Grundlagen
Das Handbuch für die psychosoziale Praxis
Die soziale Psychiatrie hat sich zu einer breiten Disziplin entwickelt. Aufgrund der Komplexität des Gebietes ist sie, sowohl im klinischen als auch im wissenschaftlichen Bereich, zwangsläufig multidisziplinär.
Dieses Handbuch versucht, den aktuellen...
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Produktinformationen zu „Grundlagen “
Die soziale Psychiatrie hat sich zu einer breiten Disziplin entwickelt. Aufgrund der Komplexität des Gebietes ist sie, sowohl im klinischen als auch im wissenschaftlichen Bereich, zwangsläufig multidisziplinär.
Dieses Handbuch versucht, den aktuellen Kenntnisstand in den vielen Forschungs- und Tätigkeitsfeldern abzudecken.
Band 1 behandelt in 33 Kapiteln die Grundlagen der sozialen Psychiatrie unter Einbezug historischer, begrifflicher, sozialwissenschaftlicher und neurobiologischer sowie ethischer und rechtlicher Aspekte.
Band 2 umfasst 43 Kapitel zu praktischen Ansätzen von der Prävention psychischer Erkrankungen über Versorgungsformen bis hin zu Therapieansätzen. In vier Kapiteln kommen auch von psychischer Erkrankung selbst betroffene Menschen zu Wort. Abschnitte zum Leistungsrecht sowie zu allgemeinen Themen runden das Handbuch ab.
Dieses Handbuch versucht, den aktuellen Kenntnisstand in den vielen Forschungs- und Tätigkeitsfeldern abzudecken.
Band 1 behandelt in 33 Kapiteln die Grundlagen der sozialen Psychiatrie unter Einbezug historischer, begrifflicher, sozialwissenschaftlicher und neurobiologischer sowie ethischer und rechtlicher Aspekte.
Band 2 umfasst 43 Kapitel zu praktischen Ansätzen von der Prävention psychischer Erkrankungen über Versorgungsformen bis hin zu Therapieansätzen. In vier Kapiteln kommen auch von psychischer Erkrankung selbst betroffene Menschen zu Wort. Abschnitte zum Leistungsrecht sowie zu allgemeinen Themen runden das Handbuch ab.
Klappentext zu „Grundlagen “
Die soziale Psychiatrie hat sich zu einer breiten Disziplin entwickelt. Aufgrund der Komplexität des Gebietes ist sie, sowohl im klinischen als auch im wissenschaftlichen Bereich, zwangsläufig multidisziplinär. Dieses Handbuch versucht, den aktuellen Kenntnisstand in den vielen Forschungs- und Tätigkeitsfeldern abzudecken. Band 1 behandelt in 33 Kapiteln die Grundlagen der sozialen Psychiatrie unter Einbezug historischer, begrifflicher, sozialwissenschaftlicher und neurobiologischer sowie ethischer und rechtlicher Aspekte. Band 2 umfasst 43 Kapitel zu praktischen Ansätzen von der Prävention psychischer Erkrankungen über Versorgungsformen bis hin zu Therapieansätzen. In vier Kapiteln kommen auch von psychischer Erkrankung selbst betroffene Menschen zu Wort. Abschnitte zum Leistungsrecht sowie zu allgemeinen Themen runden das Handbuch ab.
Lese-Probe zu „Grundlagen “
Soziale Psychiatrie1 Sozialpsychiatrie - Soziale Psychiatrie: eine Begriffsbestimmung
Außerhalb des engeren Feldes der Psychiatrie gab es bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Zahl von Ärzten, welche unter dem Begriff »soziale Medizin« die Auswirkung von Industrialisierung und Urbanisierung auf die Gesundheit diskutierten. In der Psychiatrie erhielt der Begriff »sozial« zwei auch heute noch gültige Konnotationen und zwar einerseits im Sinne eines humanitären Ansatzes und einer ethischen Verpflichtung, andererseits im Sinne sozioökonomischer Lebensbedingungen. Es waren vor allem die sozio- ökonomischen Lebensbedingungen, auf die sich die neu aufkommende »soziale Psychiatrie« mit ambulanten Betreuungskonzepten Anfang des 20. Jahrhunderts richtete. In den deutschsprachigen Ländern ist es im Unterschied zum angloamerikanischen Sprachraum in den letzten Jahrzehnten fast nicht gelungen, Sozialpsychiatrie als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Die Sozialpsychiatrie hat sich weltweit über die Auseinandersetzung mit praktischen Versorgungsfragen hinaus zu einer breit gefächerten Disziplin mit vielfältigen Arbeits- und Forschungsfeldern entwickelt. Die schizophrene Erkrankung eignet sich besonders gut, die sozialen Einflüsse auf Entstehung und Verlauf - neben den unbezweifelbaren biologischen Grundlagen - darzustellen. Die Einflussfaktoren reichen von kulturellen und sozioökonomischen Einflüssen zu Einflussfaktoren der frühkindlichen Umgebung der Familienatmosphäre und kritischer Lebensereignisse.
1.1 Einleitung
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Schon die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts vermutete schädliche Einflüsse der sozialen Lebenswelt auf die Entstehung und den Verlauf seelischer Erkrankung. Menschen mit »verwirrten Sinnen« und »entordneter Vernunft « sollten aus dem vermeintlich pathogenen Milieu ihres Lebensfelds herausgenommen werden, um in dem idealen Milieu einer psychiatrischen Anstalt die »verlorene Ordnung ihres Lebens und ihres Geistes« wieder zu finden. Die Isolation in der Stille und Ruhe geographisch von den städtischen Ballungsräumen abgeschiedener Anstalten schien die angemessene Behandlungsmethode, um den Kranken von möglichst allen pathogenen Einflüssen fernzuhalten. Ein völlig entgegengesetztes Grundsatzprogramm der Versorgung psychisch Kranker vertrat Wilhelm Griesinger (Rössler 1992). Er forderte so genannte Stadtasyle für die kurzfristige Behandlung akut Erkrankter im Verbund mit den allgemeinen Stadtkrankenhäusern. Er wies darauf hin, dass die Beschränkung auf einen kurzen stationären Aufenthalt nur im intensiven Zusammenspiel zwischen stationärer Einrichtung und im normalen Lebensfeld des Kranken gelingen kann. Den allergrößten Teil der stationär Behandelten hielt er für entlassfähig, wenn auch manche eines beschützten Rahmens bedürften. Die von ihm vorgeschlagenen Versorgungsmaßnahmen sind heute weltweit unter dem Begriff »gemeindenahe Versorgung« umgesetzt worden.
Obwohl also bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine intensive Debatte über soziale Einflussfaktoren auf Entstehung und Verlauf und die daraus abzuleitenden Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen in Gang gekommen war, gab es noch nicht den dazu gehörigen Begriff »soziale Psychiatrie« oder »Sozialpsychiatrie «, unter denen wir heute diese Diskussion führen würden. Der Begriff »soziale Psychiatrie« mit eigenständigen Inhalten entstand erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts (wir folgen hier und nachfolgend den Ausführungen von Priebe und Schmiedebach 1997).
Außerhalb des engeren Feldes der Psychiatrie gab es bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Zahl von Ärzten, welche unter dem Stichwort »soziale Medizin« die Auswirkungen von Industrialisierung und Urbanisierung auf die Gesundheit intensiv diskutierten. In der weiteren Entwicklung wurde der Begriff »soziale Medizin« durch den Begriff »soziale Hygiene« ersetzt. »Soziale Hygiene« beschäftigte sich mit den Wechselwirkungen häufig vorkommender Krankheitsgruppen wie Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten oder Krebserkrankungen und sozialen Lebensverhältnissen als begünstigende, vermittelnde oder beeinflussende Faktoren.
