaalstraße aufgeschichtet hat, schauert es einen. Man fragt sich, warum man in diesem Korallenriff aus Waschbeton gegenüber dem Park haust und nicht einfach in einer Hütte im Park lebt, aber dem stünden sicher zahllose Verordnungen entgegen. Ich nehme mir vor, gleich oben in der Wohnung mein 15-Minutenüber-Unbekanntes-Lesen-Synapsentraining zu absolvieren und im Internet nach Wohnrecht in Stadtparks zu suchen, als ich vor dem Eingang die Traube Jugendlicher herumlungern sehe, die uns Tag für Tag Probleme machen. Mein Herz erhöht den Taktschlag, und ich bemühe mich so sehr, ganz selbstverständlich an ihnen vorbei ins Haus zu gehen, dass ich in ihren Augen vor lauter Selbstverständlichkeit bereits so knallrot leuchten muss wie ein gegnerischer Soldat im Infrarotfernglas, das auf Körperwärme reagiert.
»Ey, salak!«, ruft ihr Anführer, ein kantiger Typ mit schwarzem Zopf, vorstehendem Oberkiefer und überheblichem Blick. Ich gehe weiter. »Ich red mit dir, Mann!«
Er steht auf und kommt von rechts auf mich zu, zwei seiner Assistenten folgen ihm wortlos im gleichmäßigen Abstand von Satelliten, die in alten Ballerspielen um das Mutterschiff kreisen. Der Rest der Gang bleibt einfach am Wegesrand hocken. Ein paar haben Spielkarten und Bierflaschen zwischen sich. Einer lässt einen Spliff rumgehen.
»Ey, ich mach dich Homo arm!«, sagt der Anführer und ist fast bei mir.
Die Tür ist noch fünf Meter entfernt. Das Blut pumpt rot durch meine Ohren. Ich beschleunige.
»Der haut ab, Mann!«, ruft einer der Schaulustigen am Boden, und ich denke mir wieder, wie unsinnig das ist. Ich will rein in mein Haus, in dem ich eine Wohnung gemietet habe, und ein 17- Jähriger bezeichnet das als unverschämte Flucht, während er auf dem Asphalt trinkend Karten spielt. Bevor ich die Tür erreiche, spüre ich einen Schuh auf meinem rechten Spann. Ehe ich begreife, dass der Schuh stehenbleibt, während ich den Fuß heben will, falle ich vornüber auf die geschlossene Haustür zu, rudere mit den Armen und kann meinen Sturz gerade noch so mit der linken Hand an dem langen Metallgriff der Tür abfangen, was dazu führt, dass ich mir die Hand abknicke und mit dem linken Knie auf den Boden aufschlage. Schmerz und Schreck nehmen mir die Luft. Um mich herum und von den Kartenspielern auf dem Weg ertönt Lachen. Sie johlen, als hätten sie einen Scherz unter Kumpels gemacht. Der Anführer reicht mir sogar die Hand zum Aufstehen. Er sagt: »Ah, komm schon, kein Thema, Mann!«
Ich verstehe. Das Beinchenstellen war der Vertrag, den man bestätigen muss, bevor man als User akzeptiert wird. Wenn ich jetzt seine Hand nehme, mache ich damit das Häkchen unter seine AGB. Sage im Grunde: »Jawohl, ich akzeptiere, dass ich nichts wert bin und dir das Recht übertrage, mich täglich vor meinem eigenen Haus herumzuschubsen und zu misshandeln, wie es dir beliebt. Denn du bist die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen.« Ich stütze mich mit der linken Hand auf meinen Oberschenkel und reiche ihm die rechte. Er lächelt. Kurz, bevor er mich hochziehen kann, schlage ich seine Hand weg.
Er ist so verdutzt, dass er mich für einen Moment ansieht wie ein Mensch. Eine Sekunde lang fällt die hautenge Folie aus Posen und Grimassen, die er sich jeden Morgen überstreift, von ihm ab. Eine Sekunde lang schürt es in mir die Hoffnung, er und seine Gefährten würden jetzt wirklich lachen, sich ausschütten über ihre Possen und mich zu einem Kartenspiel einladen, das nicht den Charakter eines Gangster-Erkennungszeichens, sondern eines Sonntagnachmittags auf dem Campingplatz hat. Doch diese Sekunde geht schnell vorüber. Als sie vorbei ist, spüre ich seine Hände an meiner Kehle und meinen Hinterkopf am Glas der Haustür. Mit eisernem Griff stößt er ihn dagegen, meinen Kehlkopf fest umschlossen, während seine Lakaien mich an den Armen festhalten.
