Kleine Philosophie der Faulheit
Heutzutage geht Arbeit über alles. Wer arbeitslos ist, gerät an den Rand der Gesellschaft, macht sich verdächtig und wird oft genug als "Faulenzer" beschimpft. Doch Faulheit ist eine schöne Sache! Seit der Antike liefert sie den Boden für Reflexionen und...
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Produktinformationen zu „Kleine Philosophie der Faulheit “
Klappentext zu „Kleine Philosophie der Faulheit “
Heutzutage geht Arbeit über alles. Wer arbeitslos ist, gerät an den Rand der Gesellschaft, macht sich verdächtig und wird oft genug als "Faulenzer" beschimpft. Doch Faulheit ist eine schöne Sache! Seit der Antike liefert sie den Boden für Reflexionen und Diskussionen über die Kehrseite der Arbeit, sei dies als Gelassenheit, Seelenruhe, Rausch, Muße und Müßiggang oder in Begriffen des Rechts und der Ökonomie. Der vorliegende Band versammelt eindrückliche, erhellende und mit dem nötigen Esprit versehene Schriften von Aristoteles über Meister Eckhart, Diderot, Nietzsche, Marx bis hin zu Walter Benjamin, Arendt, Levinas und natürlich Paul Lafargue. Und das ganz ohne Mühe.
»Was soll das unbedingte Streben nach und Fortschreiten ohne Stillstand und Mittelpunkt? (...) Nur mit Gelassenheit und Sanftmut, in der heiligen Stille der echten Passivität kann man sich an sein ganzes Ich erinnern, und die Welt und das Leben anschauen.«
Friedrich Schlegel
Lese-Probe zu „Kleine Philosophie der Faulheit “
Kleine Philosophie der Faulheit von David Dilmaghani und Nassima Sahraoui Demokrit
Ethos der Gelassenheit
Vom rechten Maß
Schön ist überall das Gleichmaß; Übermaß und Mangel scheint mir nicht so.
Wem das innere Wesen wohlgeordnet ist, dem ist auch das Leben in Ordnung.
Die Grenze zwischen Zuträglichem und Abträglichem ist Lust und Unlust.
Glücklich, wer bei mäßigem Vermögen wohlgemut, unglücklich, wer bei großem mißmutig ist.
Wer wohlgemut leben will, soll nicht vielerlei treiben weder im eigenen noch im Gemeinschaftsleben und, was immer er treibt, nicht über seine eigene Kraft und Natur erstreben, sondern so sehr auf seiner Hut sein, daß, selbst wenn das Glück einschlägt und ihn zum Übermaß verführen will durch seinen Glauben, er das ablegt (niedrig schätzt) und nicht mehr anfaßt, als was seiner Kraft entspricht. Denn die mäßige Fülle ist etwas Sichereres als die Überfülle.
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Denn den Menschen wird Wohlgemutheit zuteil durch Mäßigung der Lust und des Lebens rechtes Maß. Mangel und Überfluß dagegen pflegt umzuschlagen und große Bewegungen in der Seele zu verursachen. Die in großem Pendelschlag sich bewegenden Seelen sind weder wohlbeständig noch wohlgemut. Auf das Mögliche muß man also den Sinn richten und sich mit dem Vorhandenen begnügen, ohne der Beneideten und Bewunderten viel zu achten und mit dem Gedanken ihnen anzuhaften; vielmehr muß man auf die Lebensschicksale der Trübsalbeladenen schauen und sich dabei wirklich vergegenwärtigen, was sie leiden, auf daß dir deine Lage und dein Besitz groß und beneidenswert erscheine und es dir nicht mehr begegne, weil du nach mehr begehrst, Übles zu erleiden in der Seele. Denn wer die Besitzenden und von den anderen Menschen selig Gepriesenen bewundert und mit seinen Gedanken ihnen zu jeglicher Stunde anhaftet, wird dazu gezwungen, stets etwas Neues zu unternehmen und sich aus Gier darauf zu werfen, etwas Unsühnbares auszuführen, von dem was die Gesetze verbieten. Deshalb also soll man dem einen nicht nachjagen und mit dem andern soll man es sich wohlgemut sein lassen, indem man sein eigenes Leben mit dem Leben derjenigen vergleicht, denen es schlechter geht, und in Beherzigung ihrer Leiden sich selbst selig preisen, daß man es soviel besser hat und treibt. Hältst du dich nämlich an diese Erkenntnis, so wirst du wohlgemuter leben und nicht wenige Fluchgeister im Leben verscheuchen: Mißgunst, Ehrsucht und Feindseligkeit.
Überschreitet man das richtige Maß, so kann das Angenehmste zum Unangenehmsten werden.
Gesundheit fordern in ihren Gebeten die Menschen von den Göttern; daß sie aber die Macht darüber in sich selbst haben, wissen sie nicht, sondern indem sie durch ihre Unmäßigkeit ihr entgegenwirken, werden sie selbst Verräter an der Gesundheit durch ihre Gelüste.
Wer vom Bauch her seine Genüsse sucht und in Speise, Trank oder Liebesgenuß das rechte Maß überschreitet, für die alle sind die Genüsse nur kurz und von geringer Dauer, so lange sie eben essen oder trinken, die Leiden aber zahlreich. Denn dieses Begehren ist stets wieder nach denselben Dingen vorhanden, und sobald ihnen wird, wonach sie begehren, ist der Genußrasch vergangen und sie haben nichts Rechtes davon als eine kurze Lust: dann stellt sich wieder dasselbe Bedürfnis ein.