Der Begriff »sozial« erhielt zu dieser Zeit zwei auch noch heute gültige Konnotationen, und zwar einerseits im Sinne eines humanitären Ansatzes und einer ethischen Verpflichtung, andererseits im Sinne sozioökonomischer Lebensbedingungen. Es war vor allem das zweite Bedeutungsfeld, also die sozioökonomischen Lebensbedingungen, auf die sich die neu aufkommende »soziale Psychiatrie « mit vorwiegend ambulanten, sozial- psychiatrischen Betreuungskonzepten Anfang des 20. Jahrhunderts richtete.
Es soll aber auch nicht verschwiegen werden, dass viele Psychiater der damaligen Zeit unter dem Begriff »soziale Psychiatrie« vorwiegend ihre rassenhygienischen Vorstellungen thematisierten. Ihre sozial-psychiatrischen Vorstellungen richteten sich auf soziale Kontrolle und Selektion der »schwer degenerierten Geisteskranken, Idioten und Epileptikern«. Die praktischen Maßnahmen, die damit verbunden waren, waren Eheverbot oder Eheerschwerung, Sterilisation, Kastration und Euthanasie. Die entsetzlichen Folgen der Rassenhygiene sind weithin bekannt. So ermordeten die Nationalsozialisten circa 260.000 psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen, die in Heil- und Pflegeanstalten untergebracht waren, und begründeten dies mit der Notwendigkeit der Rassenhygiene (Schmiedebach und Priebe 2004).
Während also in Deutschland die soziale Psychiatrie mehr und mehr unter den Einfluss der Erbbiologie und der Rassenhygiene geriet, nahm die Entwicklung der »Social Psychiatry « in den USA einen anderen Weg. Vor allem war die amerikanische Entwicklung sehr viel mehr mit einer wissenschaftlichen Profilierung verknüpft, die sozialwissenschaftliche, soziologische und kulturanthropologische Konzepte miteinander zu integrieren versuchten.
Es ist offensichtlich, dass in den deutschsprachigen Ländern als Folge der Untaten der Nationalsozialisten der Begriff »soziale Psychiatrie« nach dem zweiten Weltkrieg desavouiert war. Allerdings waren die damit verknüpften Versorgungsvorstellungen keineswegs hinfällig. In der Nachkriegszeit standen deshalb in deutschsprachigen Ländern ersatzweise die Begriffe der Resozialisierung und Rehabilitation im Vordergrund. Erst in den 1960er Jahren, als die Reform der veralteten psychiatrischen Versorgungsstrukturen nicht länger aufzuschieben war, wurde der Begriff reaktiviert. Aber in Abgrenzung zu dem desavouierten Begriff »soziale Psychiatrie« wurde vorwiegend der Begriff »Sozialpsychiatrie« verwendet. In den deutschsprachigen Ländern ist es aber im Unterschied zum angloamerikanischen Sprachraum auch in den letzten Jahrzehnten fast nicht gelungen, Sozialpsychiatrie als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Die Zahl der (wenigen) Lehrstühle für Sozialpsychiatrie im deutschsprachigen Raum ist deshalb weiterhin rückläufig, während im angloamerikanischen Sprachraum an allen Universitäten »Social Psychiatry« ein weithin akzeptierter Pfeiler der akademischen Psychiatrie ist.
Die Sozialpsychiatrie hat sich weltweit über die Auseinandersetzungen mit praktischen Versorgungsfragen hinaus zu einer breit gefächerten Disziplin mit vielfältigen Arbeits- und Forschungsfeldern entwickelt. Neben der klassischen Versorgungsforschung, die sich mit der Entwicklung und Bewertung von Versorgungsinstitutionen beschäftigt, ist die Ursachen- und Verlaufsforschung ebenfalls zu einem wichtigen Arbeitsgebiet der Sozialpsychiatrie geworden. Ausgangspunkt vieler sozialpsychiatrischer Forschungsfelder ist vor allem die psychiatrische Epidemiologie. Sie beschäftigt sich nicht nur damit, Art und Häufigkeit psychischer Störungen in der Allgemeinbevölkerung zu erfassen, sondern versucht, soziale Einflussfaktoren sowohl auf die Entstehung wie auf den Verlauf psychischer Störungen zu identifizieren.
Die sozialpsychiatrische Forschung ist aufgrund der Komplexität des Forschungsfeldes zwangsläufig multidisziplinär. In Analogie zur biologisch orientierten psychiatrischen Forschung, die neben Medizinern, Biologen, Chemiker und Pharmakologen beschäftigt, benötigt die sozialpsychiatrische Forschung Sozialwissenschaftler insbesondere Psychologen und Soziologen wie auch Biometriker, die die komplexen sozialen Verhältnisse mittels moderner statistischer Verfahren abbilden helfen.
1.2 Art und Umfang psychischer Störungen in Europa
Eine kürzliche Übersicht über 27 Studien, die sich mit Art und Umfang psychischer Störungen in Europa beschäftigen, hat gezeigt, dass psychische Störungen von enormer gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sind. Wir können davon ausgehen, dass in Europa im Verlauf eines Jahres rund 27 % der Bevölkerung zwischen 18 und 65 Jahren unter einer diagnostizierbaren psychischen Störung leiden. 68 % dieser Fälle wiesen nur eine Diagnose auf, 18 % jedoch zwei und 14 % drei oder mehr psychiatrische Diagnosen. In Zahlen ausgedrückt heißt dies, dass fast 83 Millionen Menschen pro Jahr in Europa unter einer oder mehreren psychischen Störungen leiden. Die größten Anteile betreffen Menschen mit Depressionen und spezifischen Phobien mit 18,4 respektive 18,5 Millionen Menschen. Eine Alkoholabhängigkeit besteht bei 7,2 Millionen Menschen, während eine Abhängigkeit von illegalen Substanzen bei 2 Millionen Menschen vorliegt. Unter besonders schwerwiegenden Erkrankungen wie psychotische Störungen leiden ca. 3,7 Millionen Menschen (Wittchen und Jacobi 2005).
Die Mehrheit der analysierten Studien konnte zeigen, dass nahezu alle psychischen Störungen mit einem substanziellen Grad an Behinderung und einer erheblichen Reduktion von Lebensqualität verbunden sind sowie dass die Behinderung, respektive die reduzierte Lebensqualität bei Komorbidität mehrerer psychischer Erkrankungen zunimmt. Außerdem sind viele psychische Störungen mit einem erhöhten Sterberisiko, hauptsächlich durch Suizid, verbunden. Auch sind die meisten psychischen Störungen mit einer erheblichen Einschränkung der Arbeitsfähigkeit verbunden. Gemessen an den verlorenen Arbeitstagen weisen Menschen mit psychischen Störungen dreimal mehr Abwesenheitstage als Menschen ohne psychische Störungen (aber anderen Erkrankungen) auf. Zuletzt muss man sich die enormen Belastungen für Angehörige vergegenwärtigen. Neben dem emotionalen Stress, der zeitlichen und finanziellen Belastung, der Zurückstellung eigener Interessen, der Störungen eines »normalen« Familienlebens sind Angehörige selbst beträchtlichen somatischen und psychischen Gesundheitsrisiken mit der Folge einer erhöhten Inanspruchnahme von Gesundheitseinrichtungen ausgesetzt (z. B. Rössler et al. 2005). In einer eigenen Studie hat sich v. a. die gestörte Beziehung zwischen den Betroffenen und ihren Angehörigen als Belastungsfaktor erwiesen (Lauber et al. 2003a).