Er brüllt. »Bist du ein Opfer, oder was? Hä? Labunya? Bist du ein Opfer?«
Ich verstehe ihn nicht. Was ich gerade getan habe, belegt eigentlich, dass ich gerade das nicht bin. Ich versuche, mit meinen Armen gegen die Lakaien zu wirken und mich freizuwinden. Ich habe kräftige Arme, immer noch. Ich unterdrücke Tränen, die nicht wegen der Schmerzen entstehen, sondern wegen der Demütigung. Ihr schmierigen Ratten, denke ich. Ihr feigen, schmierigen Ratten. Was man halt so denkt, wenn man einzuschätzen versucht, ob wirklich hier, auf dem dreckigen Boden vor der Glastür einer Weddinger Mietskaserne, alles zu Ende gehen wird.
»Özgür!«, höre ich eine Männerstimme, als mich schon Schwindel überkommt. »Lass den Mann in Ruhe.«
Der Anführer, der also Özgür heißt, lässt prompt von meinem Hals ab. Seine Lakaien lassen meine Arme los und entfernen sich. Schnell huschen sie vorbei an dem großen, in Jeans und ein beiges Polohemd gekleideten Mann, der nun mit dem Finger auf Özgür zeigt und sagt: »Wenn ich das noch einmal sehe, sage ich Alexej Bescheid, hörst du?«
Özgür winkt ab, eine Schnute ziehend, auf die Udo Lindenberg stolz wäre: »Was redest du da, Mann? Der Scheißkerl kann mich mal!«
Er hat Angst vor Alexej. Ich höre das, denn wo seine Stimme sonst am Ende eines Satzes noch einmal an Lautstärke zunimmt, fällt sein Satz jetzt in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Der große Mann sieht ihn an wie ein Lehrer, der nichts zu sagen braucht, und Özgür gesellt sich mit seinen Lakaien wieder zu den Kartenspielern.
»Roland«, sagt mein Retter, reicht mir die Hand und zieht mich hoch. Er hat eine sehr spitze Nase. Nasenbein und Nasenflügel sind breit, aber die Spitze ist bedeutend länger als bei anderen Menschen. Sie stößt in den Luftraum vor ihm wie ein Keil.
»Danke«, sage ich.
»Eine Selbstverständlichkeit unter Nachbarn«, sagt er. »Ich wohne 818, zwischen Cevat und euch. Wir haben uns noch nicht vorgestellt.«
»Nein«, sage ich und gehe mit ihm zum Fahrstuhl.
Drei Etagen lang schweigen wir, dann frage ich: »Wer ist dieser Alexej, dass du ihnen mit seinem Namen solche Angst machen kannst?«
Roland schaut auf die Spiegelung seiner Nase im Silber der Aufzugtür und grinst: »Der Vermieter.«
»Der Vermieter ist die Wohnungsbaugesellschaft.«
»Der echte Vermieter.« Er grinst so breit, dass seine Nase sich ihrer eigenen Spiegelung entgegenstreckt. Es ist dieses Grinsen, das auch Computerkenner zeigen, bevor sie nach fünf Minuten endlich damit rausrücken, was man wieder alles falsch gemacht hat und in der Bedienung seines Betriebssystems noch nicht weiß. Mir kommt ein Gedanke.
»Nein«, sage ich, »wir reden hier vom Russen?«
Rolands Nasenspitze berührt bereits ihr Gegenstück im Spiegel, aber nicht, weil er lügt. Er dreht den Kopf. Die Nase wird in der Aufzugtür lang gezogen. So wie ein Stab, den man ins Wasser hält, sich durch die Lichtbrechung krümmt.