Von der Lust zu leben
Toren leben ohne Freude am Leben.
Das böse, unverständige, unkeusche und unheilige Leben sei nicht ein böses Leben, sondern ein langdauerndes Sterben.
Wer sich wohlgemut zu gerechten und gesetzlichen Handlungen hingetrieben fühlt, der ist Tag und Nacht heiter und stark und unbekümmert; doch wer die Gerechtigkeit vernachlässigt und nicht tut, was not tut, dem wird alles solches zur Unlust, wenn er sich an etwas davon erinnert, und er ist in Angst und peinigt sich selbst.
Toren sind die, die das Leben hassen und trotzdem leben wollen aus Angst vor dem Hades.
Toren sehnen sich nach dem Leben, da sie den Tod fürchten.
Toren wollen aus Furcht vor dem Tode alt werden.
Manche Leute, die von der Auflösung der menschlichen Natur nichts wissen, aber im Bewußtsein ihrer schlechten Handlungsweise im Leben sind, mühen sich ihre Lebenszeit in Unruhen und Ängsten ab, indem sie erlogene Fabeln über die Zeit nach dem Ende erdichten.
Menschen, die vor dem Tode fliehen, laufen ihm nach.
Der Geist, der sich gewöhnt, aus sich selbst die Freuden zu schöpfen.
Göttlichen Geistes ist es, immer etwas Schönes zu erdenken.
Die großen Freuden stammen aus der Betrachtung der schönen Werke. Von den Vergnügungen erfreut das, was am seltensten kommt,
am meisten. Ein Leben ohne Festfeier ist ein langer Weg ohne Gasthäuser. Keinen Genuß soll man sich gönnen, wenn er nicht zuträglich
ist. Unzeitige Lüste erzeugen Unlüste.
Vom rechten Gut
Für alle Menschen ist dasselbe gut und wahr: angenehm freilich ist dem einen dies, dem andern das.
Wer die Güter der Seele wählt, wählt die göttlicheren, wer die des Leibes, die menschlichen.
Das Beste für den Menschen ist, sein Leben soviel wie möglich wohlgemut und so wenig wie möglich mißmutig zu verbringen. Dies wird aber dann der Fall sein, wenn man nicht am Sterblichen seine Lust findet.
Nicht jede Lust, sondern nur die Lust am Schönen soll man erstreben.
Rechtmäßige Leidenschaft: ohne Frevel nach den schönen Dingen streben.
Seneca
Von der Seelenruhe
Brief an Serenus
Glaube mir, mein Serenus, lange schon suche ich selbst im stillen mir die Frage zu beantworten, womit ich einen Gemütszustand wie den deinigen etwa vergleichen könnte, und ich finde kein passenderes Seitenstück dazu, als den Zustand derer, die nach überstandener langer und schwerer Krankheit ab und zu von kleinen Störungen und leichten Anfällen heimgesucht werden und, selbst wenn sie auch die Rückstände der eigentlichen Krankheit bereits überwunden haben, sich doch noch von Argwohn beunruhigt fühlen und, schon genesen, sich doch noch von den Ärzten den Puls fühlen lassen und in jeder Steigerung ihrer Körperwärme Anlaß zu allerhand Quengeleien finden. Bei ihnen, mein Serenus, steht es nicht etwa so, daß der Körper nicht völlig gesund wäre, nein! er hat sich nur noch nicht hinreichend an die Gesundheit gewöhnt: so zeigt auch das ruhige Meer noch eine gewisse zitternde Bewegung, wenn der Sturm sich gelegt hat. Es bedarf also bei dir nicht jener kräftigeren Mittel, über die wir bereits hinaus sind; du brauchst nicht dir selbst schroff entgegenzutreten, brauchst nicht in Zorn gegen dich auszubrechen, brauchst nicht die derbsten, die strengsten Seiten hervorzukehren, sondern mußt, was allerdings erst zuletzt kommt, dir selbst vertrauen und glauben, daß du auf dem rechten Wege seiest, unbeirrt durch die nach allen möglichen Seiten hinweisenden Spuren zahlreicher anderer, darunter auch solcher, die überhaupt wie blind umhertappen. Das, wonach du sehnlichstes Verlangen trägst, ist aber etwas Großes, Erhabenes, nahezu Göttliches, nämlich Unerschütterlichkeit. Diese Bestandesfestigkeit der Seele nennen die Griechen Euthymia (Wohlgemutheit), über die es eine vortreffliche Schrift des Demokrit gibt. Ich nenne sie Gemütsruhe, denn es ist nicht nötig, die Worte formgetreu nachzuahmen und zu übertragen; die Sache selbst, um die es sich handelt, muß mit einem passenden Ausdruck bezeichnet werden, der die griechische Benennung der Bedeutung nach wiedergibt, nicht der äußeren Form nach.