Es ist mittlerweile klar, dass nur ein Bruchteil aller von einer psychischen Störung betroffenen Menschen psychiatrisch/psychotherapeutische Behandlung erhalten. So wissen wir aus einer Analyse von Bijl et al. (2003), dass je nach Diagnose nur zwischen 13 % und 20 % aller Betroffenen mit einer psychischen Störung irgendeine Art der Behandlung während der letzten zwölf Monate erhalten haben. Es konnte aber auch gezeigt werden, dass die Behandlungsraten stark mit der Schwere der Erkrankung korrelieren. Die Behandlungsraten sind jedoch schwer über einen (europäischen) Kamm zu schlagen, insofern als natürlich das Gesundheits- und Versorgungssystem die Rate der Behandlungen wegen psychischer Erkrankungen wesentlich mit beeinflusst. In den Niederlanden werden z. B. der Großteil der Betroffenen im Rahmen der primärärztlichen Versorgung betreut (74 %), und 48,5 % erhalten spezialisierte Behandlung, wohingegen sich in Deutschland 70 % in spezialisierter Behandlung befinden und nur 39 % in hausärztlicher Behandlung (Bijl et al. 2003).
1.3 Forschungsparadigma Schizophrenie
Es gibt wohl keine andere psychiatrische Erkrankung, die mehr Forschungsaktivitäten seit ihrer »Entdeckung« vor mehr als 100 Jahren stimuliert hat als die Schizophrenie. Trotzdem besteht das »Rätsel Schizophrenie« weiter. Dies hat vermutlich damit zu tun, dass kein einzelner Faktor hinreicht, um die Krankheit auszulösen bzw. um den Verlauf der Erkrankung zu modifizieren. Die Schizophrenie ist damit zu einem Forschungsparadigma für komplexe psychiatrische Erkrankungen geworden. Anhand dieses Krankheitsbildes soll nachfolgend der sozialwissenschaftliche bzw. sozialpsychiatrische Kenntnisstand auf die Auslösung und den Verlauf einer psychischen Erkrankung paradigmatisch dargestellt werden.
1.3.1 Was sagt uns die Epidemiologie?
Ein Argument, das bisher gegen einen signifikanten Einfluss von Umweltfaktoren auf die Auslösung einer Schizophrenie gesprochen hat, scheint überholt zu sein, nämlich die geringe geografische Variation im Hinblick auf das Erkrankungsrisiko der Schizophrenie. Eine Übersichtsarbeit (McGrath 2005) konnte eine beträchtliche Variationsbreite der Schizophrenieinzidenz zwischen 7,7 und 43,0 Erkrankte pro hunderttausend Einwohner der Bevölkerung über verschiedene Studien hinweg aufzeigen. Wenngleich ein Anteil dieser Variation immer noch auf unterschiedliche Messmethoden zurückzuführen ist, bestehen kaum noch Zweifel, dass unterschiedliche Lebensbedingungen zu dieser Varianz des Erkrankungsrisikos beitragen.
McGrath bezeichnet den bisherigen epidemiologischen Wissensstand als Mythos der Schizophrenieforschung, dem zwei Glaubensgrundsätze zugrunde liegen, nämlich, dass die Schizophrenie eine »außergewöhnliche « Erkrankung sei im Vergleich zu allen anderen Erkrankungen, wie auch eine »demokratische « Erkrankung. »Außergewöhnlich « in dem Sinne, dass es wohl kaum eine andere (psychiatrische oder somatische) Erkrankung gibt, die keine Variation weltweit aufzeigen würde. »Demokratisch« in dem Sinn, dass die Schizophrenie jeden Menschen gleichermaßen treffen kann, unabhängig von irgendwelchen sozialen Einflüssen. Inzwischen ist aber klar, dass es ganz verschiedenartige soziale Einflussfaktoren für das Schizophrenierisiko gibt, die nachfolgend diskutiert werden sollen.
1.3.2 Kulturelle Einflüsse
Der Einfluss der Kultur auf die Schizophrenie hat schon seit jeher erhebliches Interesse auf sich gezogen. So wurde in verschiedenen Untersuchungen deutlich (Pfeiffer 1994), dass es zu kulturspezifischen Ausprägungen der Erkrankung kommt. Kulturvergleichende Untersuchungen lassen auch seit langem vermuten, dass Inzidenz und Prävalenz der Schizophrenie in Entwicklungsländern im Vergleich zu Industrieländern niedriger zu sein scheinen (Torrey 1980).
1.3.3 Migrationsstudien
Der Einfluss der Umwelt auf das Erkrankungsrisiko wird durch verschiedene Migrationsstudien gestützt. So weisen eine Reihe von Studien eine im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung gut dokumentierte erhöhte Inzidenzrate für schizophrene Erkrankungen von Immigranten auf, z. B. von Surinamesen in Holland (Selten et al. 1997), afrikanischen Flüchtlingen in Schweden (Johansson et al. 1998), griechischen Migranten in Belgien (Charalabaki et al. 1995), skandinavischen Migranten in Dänemark (Mortensen et al. 1997) und vor allem von Immigranten aus Trinidad und Jamaika in Großbritannien (z. B. Davies et al. 1995). Wenngleich der Einfluss solcher ungünstiger Umweltbedingungen auf das Erkrankungsrisiko plausibel erscheint, müssen andere konfundierende Faktoren in Betracht gezogen werden.
Der gewichtigste und seit vielen Jahren erhobene Einwand gegen ein erhöhtes Erkrankungsrisiko in einer fremden und potenziell »feindlichen« Umgebung ist, dass Selektionsprozesse in der Ursprungsbevölkerung die Migration steuern, d. h. dass z. B. prämorbid belastete oder psychisch auffällige Menschen eher bereit sind auszuwandern (wiederum mit einem erheblichen Krankheitsrisiko für ihre Nachfahren). Ødegaard (1932) z. B. konnte in einer klassischen Studie ein zweifach erhöhtes Erkrankungsrisiko norwegischer Emigranten belegen. Die Studien von Häfner (1980) belegen hingegen das Gegenteil, nämlich dass die Inzidenzrate von an Schizophrenie erkrankten Türken in Deutschland im Vergleich zur deutschen Bevölkerung erniedrigt ist. Dies erklärt sich vermutlich damit, dass bei der Auswahl von Gastarbeitern für Deutschland besonders strenge Kriterien an deren (auch psychische) Gesundheit angelegt wurden.
In zahlreichen neueren englischen epidemiologischen Untersuchungen (Übersicht bei Fearon und Morgan 2006) findet sich trotz erhöhtem Krankheitsrisiko für Immigranten aus Trinidad und Jamaika der zweiten Generation kein erhöhtes Erkrankungsrisiko in der Ursprungsbevölkerung. Die Ergebnisse sind inzwischen so robust, dass für diese Bevölkerungsgruppe in Großbritannien die Umwelt ein gesicherter Risikofaktor darstellt. Auch für andere Migrantengruppen gibt es gute Belege, dass die Umwelt ein Risikofaktor für das Erkrankungsrisiko ist. Die vorgenannte holländische Untersuchung fand für Zuwanderer nach Holland aus den ehemaligen Kolonien Surinam und den Holländischen Antillen ein vierfach erhöhtes Erkrankungsrisiko im Vergleich zur holländischen Allgemeinbevölkerung (Selten et al. 1997). Selektionsprozesse in der Ursprungsbevölkerung spielen für dieses Untersuchungsergebnis keine wesentliche Rolle, da große Teile der Ursprungsbevölkerung von der Wanderungsbewegung nach Holland erfasst worden waren.