»Du hast einen Draht zu den Russen?«
»Was heißt hier Draht? Ich zahle ihnen Geld. Wie alle hier. Es gehört zum Service, sie dafür ab und zu rufen zu dürfen. Als Privatpolizei. Mein Anruf hat besonderes Gewicht, weil ich schon länger hier wohne.«
Der Aufzug kommt an. Die Türen öffnen sich. Wir gehen zu unseren Wohnungen, mit den Schlüsseln klimpernd.
»Cevat sagt, die Russen würden die Türken überhaupt erst aufstacheln, damit sie unliebsamen Bewohnern Ärger machen.«
»Wirken die so, als müsse man sie erst aufstacheln? Als würden sie sonst meditierend unten auf dem Pflaster sitzen und frische Räucherstäbchen verteilen?«
Ich muss lachen. Mein Hals schmerzt. Meine Arme auch.
Roland steckt seinen Schlüssel in die Tür neben unserer. »Cevat ist ein guter Kerl, wirklich. Ein richtig anständiger Mensch. Er erträgt es nicht, dass das auf viele seiner Landsleute nicht zutrifft. Wahrscheinlich stellt er es deswegen so dar, als müssten sie erst noch aufgestachelt werden. Aber glaub mir, es gibt hier keine Doppelagenten.«
Ich stecke ebenfalls meinen Schlüssel in die Tür. Von innen kratzt Yannick bereits dagegen, erfreut, den Papa nach Hause kommen zu hören. Er miaut.
»Ein Kater?«, fragt Roland.
»Ja«, sage ich, »Yannick. Kampfschmuser, Mampfmaschine, Schokopuddingschlecker. Rettet unser Leben.«
»Süß«, sagt Roland. »Ich hatte mal einen Hund. Paul Anka. So hab ich ihn genannt. Toller Kerl.« Er seufzt, er schluckt, er schabt mit dem Daumennagel auf dem Schlüssel, der quer in seiner Tür steckt. »Die Russen haben ihn mir gestohlen.«
»Was haben die???«
»Ausgesetzt? Verschenkt? Getötet? Ich weiß es nicht. Ich wollte sie anzeigen, umbringen, alles zugleich. Dann stand ein Körbchen vor meiner Tür. Ein Welpe drin. Man kann Tiere nicht ersetzen, aber dieses kleine Ding musste ich aufnehmen. Ich kann kein Tier ins Heim bringen, egal, wie es in mein Leben getreten ist. Im Körbchen lag ein Zettel. ›Wenn du den behalten willst, zahl endlich die zweite Miete.‹ Seither mache ich das. Und habe keine Probleme mehr. Besser noch: Ich habe Ruhe vor der Haustür. Ich habe Ruhe im ganzen Viertel. Ich bin unter Protektion.«
»Aber das ist doch ...«
»Es ist schrecklich, ja«, sagt Roland. »Es schlägt eine Kerbe in den Stolz eines Mannes, die sich nicht kitten lässt. Aber lieber eine Kerbe in mir als ein Messer in Lupo.«
»In Lupo?«
»So heißt der neue. Was heißt neu, das ist ja jetzt auch schon fünf Jahre her. Ich wollte ihn nicht mehr nach einem Sänger benennen. Schien mir kein gutes Omen. Zweite Miete zahlen, dem Hund einen Hundenamen geben, sicher leben, so dachte ich mir das.«
Ich stehe still vor unserer Tür, den Schlüssel im Blick, blaue Flecke am Hals.
»Habt ihr da drin eine Stereoanlage?«, fragt Roland. »Eine Spielkonsole? Einen Fernseher?«
Ich nicke. »Klar.«
Er vergisst seinen Schlüssel und dreht sich zu mir, sich in seinen Rahmen lehnend: »Siehst du, und das wurde alles in China gefertigt. Wir wissen, was in China abläuft. Mit den Menschenrechten. Tibet. Der Umwelt. Trotzdem zahlen wir ihnen Geld, und das nicht zu knapp. Und wofür? Um uns zu schützen? Um Lupo zu retten? Nein, nur um ein bisschen Spaß und Zerstreuung zu haben! So musst du das mal betrachten.«
Ich betrachte es so, während ich auf unsere Tür starre. Yannick kratzt sich drinnen die Pfoten wund. Er muss denken: Was machst du denn da draußen, du Schmock? Reinkommen oder nicht reinkommen, aber doch bitte nicht so'n Rumeiern!