Unsere Frage geht also dahin, wie man der Seele zu einem gleichmäßigen und heilsamen Gange verhelfen kann, dergestalt, daß sie in bestem Einvernehmen mit sich stehe und ihre Freude an sich selbst habe und diese Freude nicht unterbreche, sondern immer im Zustand friedlicher Ruhe verharre, sich weder überhebend noch sich herabwürdigend: das wird das Wesen der Gemütsruhe ausmachen. Wie man dazu gelangen könne, will ich im allgemeinen untersuchen: Du wirst dir aus dieser allgemeinen Anweisung herausnehmen, was du für dich gut findest. Doch muß das Übel im ganzen ans Licht gezogen werden; jeder kann sich dann seinen Teil daraus entnehmen. Zugleich wirst du daraus ersehen, wieviel geringere Not du mit deiner Selbstquälerei hast als die, welche gefesselt durch den Glanz einer hohen Stellung und belästigt durch die Verpflichtungen eines hohen Titels, mehr durch ein gewisses schamhaftes Ehrgefühl als durch wirkliche Neigung in ihrer Gleisnerei festgehalten werden.
Alle sind sie in der nämlichen Lage, sowohl die vom Leichtsinn Besessenen wie die vom Überdruß und von beständiger Veränderungssucht Geplagten, denen immer das besser gefällt, was sie aufgegeben haben, nicht minder die Faulenzer und Tagediebe. Ihnen reihen sich noch die an, die, wie die schwer Einschlafenden, sich hin und herwälzen und sich bald auf die eine, bald auf die andere Seite werfen, bis sie endlich vor Müdigkeit Ruhe finden; der beständige Wechsel ihrer Lebensweise führt dann dahin, daß sie endlich bei derjenigen stehen bleiben, bei der nicht etwa der Widerwille gegen Veränderung, sondern das Alter sie festhält, das nicht mehr die Regsamkeit zu Neuerungen hat; dazu gesellen sich noch die, deren geringe Beweglichkeit nicht etwa auf Charakterfestigkeit zurückzuführen ist, sondern auf Schlendrian: sie leben nicht eigentlich, wie sie wollen, sondern wie sie einmal angefangen haben. Daneben gibt es noch unzählige Spielarten; aber die Wirkung des Fehlers kommt auf dasselbe hinaus, auf das Mißfallen an sich selbst. Dies Mißvergnügen hat seinen Grund in der Ungebärdigkeit des Seelenzustandes und in den begehrlichen Trieben, die entweder nicht entschieden genug oder erfolglos sind: es fehlt entweder an dem der Höhe der Wünsche entsprechenden Wagemut oder an der Gunst des Schicksals zur Erreichung derselben; man stellt seine Rechnung immer ganz und gar auf die Zukunft - eine ewige Unrast, ein beständiges Schwanken, wie es unausbleiblich ist in solchen Schwebezuständen! Immer sind es nur die eigenen Wünsche, wodurch diese Leute sich bestimmen lassen; ja, das Unehrbare und schwer zu Erreichende wird für sie ein Gegenstand der Selbstbelehrung und des Zwanges; und erweist sich alle Mühe als erfolglos, so quält sie das Unwürdige ihrer vergeblichen Anstrengungen, und es schmerzt sie, nicht etwa, daß sie Verwerfliches, sondern daß sie es vergebens gewollt haben. Da werden sie denn von Reue gepackt über ihr Beginnen und von Angst vor einem neuen Anfang, und es stellt sich jener schwankende Gemütszustand ein, der keinen Ausweg findet, weg sie ihre Begierden weder zu beherrschen noch ihnen nachzugeben vermögen; daher denn auch die Hemmung des einer festen Entscheidung unfähigen Lebens und das Einrosten der inmitten vereitelter Wünsche erstarrenden Geisteskraft.
Das alles wird noch drückender, wenn sie aus Haß gegen das ihnen zu so großem Unheil ausschlagende Geschäftsleben ihre Zuflucht zur Muße nehmen, zu weltfremden Studien, die sich nicht vertragen mit einer von vornherein auf staatsmännische Tätigkeit angelegten Sinnesart, der es aufs Handeln ankommt und der die Unruhe natürliches Bedürfnis ist; hat sie doch in sich zu wenig, was ihr Trost gewähren könnte. Werden einem so Gearteten die erfrischenden Anregungen entzogen, die das Geschäftsleben mit all seinem bunten Hin und Her ihm gewährt, so kann er sich mit dem Haus, mit der Einsamkeit, mit seinen vier Wänden nicht zufrieden geben: es macht ihm Unbehagen, sich sich selbst überlassen zu sehen. Daher denn jener Widerwille, jenes Mißfallen an sich selbst, jenes Hin- und Herschwanken des nirgends einen festen Halt findenden Gemütes; daher jenes trübselige und krankhafte Sichhinschleppen in der Muße; schämt er sich vollends, die Ursachen seines Unbehagens einzugestehen, treibt ihn