Wenn wir uns fragen, welche ungünstigen Lebensbedingungen genau denn das Erkrankungsrisiko von Migranten erhöhen, ist die Datenlage noch nicht überwältigend. Doch gibt es vereinzelte Studien (vgl. Fearon und Morgan 2006), die darauf hinweisen, dass vor allem soziale Exklusion, Isolation, Arbeitslosigkeit sowie Stigmatisierung und Diskriminierung als Umweltfaktoren zu dem Erkrankungsrisiko beitragen können. Migranten sind diesen Risiken in erhöhtem Maße ausgesetzt.
1.3.4 Verlaufsstudien
Verschiedene Studien der Weltgesundheitsorganisation (Sartorius et al. 1972; WHO 1974, 1975) belegen zunächst einmal, dass der Verlauf der schizophrenen Erkrankung in Entwicklungsländern im Vergleich zu Industrieländern deutlich unterschiedlich ist. Schizophreniekranke in Entwicklungsländern, die bei Erkrankungsbeginn eine ähnliche Symptomatologie wie Patienten in Industrieländern aufwiesen, zeigten einen weniger chronischen Verlauf der Erkrankung, weniger Rückfälle, eine bessere soziale Anpassung (Sartorius et al. 1987, Jablensky et al. 1992). Neben dem Einflussfaktor Entwicklungs- versus Industrieländer konnten noch weitere signifikante psychosoziale Einflussfaktoren namentlich Familienstand und soziales Netzwerk identifiziert werden (Sartorius et al. 1996), die Einfluss auf den Krankheitsverlauf nehmen. Die Erklärung für diese Verlaufsunterschiede in Industrie- und Entwicklungsländern wird dabei in den überschaubareren sozialen Interaktionsmustern in weniger komplexen Gesellschaften im Vergleich zu den komplexen, konfliktträchtigen und schwer überschaubaren Anforderungen moderner Industriegesellschaften gesucht. Alternativ muss auch diskutiert werden, ob in Entwicklungsländern weniger Anforderungen an Autonomie und Konkurrenzverhalten vulnerabler Individuen gestellt werden und gleichzeitig ein Leben in kleineren, stabileren und längerfristig angelegten sozialen Netzwerken ermöglicht wird.
1.3.5 Sozioökonomische Einflussfaktoren
Die Diskussion um sozioökonomische Einflüsse auf Entstehung und Verlauf der Schizophrenie wurden durch die von Faris und Dunham (1939) bahnbrechenden epidemiologischen Untersuchungen über die ökologische Verteilung der Schizophrenie in Chicago im Jahr 1935 initiiert. Sie fanden die höchsten Raten ersthospitalisierter Schizophreniekranker in den Slumquartieren Chicago's. Diese Verteilungsmuster wurden in verschiedenen Städten und Ländern bestätigt, so z. B. auch von Häfner und Reimann (1970) in Mannheim. Die Mannheimer Ergebnisse erwiesen sich auch im Verlauf von 15 Jahren im Wesentlichen als stabil (Weyerer und Häfner 1989).
Die ökologische Ungleichverteilung geht einher mit Häufigkeitsunterschieden Schizophreniekranker in den verschiedenen sozialen Schichten. Zahlreiche Untersuchungen fanden Schizophreniekranke in den unteren sozialen Schichten überrepräsentiert. In einer Übersichtsarbeit von Dohrenwend und Dohrenwend (1969) zeigten fünf von sieben Untersuchungen sowie in einer Übersichtsarbeit von Eaton (1974) 15 von 17 Studien dieses Ergebnis. Die Erklärung hierfür wurde vorrangig in einer verstärkten sozialen Isolation der Betroffenen bzw. einem Mangel an sozialer Unterstützung in unteren sozialen Schichten gesucht.
Während zu Zeiten der Reformbewegung in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts soziale Ursachen der Schizophrenie auf der Grundlage der zuletzt genannten Befunde belegt zu sein schienen, gilt diese Interpretation heute als widerlegt. Im Wesentlichen diskutiert werden heute die These des sozialen Abstiegs bzw. der sozialen Selektion. Sozialer Abstieg bezieht sich auf die sozialen Konsequenzen nach Erkrankungsbeginn und soziale Selektion auf den fehlenden sozialen Aufstieg bereits vor Erkrankungsbeginn (Häfner 1992).
Der soziale Abstieg Schizophreniekranker ist hinreichend belegt. Marneros et al. (1991) fanden z. B. in ihrer Langzeitstudie einen beruflichen Abstieg von 71 % der von ihnen untersuchten Schizophreniekranken. Dieser war meistens verbunden mit einem Abstieg in untere soziale Schichten. Dieser Abstieg ist dann auch wiederum häufig mit einem Umzug in Wohnviertel mit vielfältigen sozialen Problemen verknüpft. Die dort häufig herrschende Anonymität kommt unter Umständen auch Schizophreniekranken mit Störungen der Kommunikation entgegen. Nicht zuletzt sollte auch bedacht werden, dass in der Regel in urbanen Quartieren mehr Versorgungsangebote bereitgehalten werden, was die Attraktivität dieser Quartiere für Betroffene erhöhen kann.
Schwieriger zu belegen ist die These der sozialen Selektion. Prämorbide Veränderungen der Persönlichkeit sind hier vermutlich von ausschlaggebender Bedeutung. Malmberg et al. (1998) konnten an einer Kohorte schwedischer Rekruten aus den Jahren 1969/70, die in den nachfolgenden 15 Jahren an einer Schizophrenie erkrankten, deutliche Defizite in der prämorbiden sozialen Anpassung aufzeigen.
Wohlbekannt ist auch der sogenannte Leistungsknick im Vorfeld der Erkrankung. Ødegaard (1971) fand auf der Basis der norwegischen Fallregisterdaten bei erstmals stationär behandelten Schizophreniekranken niedrig qualifizierte Berufsgruppen deutlich überrepräsentiert. Goldberg und Morrison (1963) konnten in einer Kontrollgruppenuntersuchung aufzeigen, dass ersthospitalisierte Schizophreniekranke im Vergleich zu ihren Vätern in weniger qualifizierten Berufen beschäftigt waren.
Aber auch für diese Befunde bieten sich alternative Erklärungen an. Die größte deutsche epidemiologische Studie Ersterkrankter konnte zeigen, dass ca. 4,5 Jahre zwischen dem Auftreten der ersten psychotischen Symptome überhaupt und etwa 2 Jahre zwischen dem Auftreten der ersten psychotischen Symptome und ersten psychiatrischen Hospitalisation vergehen (Häfner et al. 1998). Dies legt die Interpretation nahe, dass die im Vorfeld der Erkrankung dokumentierten sozialen Auffälligkeiten bereits frühe Zeichen des sozialen Abstiegs darstellen.
Die Zusammenhänge zwischen (städtischer) Lebenswelt und Erkrankungsrisiko üben bis heute eine große Faszination aus. So analysierten Torrey et al. (1997) archivierte Zensusdaten des Jahres 1980 aus den USA. Sie fanden ein 1,6fach erhöhtes Psychoserisiko in städtischen Regionen. Marcelis et al. (1998) untersuchten mittels des nationalen psychiatrischen Fallregisters in Holland die Zusammenhänge von (städtischer) Geburt und Erkrankungsrisiko. Sie berichten mäßige aber signifikante Zusammenhänge zwischen städtischem Geburtsort und erhöhter Inzidenzrate. Auch Mortensen et al. (1999) fanden bei der Analyse des zentralen psychiatrischen Fallregisters in Dänemark ein 2,4fach erhöhtes Risiko für in der Hauptstadt geborene Schizophreniekranke. Gleichzeitig identifizierten sie ein mehr als 9fach erhöhtes relatives Risiko für Betroffene mit familiärer Belastung.