»Jedenfalls noch mal danke«, sage ich.
»Du weißt, wo du mich findest«, sagt Roland, dreht den Schlüssel, öffnet seine Tür und geht hinein.
Zehn Minuten später liege ich in der Wanne, um zu verdrängen, was hier passiert. Das Bad ist sehr klein und grenzt in dieser Wohnung direkt an die Küche. Die Wanne, das Klo, eine Waschmaschine und das Waschbecken passen gerade so hinein. Dazwischen steht man eingezwängt auf der Badematte. Beleuchtung kommt nur von zwei Einbaustrahlern im Hängeschrank über dem Becken, auf dem Badewannenrand stehen Kerzen in Gläsern. Ich mische meinen »Ich bin so entspannt, ich zerfließe fast«- Mix aus den Badezusatzsorten >Nachtkerze< von Kneipp, >Gute Nacht< und >Moorbad< von Tetesept sowie >Erholung< und >Lockerung< aus der >So Zart<-Reihe. Yannick, der die letzten neuneinhalb Minuten enger an meinen Beinen geklebt hat als Fabio Cannavaro in seinen besten Spielen an denen des Gegners, stützt sich nun mit den Pfoten auf den Wannenrand und späht mit langem Hals in das Wasser, als hätte er ein solches Phänomen noch nie gesehen. Irmtraut habe ich mitsamt ihrer Styroporinsel ins Waschbecken verfrachtet. Ich schließe die Augen. Heute mal verdrängen, bitte. Einfach nur gepflegt verdrängen.
»Du meine Güte, was ist dir denn passiert?«, weckt mich Susannes Stimme fünf oder fünfzig Minuten später. Das kann ich nicht sagen, da in dem Fünffach-Bademix nicht nur der Körper, sondern auch die Zeit zerfließt. Susanne hockt sich neben die Wanne und streicht mit der Rückseite ihrer Hand zart über meinen zerschundenen Hals. Das irritiert mich ein wenig. Sorge ist ja gut und schön, aber wenn sie mich schon so streichelt, wie streichelt sie dann ihren eigenen Freund, wenn der mal vom Osmanen gewürgt wurde?
Ich erzähle ihr, was passiert ist, inklusive der Tatsachen und Halbtatsachen über unsere »zweiten Vermieter«, die wir bisher verschwiegen haben. Sie macht mir keine Vorwürfe deswegen.
»Du Ärmster«, sagt sie, »deswegen warst du wahrscheinlich so durch den Wind, dass du den Wohnungsschlüssel von außen hast stecken lassen.« Sie zeigt mir den Bund. »Ist zwar verständlich, aber wohl nicht gerade das Beste, wenn es hier so gefährlich ist, hm?«
Ich schaufele mir Badeschaum ins Gesicht, um zu verbergen, wie rot ich werde.
Sie geht in die Küche, schneidet eine orange Paprika in zwei Hälften, entfernt die Kerne und das weiße Innenleben, füllt Erdnusscreme hinein, legt sie auf einen Teller und kommt wieder zu mir. Sie setzt sich auf den Wannenrand, kaut und schaut dabei durch die Tür Richtung Küche. »Und du meinst, wir sollten auch lieber zahlen?«, fragt sie.
»Ich möchte heute Abend nicht mehr darüber sprechen«, sage ich.
»Okay«, sagt sie und kaut.
Ich patsche mit den Füßen.
»Wo sind unsere eigentlichen Lebenspartner?«, fragt sie.
»Die sind jetzt Werber«, sage ich, »und müssen daher so lange arbeiten, bis der Erste geht.«
»Das ist ein Paradoxon«, sagt Susanne, »weil dann keiner als Erster geht.«
»Ich weiß«, sage ich.
»Über das Geld müssen sie wahrscheinlich trotzdem erst später noch reden, nicht wahr?«, sagt Susanne.
»Ja«, sage ich. »Ich auch. Ich bin Assistent des Hausmeisters, aber eigentlich gar nicht da. Ich muss Rechnungen schreiben.«
Susanne hat die erste Paprikahälfte verputzt, prüft die zweite wie eine Auster und saugt dann erst mal ein wenig Erdnussbutterschmiere schlürfend aus dem organischen Gefäß. Ich schaue sie fragend an.