also die sittliche Scheu, die Qualen sich ganz nur in seinem Inneren abspielen zu lassen, dann erwürgen sich die so in die Enge getriebenen Leidenschaften, vergebens nach einem Ausweg suchend, einander selbst. Daher die Trübseligkeit, die Mattigkeit, das tausendfältige Hin- und Herschwanken der ihrer Selbstgewißheit völlig verlustig gegangenen Seele, die, wenn sich Hoffnungen auftun, gleich oben hinaus will, sind sie fehlgeschlagen, dann in Verzagtheit und Trauer versinkt; daher die Stimmung, die sie dazu bringt, ihre Muße zu verwünschen und zu jammern, daß sie nichts mehr zu tun haben, daher der grimmige Neid über das Emporkommen anderer. Denn die Scheelsucht wird genährt durch den unseligen Müßiggang: man wünscht allen den Sturz, weil man sich selbst nicht in die Höhe bringen konnte; aus diesem Widerwillen gegen die Fortschritte anderer und der Verzweiflung am eigenen Fortkommen entspringt dann der Ingrimm gegen das Schicksal, der über den Zeitgeist jammert, sich zu verstecken sucht und über seine eigene Strafe hinbrütet, in Scham und Verdruß über sich selbst. Denn von Natur ist der menschliche Geist voll Regsamkeit und Bewegungsbedürfnis. Jede Gelegenheit sich zu regen und aus sich selbst herauszutreten ist ihm willkommen, am willkommensten den durchtriebensten Geistern, die ihre Freude daran finden, sich von einem Geschäft ins andere zu stürzen. Wie gewisse Geschwüre es an sich haben, nach an sich ihnen schädlichen Betastungen zu verlangen, und es begrüßen, wenn eine Hand sie ihnen gewährt, und wie die häßliche Krätze am Körper ein wahres Entzücken empfindet, wenn man sie durch Reiben reizt, ebenso, möchte ich behaupten, sind den Geistern, an denen Leidenschaften wie böse Geschwüre ausbrechen, Mühe und Plackereien ein Genuß. Gibt es ja doch mancherlei, was auch unserem Körper Lust und Schmerz zugleich bereitet, zum Beispiel, sich im Liegen umzudrehen und sich auf die noch nicht müde Seite zu legen und wechselnd bald diese, bald jene Lage zu wählen, wie Achilles bei Homer, der sich bald auf die Brust, bald auf den Rücken legt und sich selbst die verschiedensten Lagen gibt nach Art des Kranken, der es nicht in einer Lage aushält und jede Veränderung wie eine Erlösung begrüßt.
Auch Reisen unternimmt man dahin und dorthin, durchwandert auch das Küstengelände, und bald zu Wasser bald zu Lande versucht sich der dem Gegenwärtigen immer abholde Veränderungsdrang. »Jetzt ist Kampanien die Losung.« Doch nicht lange, so hat man die Überkultur satt. »Urwüchsiges Gelände laßt uns beschauen, durchwandern wir denn die Bergwaldungen Bruttiums und Lukaniens.« Doch inmitten dieser Einöden darf es auch nicht an einer erfreulichen Entschädigung fehlen, an einem Ort, wo verwöhnte Augen sich wieder erholen können von dem schaurigen Blick auf grauenhaft wilde Länderstrecken. »Auf denn, nach Tarent mit seinem gefeierten Hafen, mit seinem milden Winter, eine Gegend, die selbst für die große Masse der Bevölkerung reichlichen Ertrag lieferte.« Gar zu lange schon hat das Ohr auf das Beifallklatschen und das Jubelgetöse verzichten müssen; es regt sich wieder die Lust, auch Menschenblut (im Zirkus) fließen zu sehen: »Laßt uns also den Kurs wieder auf Rom richten.« Eine Reise folgt auf die andere, ein Schauspiel auf das andere, wie Lukrez sagt:
So sucht jeder die Flucht vor sich selbst.
Aber was hilft es, wenn er sich nicht selber entfliehen kann? Er folgt sich selbst und ist sein eigener lästigster Begleiter. Es ist also - darüber müssen wir uns klar sein, nicht des Ortes Schuld, sondern unsere eigene, unter der wir leiden: wir ermangeln der Kraft, alles zu erdulden, weder mit Mühsal noch mit Lust, weder mit uns noch mit irgend einer Sache können wir auf die Dauer uns abfinden. Manche hat das in den Tod getrieben, daß sie, ihren Vorsatz häufig ändernd, doch immer wieder auf das Nämliche zurückkamen und zu nichts Neuem mehr kommen konnten: sie wurden des Lebens und der Welt überdrüssig, und es drängte sich ihnen auf die Lippe die Frage der heillosen Genußmenschen: »Ach, wie lange noch immer wieder dasselbe?« (...)
Das erste, was wir tun müssen, ist, uns selbst genau zu prüfen, sodann die Geschäfte, denen wir uns widmen wollen, und drittens die Leute, für die oder mit denen wir uns zu tun machen.