1.3.6 Einflüsse der näheren sozialen Umwelt
1.3.6.1 Frühkindliche Umgebung
In der sozialwissenschaftlichen Theorienbildung der 1960er und 1970er Jahre spielte der mutmaßliche Einfluss der frühkindlichen Umgebung auf das Erkrankungsrisiko eine besondere Rolle. Gemäß Bateson (1972, Bateson et al. 1956) sind schizophrene Denk- und Affektstörungen das Resultat einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung. Besondere Bekanntheit in diesem Zusammenhang erzielte die sogenannte »Double-bind«-Theorie. Danach führen sich widersprechende Botschaften in der Kommunikation von Eltern mit ihren Kindern zwangsläufig zu schizophrenen Reaktionen der betroffenen Individuen. Nach Wynne und Singer (1966) oder Lidz (1975) führen hingegen besonders geartete Konflikte der Eltern die betroffenen Kinder in die Schizophrenie. Die Hauptschwäche dieser früheren Erklärungsansätze liegt darin, dass sie - neben einer überschießenden Theorienbildung ohne hinreichende empirische Belege - beobachtete Phänomene in den betroffenen Familien nicht nach Ursache und Folge der Erkrankung zu differenzieren vermögen.
Dies erlauben hingegen prospektive Studien. Tatsächlich hat es in den vergangenen Jahren einige Arbeiten zu dem Thema einer frühkindlichen Belastung und einem erhöhten Psychoserisiko gegeben. So identifizierten von fünf Langzeitstudien mit Risikopersonen zwei dieser Untersuchungen ungünstige Familienverhältnisse als zusätzlichen Risikofaktor, an einer Schizophrenie zu erkranken (Cornblatt und Obuchowski 1997): In der Kopenhagener Risikostudie erwiesen sich neben Geburtskomplikationen instabile frühkindliche Familienverhältnisse als besonderes Risikomerkmal (Cannon und Mednick 1993, Cannon et al. 1994).
© Kohlhammer Verlag
Schon die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts vermutete schädliche Einflüsse der sozialen Lebenswelt auf die Entstehung und den Verlauf seelischer Erkrankung. Menschen mit »verwirrten Sinnen« und »entordneter Vernunft « sollten aus dem vermeintlich pathogenen Milieu ihres Lebensfelds herausgenommen werden, um in dem idealen Milieu einer psychiatrischen Anstalt die »verlorene Ordnung ihres Lebens und ihres Geistes« wieder zu finden. Die Isolation in der Stille und Ruhe geographisch von den städtischen Ballungsräumen abgeschiedener Anstalten schien die angemessene Behandlungsmethode, um den Kranken von möglichst allen pathogenen Einflüssen fernzuhalten. Ein völlig entgegengesetztes Grundsatzprogramm der Versorgung psychisch Kranker vertrat Wilhelm Griesinger (Rössler 1992). Er forderte so genannte Stadtasyle für die kurzfristige Behandlung akut Erkrankter im Verbund mit den allgemeinen Stadtkrankenhäusern. Er wies darauf hin, dass die Beschränkung auf einen kurzen stationären Aufenthalt nur im intensiven Zusammenspiel zwischen stationärer Einrichtung und im normalen Lebensfeld des Kranken gelingen kann. Den allergrößten Teil der stationär Behandelten hielt er für entlassfähig, wenn auch manche eines beschützten Rahmens bedürften. Die von ihm vorgeschlagenen Versorgungsmaßnahmen sind heute weltweit unter dem Begriff »gemeindenahe Versorgung« umgesetzt worden.
Obwohl also bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine intensive Debatte über soziale Einflussfaktoren auf Entstehung und Verlauf und die daraus abzuleitenden Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen in Gang gekommen war, gab es noch nicht den dazu gehörigen Begriff »soziale Psychiatrie« oder »Sozialpsychiatrie «, unter denen wir heute diese Diskussion führen würden. Der Begriff »soziale Psychiatrie« mit eigenständigen Inhalten entstand erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts (wir folgen hier und nachfolgend den Ausführungen von Priebe und Schmiedebach 1997).
Außerhalb des engeren Feldes der Psychiatrie gab es bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Zahl von Ärzten, welche unter dem Stichwort »soziale Medizin« die Auswirkungen von Industrialisierung und Urbanisierung auf die Gesundheit intensiv diskutierten. In der weiteren Entwicklung wurde der Begriff »soziale Medizin« durch den Begriff »soziale Hygiene« ersetzt. »Soziale Hygiene« beschäftigte sich mit den Wechselwirkungen häufig vorkommender Krankheitsgruppen wie Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten oder Krebserkrankungen und sozialen Lebensverhältnissen als begünstigende, vermittelnde oder beeinflussende Faktoren.
Der Begriff »sozial« erhielt zu dieser Zeit zwei auch noch heute gültige Konnotationen, und zwar einerseits im Sinne eines humanitären Ansatzes und einer ethischen Verpflichtung, andererseits im Sinne sozioökonomischer Lebensbedingungen. Es war vor allem das zweite Bedeutungsfeld, also die sozioökonomischen Lebensbedingungen, auf die sich die neu aufkommende »soziale Psychiatrie « mit vorwiegend ambulanten, sozial- psychiatrischen Betreuungskonzepten Anfang des 20. Jahrhunderts richtete.
Es soll aber auch nicht verschwiegen werden, dass viele Psychiater der damaligen Zeit unter dem Begriff »soziale Psychiatrie« vorwiegend ihre rassenhygienischen Vorstellungen thematisierten. Ihre sozial-psychiatrischen Vorstellungen richteten sich auf soziale Kontrolle und Selektion der »schwer degenerierten Geisteskranken, Idioten und Epileptikern«. Die praktischen Maßnahmen, die damit verbunden waren, waren Eheverbot oder Eheerschwerung, Sterilisation, Kastration und Euthanasie. Die entsetzlichen Folgen der Rassenhygiene sind weithin bekannt. So ermordeten die Nationalsozialisten circa 260.000 psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen, die in Heil- und Pflegeanstalten untergebracht waren, und begründeten dies mit der Notwendigkeit der Rassenhygiene (Schmiedebach und Priebe 2004).
Während also in Deutschland die soziale Psychiatrie mehr und mehr unter den Einfluss der Erbbiologie und der Rassenhygiene geriet, nahm die Entwicklung der »Social Psychiatry « in den USA einen anderen Weg. Vor allem war die amerikanische Entwicklung sehr viel mehr mit einer wissenschaftlichen Profilierung verknüpft, die sozialwissenschaftliche, soziologische und kulturanthropologische Konzepte miteinander zu integrieren versuchten.
Es ist offensichtlich, dass in den deutschsprachigen Ländern als Folge der Untaten der Nationalsozialisten der Begriff »soziale Psychiatrie« nach dem zweiten Weltkrieg desavouiert war. Allerdings waren die damit verknüpften Versorgungsvorstellungen keineswegs hinfällig. In der Nachkriegszeit standen deshalb in deutschsprachigen Ländern ersatzweise die Begriffe der Resozialisierung und Rehabilitation im Vordergrund. Erst in den 1960er Jahren, als die Reform der veralteten psychiatrischen Versorgungsstrukturen nicht länger aufzuschieben war, wurde der Begriff reaktiviert. Aber in Abgrenzung zu dem desavouierten Begriff »soziale Psychiatrie« wurde vorwiegend der Begriff »Sozialpsychiatrie« verwendet. In den deutschsprachigen Ländern ist es aber im Unterschied zum angloamerikanischen Sprachraum auch in den letzten Jahrzehnten fast nicht gelungen, Sozialpsychiatrie als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Die Zahl der (wenigen) Lehrstühle für Sozialpsychiatrie im deutschsprachigen Raum ist deshalb weiterhin rückläufig, während im angloamerikanischen Sprachraum an allen Universitäten »Social Psychiatry« ein weithin akzeptierter Pfeiler der akademischen Psychiatrie ist.