»Darüber möchte ich wiederum heute Abend nicht reden«, sagt Susanne.
»Okay«, sage ich.
Dann hört man wieder nur das Kauen und Planschen. »Sollen wir über meinen miesen Tag sprechen?«, fragt sie. »Bitte«, sage ich.
»Dieses Lernen für die Taxiprüfung ist Scheiße«, sagt sie. »Die Kerle im Betrieb warten nur darauf, dass ich scheitere. Weißt du, wie die hier drauf sind? Da kommt eine Frau von außerhalb und will in Berlin Taxifahrerin werden. Wo gibt's denn so was?«
»Du musst die hundert Schlüsselpunkte doch nur für die Prüfung auswendig im Kopf haben. In der Praxis danach hast du doch ein Navi. Und mit der Zeit prägst du dir alles von selbst ein.«
»Nein«, sagt sie, und ein Klumpen Erdnussbutter fliegt von ihrer Paprika in mein Badewasser und schwimmt obenauf. »Ich will diese Prüfung so ablegen, dass ich kein einziges Mal fragen, nach keinem Tipp angeln, niemals auch nur eine Sekunde zögern muss. Ich will dabei nicht ein einziges Mal falsch abbiegen. Die Kerle müssen den Eindruck bekommen, dass ich schon vier Leben reinkarniert in Berlin verbracht habe.«
»Okay«, sage ich.
»Nix okay. Wenn ich alleine übe, gucke ich an jeder roten Ampel wieder auf den Straßenatlas. Oder auf das Navi. So geht das nicht. Ich kann mir so viele Straßen nur merken, wenn ich zu jeder Ecke ein Bild im Kopf habe. Ein genaues Bild. Dazu muss ich gucken. Genau gucken. Intensiv gucken. Lange gucken. Dann rastet es ein. Wenn ich die Zeit hätte, würde ich ganz Berlin samt Umland mit dem Rad erobern, aber ich habe weder die Zeit noch ein Rad.«
Ich kämpfe kurz mit mir, weil ich aus meinem Moorbadmix nicht herauswill, sage dann aber: »Und wenn du auf dem Beifahrersitz hocken und genau gucken würdest? Nur zum Memorieren? Zum Lernen?«
»Das würdest du machen?«
Ich nicke und puste ein wenig Schaum von meinem Knie, das aus dem Wasser ragt. »Ich bin ein Offiziell-gar-nicht-da-Seiender. Ich nehme mir die Zeit. Und jetzt sofort fangen wir an!«
...
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
... weniger
Autoren-Porträt von Oliver Uschmann
Oliver Uschmann wurde geboren, als seine Eltern es für angebracht hielten und wuchs in Wesel am Niederrhein auf. In Bochum studierte er Literatur und in Berlin das Leben. Mit seiner Frau Sylvia Witt veröffentlicht er Jugendromane, Erwachsenenromane sowie lustige und ernste Sachbücher. Ihre bekannte Romanserie "Hartmut und ich" haben die beiden als "Hui-Welt" im Internet sowie 2010 als bewohnbare Ausstellung namens "Ab ins Buch!" aufgebaut. Auf der Videospielkonsole stellt sich Oliver Uschmann regelmäßig den schwersten Gegnern. Zu seinen Hobbies außerhalb des Hauses gehören das Barfußlaufen und das Guerilla-Gärtnern. Außerdem begrüßt er jedes natürliche Gewässer, indem er vollständig seinen Schädel hineinsteckt. Uschmann lebt mit seiner Frau sowie zwei Katern auf einem Dorf im Münsterland.Literaturpreise:Förderpreis NRW 2008
Bibliographische Angaben
- Autor: Oliver Uschmann
- 2012, 1. Auflage, 400 Seiten, Maße: 12,6 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596176484
- ISBN-13: 9783596176489
- Erscheinungsdatum: 24.09.2012
Kommentar zu "Feindesland / Hartmut und ich Bd.5"
0 Gebrauchte Artikel zu „Feindesland / Hartmut und ich Bd.5“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Feindesland / Hartmut und ich Bd.5".
Kommentar verfassen