Vor allem ist es nötig, unsere eigenen Kräfte genau abzuschätzen; denn gewöhnlich überschätzen wir unsere Kraft: der eine kommt zu Fall durch das blinde Vertrauen auf seine Beredsamkeit, der andere überschätzt sein ererbtes Vermögen und gerät darüber in Schulden, ein dritter mutet in rastlosem Diensteifer seinem schwächlichen Körper zu viel zu. (Es ist zu erwägen, ob deine Natur geeigneter ist für das Geschäftsleben oder für ruhige Studien und für die Beschaulichkeit, und du mußt dich dem zuwenden, wohin die Eigenart deiner Begabung dich zieht - Isokrates führte den Ephorus eigenhändig vom Forum weg, weil er von ihm mehr erwartete, wenn er sich der Geschichtschreibung zuwendete - denn der Geisteszwang wirkt meist lähmend, alle Mühe ist umsonst, wenn die Natur widerstrebt.) Bei manchen ist die Schüchternheit ein Hemmnis für den Staatsdienst, der eine feste Stärke erfordert; andere macht ihr Starrsinn ungeeignet für den Hof; wieder andere können ihren Zorn nicht bemeistern, und jede Verstimmung reißt sie zu unbesonnenen Äußerungen hin; der oder jener Witzling versteht sich nicht genug zu beherrschen und kann gefährliche Späße und Einfälle nicht bei sich behalten. Für alle diese taugt die Ruhe mehr als das Geschäftsleben; eine stürmische und leidenschaftliche Natur tut gut, den Reizungen einer für sie bedrohlichen Freiheit auszuweichen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Denn den Menschen wird Wohlgemutheit zuteil durch Mäßigung der Lust und des Lebens rechtes Maß. Mangel und Überfluß dagegen pflegt umzuschlagen und große Bewegungen in der Seele zu verursachen. Die in großem Pendelschlag sich bewegenden Seelen sind weder wohlbeständig noch wohlgemut. Auf das Mögliche muß man also den Sinn richten und sich mit dem Vorhandenen begnügen, ohne der Beneideten und Bewunderten viel zu achten und mit dem Gedanken ihnen anzuhaften; vielmehr muß man auf die Lebensschicksale der Trübsalbeladenen schauen und sich dabei wirklich vergegenwärtigen, was sie leiden, auf daß dir deine Lage und dein Besitz groß und beneidenswert erscheine und es dir nicht mehr begegne, weil du nach mehr begehrst, Übles zu erleiden in der Seele. Denn wer die Besitzenden und von den anderen Menschen selig Gepriesenen bewundert und mit seinen Gedanken ihnen zu jeglicher Stunde anhaftet, wird dazu gezwungen, stets etwas Neues zu unternehmen und sich aus Gier darauf zu werfen, etwas Unsühnbares auszuführen, von dem was die Gesetze verbieten. Deshalb also soll man dem einen nicht nachjagen und mit dem andern soll man es sich wohlgemut sein lassen, indem man sein eigenes Leben mit dem Leben derjenigen vergleicht, denen es schlechter geht, und in Beherzigung ihrer Leiden sich selbst selig preisen, daß man es soviel besser hat und treibt. Hältst du dich nämlich an diese Erkenntnis, so wirst du wohlgemuter leben und nicht wenige Fluchgeister im Leben verscheuchen: Mißgunst, Ehrsucht und Feindseligkeit.
Überschreitet man das richtige Maß, so kann das Angenehmste zum Unangenehmsten werden.
Gesundheit fordern in ihren Gebeten die Menschen von den Göttern; daß sie aber die Macht darüber in sich selbst haben, wissen sie nicht, sondern indem sie durch ihre Unmäßigkeit ihr entgegenwirken, werden sie selbst Verräter an der Gesundheit durch ihre Gelüste.
Wer vom Bauch her seine Genüsse sucht und in Speise, Trank oder Liebesgenuß das rechte Maß überschreitet, für die alle sind die Genüsse nur kurz und von geringer Dauer, so lange sie eben essen oder trinken, die Leiden aber zahlreich. Denn dieses Begehren ist stets wieder nach denselben Dingen vorhanden, und sobald ihnen wird, wonach sie begehren, ist der Genußrasch vergangen und sie haben nichts Rechtes davon als eine kurze Lust: dann stellt sich wieder dasselbe Bedürfnis ein.
Von der Lust zu leben
Toren leben ohne Freude am Leben.
Das böse, unverständige, unkeusche und unheilige Leben sei nicht ein böses Leben, sondern ein langdauerndes Sterben.
Wer sich wohlgemut zu gerechten und gesetzlichen Handlungen hingetrieben fühlt, der ist Tag und Nacht heiter und stark und unbekümmert; doch wer die Gerechtigkeit vernachlässigt und nicht tut, was not tut, dem wird alles solches zur Unlust, wenn er sich an etwas davon erinnert, und er ist in Angst und peinigt sich selbst.
Toren sind die, die das Leben hassen und trotzdem leben wollen aus Angst vor dem Hades.
Toren sehnen sich nach dem Leben, da sie den Tod fürchten.
Toren wollen aus Furcht vor dem Tode alt werden.
Manche Leute, die von der Auflösung der menschlichen Natur nichts wissen, aber im Bewußtsein ihrer schlechten Handlungsweise im Leben sind, mühen sich ihre Lebenszeit in Unruhen und Ängsten ab, indem sie erlogene Fabeln über die Zeit nach dem Ende erdichten.
Menschen, die vor dem Tode fliehen, laufen ihm nach.
Der Geist, der sich gewöhnt, aus sich selbst die Freuden zu schöpfen.
Göttlichen Geistes ist es, immer etwas Schönes zu erdenken.
Die großen Freuden stammen aus der Betrachtung der schönen Werke. Von den Vergnügungen erfreut das, was am seltensten kommt,
am meisten. Ein Leben ohne Festfeier ist ein langer Weg ohne Gasthäuser. Keinen Genuß soll man sich gönnen, wenn er nicht zuträglich
ist. Unzeitige Lüste erzeugen Unlüste.