Die Sozialpsychiatrie hat sich weltweit über die Auseinandersetzungen mit praktischen Versorgungsfragen hinaus zu einer breit gefächerten Disziplin mit vielfältigen Arbeits- und Forschungsfeldern entwickelt. Neben der klassischen Versorgungsforschung, die sich mit der Entwicklung und Bewertung von Versorgungsinstitutionen beschäftigt, ist die Ursachen- und Verlaufsforschung ebenfalls zu einem wichtigen Arbeitsgebiet der Sozialpsychiatrie geworden. Ausgangspunkt vieler sozialpsychiatrischer Forschungsfelder ist vor allem die psychiatrische Epidemiologie. Sie beschäftigt sich nicht nur damit, Art und Häufigkeit psychischer Störungen in der Allgemeinbevölkerung zu erfassen, sondern versucht, soziale Einflussfaktoren sowohl auf die Entstehung wie auf den Verlauf psychischer Störungen zu identifizieren.
Die sozialpsychiatrische Forschung ist aufgrund der Komplexität des Forschungsfeldes zwangsläufig multidisziplinär. In Analogie zur biologisch orientierten psychiatrischen Forschung, die neben Medizinern, Biologen, Chemiker und Pharmakologen beschäftigt, benötigt die sozialpsychiatrische Forschung Sozialwissenschaftler insbesondere Psychologen und Soziologen wie auch Biometriker, die die komplexen sozialen Verhältnisse mittels moderner statistischer Verfahren abbilden helfen.
1.2 Art und Umfang psychischer Störungen in Europa
Eine kürzliche Übersicht über 27 Studien, die sich mit Art und Umfang psychischer Störungen in Europa beschäftigen, hat gezeigt, dass psychische Störungen von enormer gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sind. Wir können davon ausgehen, dass in Europa im Verlauf eines Jahres rund 27 % der Bevölkerung zwischen 18 und 65 Jahren unter einer diagnostizierbaren psychischen Störung leiden. 68 % dieser Fälle wiesen nur eine Diagnose auf, 18 % jedoch zwei und 14 % drei oder mehr psychiatrische Diagnosen. In Zahlen ausgedrückt heißt dies, dass fast 83 Millionen Menschen pro Jahr in Europa unter einer oder mehreren psychischen Störungen leiden. Die größten Anteile betreffen Menschen mit Depressionen und spezifischen Phobien mit 18,4 respektive 18,5 Millionen Menschen. Eine Alkoholabhängigkeit besteht bei 7,2 Millionen Menschen, während eine Abhängigkeit von illegalen Substanzen bei 2 Millionen Menschen vorliegt. Unter besonders schwerwiegenden Erkrankungen wie psychotische Störungen leiden ca. 3,7 Millionen Menschen (Wittchen und Jacobi 2005).
Die Mehrheit der analysierten Studien konnte zeigen, dass nahezu alle psychischen Störungen mit einem substanziellen Grad an Behinderung und einer erheblichen Reduktion von Lebensqualität verbunden sind sowie dass die Behinderung, respektive die reduzierte Lebensqualität bei Komorbidität mehrerer psychischer Erkrankungen zunimmt. Außerdem sind viele psychische Störungen mit einem erhöhten Sterberisiko, hauptsächlich durch Suizid, verbunden. Auch sind die meisten psychischen Störungen mit einer erheblichen Einschränkung der Arbeitsfähigkeit verbunden. Gemessen an den verlorenen Arbeitstagen weisen Menschen mit psychischen Störungen dreimal mehr Abwesenheitstage als Menschen ohne psychische Störungen (aber anderen Erkrankungen) auf. Zuletzt muss man sich die enormen Belastungen für Angehörige vergegenwärtigen. Neben dem emotionalen Stress, der zeitlichen und finanziellen Belastung, der Zurückstellung eigener Interessen, der Störungen eines »normalen« Familienlebens sind Angehörige selbst beträchtlichen somatischen und psychischen Gesundheitsrisiken mit der Folge einer erhöhten Inanspruchnahme von Gesundheitseinrichtungen ausgesetzt (z. B. Rössler et al. 2005). In einer eigenen Studie hat sich v. a. die gestörte Beziehung zwischen den Betroffenen und ihren Angehörigen als Belastungsfaktor erwiesen (Lauber et al. 2003a).
Es ist mittlerweile klar, dass nur ein Bruchteil aller von einer psychischen Störung betroffenen Menschen psychiatrisch/psychotherapeutische Behandlung erhalten. So wissen wir aus einer Analyse von Bijl et al. (2003), dass je nach Diagnose nur zwischen 13 % und 20 % aller Betroffenen mit einer psychischen Störung irgendeine Art der Behandlung während der letzten zwölf Monate erhalten haben. Es konnte aber auch gezeigt werden, dass die Behandlungsraten stark mit der Schwere der Erkrankung korrelieren. Die Behandlungsraten sind jedoch schwer über einen (europäischen) Kamm zu schlagen, insofern als natürlich das Gesundheits- und Versorgungssystem die Rate der Behandlungen wegen psychischer Erkrankungen wesentlich mit beeinflusst. In den Niederlanden werden z. B. der Großteil der Betroffenen im Rahmen der primärärztlichen Versorgung betreut (74 %), und 48,5 % erhalten spezialisierte Behandlung, wohingegen sich in Deutschland 70 % in spezialisierter Behandlung befinden und nur 39 % in hausärztlicher Behandlung (Bijl et al. 2003).
1.3 Forschungsparadigma Schizophrenie
Es gibt wohl keine andere psychiatrische Erkrankung, die mehr Forschungsaktivitäten seit ihrer »Entdeckung« vor mehr als 100 Jahren stimuliert hat als die Schizophrenie. Trotzdem besteht das »Rätsel Schizophrenie« weiter. Dies hat vermutlich damit zu tun, dass kein einzelner Faktor hinreicht, um die Krankheit auszulösen bzw. um den Verlauf der Erkrankung zu modifizieren. Die Schizophrenie ist damit zu einem Forschungsparadigma für komplexe psychiatrische Erkrankungen geworden. Anhand dieses Krankheitsbildes soll nachfolgend der sozialwissenschaftliche bzw. sozialpsychiatrische Kenntnisstand auf die Auslösung und den Verlauf einer psychischen Erkrankung paradigmatisch dargestellt werden.
1.3.1 Was sagt uns die Epidemiologie?
Ein Argument, das bisher gegen einen signifikanten Einfluss von Umweltfaktoren auf die Auslösung einer Schizophrenie gesprochen hat, scheint überholt zu sein, nämlich die geringe geografische Variation im Hinblick auf das Erkrankungsrisiko der Schizophrenie. Eine Übersichtsarbeit (McGrath 2005) konnte eine beträchtliche Variationsbreite der Schizophrenieinzidenz zwischen 7,7 und 43,0 Erkrankte pro hunderttausend Einwohner der Bevölkerung über verschiedene Studien hinweg aufzeigen. Wenngleich ein Anteil dieser Variation immer noch auf unterschiedliche Messmethoden zurückzuführen ist, bestehen kaum noch Zweifel, dass unterschiedliche Lebensbedingungen zu dieser Varianz des Erkrankungsrisikos beitragen.