Vom rechten Gut
Für alle Menschen ist dasselbe gut und wahr: angenehm freilich ist dem einen dies, dem andern das.
Wer die Güter der Seele wählt, wählt die göttlicheren, wer die des Leibes, die menschlichen.
Das Beste für den Menschen ist, sein Leben soviel wie möglich wohlgemut und so wenig wie möglich mißmutig zu verbringen. Dies wird aber dann der Fall sein, wenn man nicht am Sterblichen seine Lust findet.
Nicht jede Lust, sondern nur die Lust am Schönen soll man erstreben.
Rechtmäßige Leidenschaft: ohne Frevel nach den schönen Dingen streben.
Seneca
Von der Seelenruhe
Brief an Serenus
Glaube mir, mein Serenus, lange schon suche ich selbst im stillen mir die Frage zu beantworten, womit ich einen Gemütszustand wie den deinigen etwa vergleichen könnte, und ich finde kein passenderes Seitenstück dazu, als den Zustand derer, die nach überstandener langer und schwerer Krankheit ab und zu von kleinen Störungen und leichten Anfällen heimgesucht werden und, selbst wenn sie auch die Rückstände der eigentlichen Krankheit bereits überwunden haben, sich doch noch von Argwohn beunruhigt fühlen und, schon genesen, sich doch noch von den Ärzten den Puls fühlen lassen und in jeder Steigerung ihrer Körperwärme Anlaß zu allerhand Quengeleien finden. Bei ihnen, mein Serenus, steht es nicht etwa so, daß der Körper nicht völlig gesund wäre, nein! er hat sich nur noch nicht hinreichend an die Gesundheit gewöhnt: so zeigt auch das ruhige Meer noch eine gewisse zitternde Bewegung, wenn der Sturm sich gelegt hat. Es bedarf also bei dir nicht jener kräftigeren Mittel, über die wir bereits hinaus sind; du brauchst nicht dir selbst schroff entgegenzutreten, brauchst nicht in Zorn gegen dich auszubrechen, brauchst nicht die derbsten, die strengsten Seiten hervorzukehren, sondern mußt, was allerdings erst zuletzt kommt, dir selbst vertrauen und glauben, daß du auf dem rechten Wege seiest, unbeirrt durch die nach allen möglichen Seiten hinweisenden Spuren zahlreicher anderer, darunter auch solcher, die überhaupt wie blind umhertappen. Das, wonach du sehnlichstes Verlangen trägst, ist aber etwas Großes, Erhabenes, nahezu Göttliches, nämlich Unerschütterlichkeit. Diese Bestandesfestigkeit der Seele nennen die Griechen Euthymia (Wohlgemutheit), über die es eine vortreffliche Schrift des Demokrit gibt. Ich nenne sie Gemütsruhe, denn es ist nicht nötig, die Worte formgetreu nachzuahmen und zu übertragen; die Sache selbst, um die es sich handelt, muß mit einem passenden Ausdruck bezeichnet werden, der die griechische Benennung der Bedeutung nach wiedergibt, nicht der äußeren Form nach.
Unsere Frage geht also dahin, wie man der Seele zu einem gleichmäßigen und heilsamen Gange verhelfen kann, dergestalt, daß sie in bestem Einvernehmen mit sich stehe und ihre Freude an sich selbst habe und diese Freude nicht unterbreche, sondern immer im Zustand friedlicher Ruhe verharre, sich weder überhebend noch sich herabwürdigend: das wird das Wesen der Gemütsruhe ausmachen. Wie man dazu gelangen könne, will ich im allgemeinen untersuchen: Du wirst dir aus dieser allgemeinen Anweisung herausnehmen, was du für dich gut findest. Doch muß das Übel im ganzen ans Licht gezogen werden; jeder kann sich dann seinen Teil daraus entnehmen. Zugleich wirst du daraus ersehen, wieviel geringere Not du mit deiner Selbstquälerei hast als die, welche gefesselt durch den Glanz einer hohen Stellung und belästigt durch die Verpflichtungen eines hohen Titels, mehr durch ein gewisses schamhaftes Ehrgefühl als durch wirkliche Neigung in ihrer Gleisnerei festgehalten werden.