McGrath bezeichnet den bisherigen epidemiologischen Wissensstand als Mythos der Schizophrenieforschung, dem zwei Glaubensgrundsätze zugrunde liegen, nämlich, dass die Schizophrenie eine »außergewöhnliche « Erkrankung sei im Vergleich zu allen anderen Erkrankungen, wie auch eine »demokratische « Erkrankung. »Außergewöhnlich « in dem Sinne, dass es wohl kaum eine andere (psychiatrische oder somatische) Erkrankung gibt, die keine Variation weltweit aufzeigen würde. »Demokratisch« in dem Sinn, dass die Schizophrenie jeden Menschen gleichermaßen treffen kann, unabhängig von irgendwelchen sozialen Einflüssen. Inzwischen ist aber klar, dass es ganz verschiedenartige soziale Einflussfaktoren für das Schizophrenierisiko gibt, die nachfolgend diskutiert werden sollen.
1.3.2 Kulturelle Einflüsse
Der Einfluss der Kultur auf die Schizophrenie hat schon seit jeher erhebliches Interesse auf sich gezogen. So wurde in verschiedenen Untersuchungen deutlich (Pfeiffer 1994), dass es zu kulturspezifischen Ausprägungen der Erkrankung kommt. Kulturvergleichende Untersuchungen lassen auch seit langem vermuten, dass Inzidenz und Prävalenz der Schizophrenie in Entwicklungsländern im Vergleich zu Industrieländern niedriger zu sein scheinen (Torrey 1980).
1.3.3 Migrationsstudien
Der Einfluss der Umwelt auf das Erkrankungsrisiko wird durch verschiedene Migrationsstudien gestützt. So weisen eine Reihe von Studien eine im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung gut dokumentierte erhöhte Inzidenzrate für schizophrene Erkrankungen von Immigranten auf, z. B. von Surinamesen in Holland (Selten et al. 1997), afrikanischen Flüchtlingen in Schweden (Johansson et al. 1998), griechischen Migranten in Belgien (Charalabaki et al. 1995), skandinavischen Migranten in Dänemark (Mortensen et al. 1997) und vor allem von Immigranten aus Trinidad und Jamaika in Großbritannien (z. B. Davies et al. 1995). Wenngleich der Einfluss solcher ungünstiger Umweltbedingungen auf das Erkrankungsrisiko plausibel erscheint, müssen andere konfundierende Faktoren in Betracht gezogen werden.
Der gewichtigste und seit vielen Jahren erhobene Einwand gegen ein erhöhtes Erkrankungsrisiko in einer fremden und potenziell »feindlichen« Umgebung ist, dass Selektionsprozesse in der Ursprungsbevölkerung die Migration steuern, d. h. dass z. B. prämorbid belastete oder psychisch auffällige Menschen eher bereit sind auszuwandern (wiederum mit einem erheblichen Krankheitsrisiko für ihre Nachfahren). Ødegaard (1932) z. B. konnte in einer klassischen Studie ein zweifach erhöhtes Erkrankungsrisiko norwegischer Emigranten belegen. Die Studien von Häfner (1980) belegen hingegen das Gegenteil, nämlich dass die Inzidenzrate von an Schizophrenie erkrankten Türken in Deutschland im Vergleich zur deutschen Bevölkerung erniedrigt ist. Dies erklärt sich vermutlich damit, dass bei der Auswahl von Gastarbeitern für Deutschland besonders strenge Kriterien an deren (auch psychische) Gesundheit angelegt wurden.
In zahlreichen neueren englischen epidemiologischen Untersuchungen (Übersicht bei Fearon und Morgan 2006) findet sich trotz erhöhtem Krankheitsrisiko für Immigranten aus Trinidad und Jamaika der zweiten Generation kein erhöhtes Erkrankungsrisiko in der Ursprungsbevölkerung. Die Ergebnisse sind inzwischen so robust, dass für diese Bevölkerungsgruppe in Großbritannien die Umwelt ein gesicherter Risikofaktor darstellt. Auch für andere Migrantengruppen gibt es gute Belege, dass die Umwelt ein Risikofaktor für das Erkrankungsrisiko ist. Die vorgenannte holländische Untersuchung fand für Zuwanderer nach Holland aus den ehemaligen Kolonien Surinam und den Holländischen Antillen ein vierfach erhöhtes Erkrankungsrisiko im Vergleich zur holländischen Allgemeinbevölkerung (Selten et al. 1997). Selektionsprozesse in der Ursprungsbevölkerung spielen für dieses Untersuchungsergebnis keine wesentliche Rolle, da große Teile der Ursprungsbevölkerung von der Wanderungsbewegung nach Holland erfasst worden waren.
Wenn wir uns fragen, welche ungünstigen Lebensbedingungen genau denn das Erkrankungsrisiko von Migranten erhöhen, ist die Datenlage noch nicht überwältigend. Doch gibt es vereinzelte Studien (vgl. Fearon und Morgan 2006), die darauf hinweisen, dass vor allem soziale Exklusion, Isolation, Arbeitslosigkeit sowie Stigmatisierung und Diskriminierung als Umweltfaktoren zu dem Erkrankungsrisiko beitragen können. Migranten sind diesen Risiken in erhöhtem Maße ausgesetzt.
1.3.4 Verlaufsstudien
Verschiedene Studien der Weltgesundheitsorganisation (Sartorius et al. 1972; WHO 1974, 1975) belegen zunächst einmal, dass der Verlauf der schizophrenen Erkrankung in Entwicklungsländern im Vergleich zu Industrieländern deutlich unterschiedlich ist. Schizophreniekranke in Entwicklungsländern, die bei Erkrankungsbeginn eine ähnliche Symptomatologie wie Patienten in Industrieländern aufwiesen, zeigten einen weniger chronischen Verlauf der Erkrankung, weniger Rückfälle, eine bessere soziale Anpassung (Sartorius et al. 1987, Jablensky et al. 1992). Neben dem Einflussfaktor Entwicklungs- versus Industrieländer konnten noch weitere signifikante psychosoziale Einflussfaktoren namentlich Familienstand und soziales Netzwerk identifiziert werden (Sartorius et al. 1996), die Einfluss auf den Krankheitsverlauf nehmen. Die Erklärung für diese Verlaufsunterschiede in Industrie- und Entwicklungsländern wird dabei in den überschaubareren sozialen Interaktionsmustern in weniger komplexen Gesellschaften im Vergleich zu den komplexen, konfliktträchtigen und schwer überschaubaren Anforderungen moderner Industriegesellschaften gesucht. Alternativ muss auch diskutiert werden, ob in Entwicklungsländern weniger Anforderungen an Autonomie und Konkurrenzverhalten vulnerabler Individuen gestellt werden und gleichzeitig ein Leben in kleineren, stabileren und längerfristig angelegten sozialen Netzwerken ermöglicht wird.
1.3.5 Sozioökonomische Einflussfaktoren
Die Diskussion um sozioökonomische Einflüsse auf Entstehung und Verlauf der Schizophrenie wurden durch die von Faris und Dunham (1939) bahnbrechenden epidemiologischen Untersuchungen über die ökologische Verteilung der Schizophrenie in Chicago im Jahr 1935 initiiert. Sie fanden die höchsten Raten ersthospitalisierter Schizophreniekranker in den Slumquartieren Chicago's. Diese Verteilungsmuster wurden in verschiedenen Städten und Ländern bestätigt, so z. B. auch von Häfner und Reimann (1970) in Mannheim. Die Mannheimer Ergebnisse erwiesen sich auch im Verlauf von 15 Jahren im Wesentlichen als stabil (Weyerer und Häfner 1989).