Alle sind sie in der nämlichen Lage, sowohl die vom Leichtsinn Besessenen wie die vom Überdruß und von beständiger Veränderungssucht Geplagten, denen immer das besser gefällt, was sie aufgegeben haben, nicht minder die Faulenzer und Tagediebe. Ihnen reihen sich noch die an, die, wie die schwer Einschlafenden, sich hin und herwälzen und sich bald auf die eine, bald auf die andere Seite werfen, bis sie endlich vor Müdigkeit Ruhe finden; der beständige Wechsel ihrer Lebensweise führt dann dahin, daß sie endlich bei derjenigen stehen bleiben, bei der nicht etwa der Widerwille gegen Veränderung, sondern das Alter sie festhält, das nicht mehr die Regsamkeit zu Neuerungen hat; dazu gesellen sich noch die, deren geringe Beweglichkeit nicht etwa auf Charakterfestigkeit zurückzuführen ist, sondern auf Schlendrian: sie leben nicht eigentlich, wie sie wollen, sondern wie sie einmal angefangen haben. Daneben gibt es noch unzählige Spielarten; aber die Wirkung des Fehlers kommt auf dasselbe hinaus, auf das Mißfallen an sich selbst. Dies Mißvergnügen hat seinen Grund in der Ungebärdigkeit des Seelenzustandes und in den begehrlichen Trieben, die entweder nicht entschieden genug oder erfolglos sind: es fehlt entweder an dem der Höhe der Wünsche entsprechenden Wagemut oder an der Gunst des Schicksals zur Erreichung derselben; man stellt seine Rechnung immer ganz und gar auf die Zukunft - eine ewige Unrast, ein beständiges Schwanken, wie es unausbleiblich ist in solchen Schwebezuständen! Immer sind es nur die eigenen Wünsche, wodurch diese Leute sich bestimmen lassen; ja, das Unehrbare und schwer zu Erreichende wird für sie ein Gegenstand der Selbstbelehrung und des Zwanges; und erweist sich alle Mühe als erfolglos, so quält sie das Unwürdige ihrer vergeblichen Anstrengungen, und es schmerzt sie, nicht etwa, daß sie Verwerfliches, sondern daß sie es vergebens gewollt haben. Da werden sie denn von Reue gepackt über ihr Beginnen und von Angst vor einem neuen Anfang, und es stellt sich jener schwankende Gemütszustand ein, der keinen Ausweg findet, weg sie ihre Begierden weder zu beherrschen noch ihnen nachzugeben vermögen; daher denn auch die Hemmung des einer festen Entscheidung unfähigen Lebens und das Einrosten der inmitten vereitelter Wünsche erstarrenden Geisteskraft.
Das alles wird noch drückender, wenn sie aus Haß gegen das ihnen zu so großem Unheil ausschlagende Geschäftsleben ihre Zuflucht zur Muße nehmen, zu weltfremden Studien, die sich nicht vertragen mit einer von vornherein auf staatsmännische Tätigkeit angelegten Sinnesart, der es aufs Handeln ankommt und der die Unruhe natürliches Bedürfnis ist; hat sie doch in sich zu wenig, was ihr Trost gewähren könnte. Werden einem so Gearteten die erfrischenden Anregungen entzogen, die das Geschäftsleben mit all seinem bunten Hin und Her ihm gewährt, so kann er sich mit dem Haus, mit der Einsamkeit, mit seinen vier Wänden nicht zufrieden geben: es macht ihm Unbehagen, sich sich selbst überlassen zu sehen. Daher denn jener Widerwille, jenes Mißfallen an sich selbst, jenes Hin- und Herschwanken des nirgends einen festen Halt findenden Gemütes; daher jenes trübselige und krankhafte Sichhinschleppen in der Muße; schämt er sich vollends, die Ursachen seines Unbehagens einzugestehen, treibt ihn also die sittliche Scheu, die Qualen sich ganz nur in seinem Inneren abspielen zu lassen, dann erwürgen sich die so in die Enge getriebenen Leidenschaften, vergebens nach einem Ausweg suchend, einander selbst. Daher die Trübseligkeit, die Mattigkeit, das tausendfältige Hin- und Herschwanken der ihrer Selbstgewißheit völlig verlustig gegangenen Seele, die, wenn sich Hoffnungen auftun, gleich oben hinaus will, sind sie fehlgeschlagen, dann in Verzagtheit und Trauer versinkt; daher die Stimmung, die sie dazu bringt, ihre Muße zu verwünschen und zu jammern, daß sie nichts mehr zu tun haben, daher der grimmige Neid über das Emporkommen anderer. Denn die Scheelsucht wird genährt durch den unseligen Müßiggang: man wünscht allen den Sturz, weil man sich selbst nicht in die Höhe bringen konnte; aus diesem Widerwillen gegen die Fortschritte anderer und der Verzweiflung am eigenen Fortkommen entspringt dann der Ingrimm gegen das Schicksal, der über den Zeitgeist jammert, sich zu verstecken sucht und über seine eigene Strafe hinbrütet, in Scham und Verdruß über sich selbst. Denn von Natur ist der menschliche Geist voll Regsamkeit und Bewegungsbedürfnis. Jede Gelegenheit sich zu regen und aus sich selbst herauszutreten ist ihm willkommen, am willkommensten den durchtriebensten Geistern, die ihre Freude daran finden, sich von einem Geschäft ins andere zu stürzen. Wie gewisse Geschwüre es an sich haben, nach an sich ihnen schädlichen Betastungen zu verlangen, und es begrüßen, wenn eine Hand sie ihnen gewährt, und wie die häßliche Krätze am Körper ein wahres Entzücken empfindet, wenn man sie durch Reiben reizt, ebenso, möchte ich behaupten, sind den Geistern, an denen Leidenschaften wie böse Geschwüre ausbrechen, Mühe und Plackereien ein Genuß. Gibt es ja doch mancherlei, was auch unserem Körper Lust und Schmerz zugleich bereitet, zum Beispiel, sich im Liegen umzudrehen und sich auf die noch nicht müde Seite zu legen und wechselnd bald diese, bald jene Lage zu wählen, wie Achilles bei Homer, der sich bald auf die Brust, bald auf den Rücken legt und sich selbst die verschiedensten Lagen gibt nach Art des Kranken, der es nicht in einer Lage aushält und jede Veränderung wie eine Erlösung begrüßt.