Die ökologische Ungleichverteilung geht einher mit Häufigkeitsunterschieden Schizophreniekranker in den verschiedenen sozialen Schichten. Zahlreiche Untersuchungen fanden Schizophreniekranke in den unteren sozialen Schichten überrepräsentiert. In einer Übersichtsarbeit von Dohrenwend und Dohrenwend (1969) zeigten fünf von sieben Untersuchungen sowie in einer Übersichtsarbeit von Eaton (1974) 15 von 17 Studien dieses Ergebnis. Die Erklärung hierfür wurde vorrangig in einer verstärkten sozialen Isolation der Betroffenen bzw. einem Mangel an sozialer Unterstützung in unteren sozialen Schichten gesucht.
Während zu Zeiten der Reformbewegung in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts soziale Ursachen der Schizophrenie auf der Grundlage der zuletzt genannten Befunde belegt zu sein schienen, gilt diese Interpretation heute als widerlegt. Im Wesentlichen diskutiert werden heute die These des sozialen Abstiegs bzw. der sozialen Selektion. Sozialer Abstieg bezieht sich auf die sozialen Konsequenzen nach Erkrankungsbeginn und soziale Selektion auf den fehlenden sozialen Aufstieg bereits vor Erkrankungsbeginn (Häfner 1992).
Der soziale Abstieg Schizophreniekranker ist hinreichend belegt. Marneros et al. (1991) fanden z. B. in ihrer Langzeitstudie einen beruflichen Abstieg von 71 % der von ihnen untersuchten Schizophreniekranken. Dieser war meistens verbunden mit einem Abstieg in untere soziale Schichten. Dieser Abstieg ist dann auch wiederum häufig mit einem Umzug in Wohnviertel mit vielfältigen sozialen Problemen verknüpft. Die dort häufig herrschende Anonymität kommt unter Umständen auch Schizophreniekranken mit Störungen der Kommunikation entgegen. Nicht zuletzt sollte auch bedacht werden, dass in der Regel in urbanen Quartieren mehr Versorgungsangebote bereitgehalten werden, was die Attraktivität dieser Quartiere für Betroffene erhöhen kann.
Schwieriger zu belegen ist die These der sozialen Selektion. Prämorbide Veränderungen der Persönlichkeit sind hier vermutlich von ausschlaggebender Bedeutung. Malmberg et al. (1998) konnten an einer Kohorte schwedischer Rekruten aus den Jahren 1969/70, die in den nachfolgenden 15 Jahren an einer Schizophrenie erkrankten, deutliche Defizite in der prämorbiden sozialen Anpassung aufzeigen.
Wohlbekannt ist auch der sogenannte Leistungsknick im Vorfeld der Erkrankung. Ødegaard (1971) fand auf der Basis der norwegischen Fallregisterdaten bei erstmals stationär behandelten Schizophreniekranken niedrig qualifizierte Berufsgruppen deutlich überrepräsentiert. Goldberg und Morrison (1963) konnten in einer Kontrollgruppenuntersuchung aufzeigen, dass ersthospitalisierte Schizophreniekranke im Vergleich zu ihren Vätern in weniger qualifizierten Berufen beschäftigt waren.
Aber auch für diese Befunde bieten sich alternative Erklärungen an. Die größte deutsche epidemiologische Studie Ersterkrankter konnte zeigen, dass ca. 4,5 Jahre zwischen dem Auftreten der ersten psychotischen Symptome überhaupt und etwa 2 Jahre zwischen dem Auftreten der ersten psychotischen Symptome und ersten psychiatrischen Hospitalisation vergehen (Häfner et al. 1998). Dies legt die Interpretation nahe, dass die im Vorfeld der Erkrankung dokumentierten sozialen Auffälligkeiten bereits frühe Zeichen des sozialen Abstiegs darstellen.
Die Zusammenhänge zwischen (städtischer) Lebenswelt und Erkrankungsrisiko üben bis heute eine große Faszination aus. So analysierten Torrey et al. (1997) archivierte Zensusdaten des Jahres 1980 aus den USA. Sie fanden ein 1,6fach erhöhtes Psychoserisiko in städtischen Regionen. Marcelis et al. (1998) untersuchten mittels des nationalen psychiatrischen Fallregisters in Holland die Zusammenhänge von (städtischer) Geburt und Erkrankungsrisiko. Sie berichten mäßige aber signifikante Zusammenhänge zwischen städtischem Geburtsort und erhöhter Inzidenzrate. Auch Mortensen et al. (1999) fanden bei der Analyse des zentralen psychiatrischen Fallregisters in Dänemark ein 2,4fach erhöhtes Risiko für in der Hauptstadt geborene Schizophreniekranke. Gleichzeitig identifizierten sie ein mehr als 9fach erhöhtes relatives Risiko für Betroffene mit familiärer Belastung.
1.3.6 Einflüsse der näheren sozialen Umwelt
1.3.6.1 Frühkindliche Umgebung
In der sozialwissenschaftlichen Theorienbildung der 1960er und 1970er Jahre spielte der mutmaßliche Einfluss der frühkindlichen Umgebung auf das Erkrankungsrisiko eine besondere Rolle. Gemäß Bateson (1972, Bateson et al. 1956) sind schizophrene Denk- und Affektstörungen das Resultat einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung. Besondere Bekanntheit in diesem Zusammenhang erzielte die sogenannte »Double-bind«-Theorie. Danach führen sich widersprechende Botschaften in der Kommunikation von Eltern mit ihren Kindern zwangsläufig zu schizophrenen Reaktionen der betroffenen Individuen. Nach Wynne und Singer (1966) oder Lidz (1975) führen hingegen besonders geartete Konflikte der Eltern die betroffenen Kinder in die Schizophrenie. Die Hauptschwäche dieser früheren Erklärungsansätze liegt darin, dass sie - neben einer überschießenden Theorienbildung ohne hinreichende empirische Belege - beobachtete Phänomene in den betroffenen Familien nicht nach Ursache und Folge der Erkrankung zu differenzieren vermögen.
Dies erlauben hingegen prospektive Studien. Tatsächlich hat es in den vergangenen Jahren einige Arbeiten zu dem Thema einer frühkindlichen Belastung und einem erhöhten Psychoserisiko gegeben. So identifizierten von fünf Langzeitstudien mit Risikopersonen zwei dieser Untersuchungen ungünstige Familienverhältnisse als zusätzlichen Risikofaktor, an einer Schizophrenie zu erkranken (Cornblatt und Obuchowski 1997): In der Kopenhagener Risikostudie erwiesen sich neben Geburtskomplikationen instabile frühkindliche Familienverhältnisse als besonderes Risikomerkmal (Cannon und Mednick 1993, Cannon et al. 1994).
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Autoren-Porträt
Prof. Dr. Wulf Rössler ist emeritierter Ordinarius für Klinische Psychiatrie insbesondere Sozialpsychiatrie an der Universität Zürich und war über lange Jahre Klinikdirektor und Vorsteher an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK). Er ist jetzt Professor an der Leuphana Universität Lüneburg und an der Universität Sao Paulo. Prof. Dr. Wolfram Kawohl ist Stellvertretender Chefarzt an der PUK Zürich und Privatdozent an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. Er ist als Gastprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg tätig.
Bibliographische Angaben
- 2013, 448 Seiten, 12 Abbildungen, Maße: 17,9 x 24,7 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben: Wulf Rössler, Wolfram Kawohl
- Verlag: Kohlhammer
- ISBN-10: 3170219871
- ISBN-13: 9783170219878
- Erscheinungsdatum: 24.06.2013
Rezension zu „Grundlagen “
"Fazit: ein gutes, umfassendes und wichtiges Übersichtswerk zu nahezu allen Themen der sozialen Psychiatrie" (G. Längle, Der Nervenarzt 3/2014)
Pressezitat
"Fazit: ein gutes, umfassendes und wichtiges Übersichtswerk zu nahezu allen Themen der sozialen Psychiatrie" (G. Längle, Der Nervenarzt 3/2014)
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