Auch Reisen unternimmt man dahin und dorthin, durchwandert auch das Küstengelände, und bald zu Wasser bald zu Lande versucht sich der dem Gegenwärtigen immer abholde Veränderungsdrang. »Jetzt ist Kampanien die Losung.« Doch nicht lange, so hat man die Überkultur satt. »Urwüchsiges Gelände laßt uns beschauen, durchwandern wir denn die Bergwaldungen Bruttiums und Lukaniens.« Doch inmitten dieser Einöden darf es auch nicht an einer erfreulichen Entschädigung fehlen, an einem Ort, wo verwöhnte Augen sich wieder erholen können von dem schaurigen Blick auf grauenhaft wilde Länderstrecken. »Auf denn, nach Tarent mit seinem gefeierten Hafen, mit seinem milden Winter, eine Gegend, die selbst für die große Masse der Bevölkerung reichlichen Ertrag lieferte.« Gar zu lange schon hat das Ohr auf das Beifallklatschen und das Jubelgetöse verzichten müssen; es regt sich wieder die Lust, auch Menschenblut (im Zirkus) fließen zu sehen: »Laßt uns also den Kurs wieder auf Rom richten.« Eine Reise folgt auf die andere, ein Schauspiel auf das andere, wie Lukrez sagt:
So sucht jeder die Flucht vor sich selbst.
Aber was hilft es, wenn er sich nicht selber entfliehen kann? Er folgt sich selbst und ist sein eigener lästigster Begleiter. Es ist also - darüber müssen wir uns klar sein, nicht des Ortes Schuld, sondern unsere eigene, unter der wir leiden: wir ermangeln der Kraft, alles zu erdulden, weder mit Mühsal noch mit Lust, weder mit uns noch mit irgend einer Sache können wir auf die Dauer uns abfinden. Manche hat das in den Tod getrieben, daß sie, ihren Vorsatz häufig ändernd, doch immer wieder auf das Nämliche zurückkamen und zu nichts Neuem mehr kommen konnten: sie wurden des Lebens und der Welt überdrüssig, und es drängte sich ihnen auf die Lippe die Frage der heillosen Genußmenschen: »Ach, wie lange noch immer wieder dasselbe?« (...)
Das erste, was wir tun müssen, ist, uns selbst genau zu prüfen, sodann die Geschäfte, denen wir uns widmen wollen, und drittens die Leute, für die oder mit denen wir uns zu tun machen.
Vor allem ist es nötig, unsere eigenen Kräfte genau abzuschätzen; denn gewöhnlich überschätzen wir unsere Kraft: der eine kommt zu Fall durch das blinde Vertrauen auf seine Beredsamkeit, der andere überschätzt sein ererbtes Vermögen und gerät darüber in Schulden, ein dritter mutet in rastlosem Diensteifer seinem schwächlichen Körper zu viel zu. (Es ist zu erwägen, ob deine Natur geeigneter ist für das Geschäftsleben oder für ruhige Studien und für die Beschaulichkeit, und du mußt dich dem zuwenden, wohin die Eigenart deiner Begabung dich zieht - Isokrates führte den Ephorus eigenhändig vom Forum weg, weil er von ihm mehr erwartete, wenn er sich der Geschichtschreibung zuwendete - denn der Geisteszwang wirkt meist lähmend, alle Mühe ist umsonst, wenn die Natur widerstrebt.) Bei manchen ist die Schüchternheit ein Hemmnis für den Staatsdienst, der eine feste Stärke erfordert; andere macht ihr Starrsinn ungeeignet für den Hof; wieder andere können ihren Zorn nicht bemeistern, und jede Verstimmung reißt sie zu unbesonnenen Äußerungen hin; der oder jener Witzling versteht sich nicht genug zu beherrschen und kann gefährliche Späße und Einfälle nicht bei sich behalten. Für alle diese taugt die Ruhe mehr als das Geschäftsleben; eine stürmische und leidenschaftliche Natur tut gut, den Reizungen einer für sie bedrohlichen Freiheit auszuweichen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt
Dilmaghani, DavidDavid Dilmaghani promoviert an den Universitäten in Bordeaux und Frankfurt am Main. Nach seinem Studium der Philosophie, Politologie,Volkswirtschaftslehre und Psychoanalyse in Frankfurt am Main und Paris war er zunächst als Dramaturg am Theater tätig. Ästhetische Einsichten, die sich hier gewinnen ließen, sind auch Gegenstand seiner gegenwärtigen Arbeiten zur Politischen Philosophie. Sahraoui, NassimaNassima Sahraoui promoviert am Institut für Philosophie der Universität Frankfurt am Main mit einer Arbeit zum Begriff der Kraft an den Schnittstellen zwischen Politischer Philosophie, Komparatistik und Erkenntnistheorie. Bis 2011 war sie Lehrbeauftragte an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Sie ist Organisatorin internationaler Konferenzen zur Kritischen Theorie und zur Philosophie Jacques Derridas.
Bibliographische Angaben
- 2012, 1. Auflage, 256 Seiten, Maße: 12,6 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Hrsg. v. David Dilmaghani u. Nassima Sahraoui
- Herausgegeben: David Dilmaghani, Nassima Sahraoui
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 359690496X
- ISBN-13: 9783596904969
- Erscheinungsdatum: 12.12.2012
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