Nicht mein Tag
Roman
»Das Lustigste seit Kafka.« (Christian Ulmen)
Till Reiners ist einer, der so ist wie alle, und bislang hat er das für etwas Positives gehalten. Da wo Till ist, ist es nicht trendy. Schon sein Name ist nicht hip, und dann wohnt er auch noch am Rande des...
Till Reiners ist einer, der so ist wie alle, und bislang hat er das für etwas Positives gehalten. Da wo Till ist, ist es nicht trendy. Schon sein Name ist nicht hip, und dann wohnt er auch noch am Rande des...
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Produktinformationen zu „Nicht mein Tag “
Klappentext zu „Nicht mein Tag “
»Das Lustigste seit Kafka.« (Christian Ulmen)Till Reiners ist einer, der so ist wie alle, und bislang hat er das für etwas Positives gehalten. Da wo Till ist, ist es nicht trendy. Schon sein Name ist nicht hip, und dann wohnt er auch noch am Rande des Ruhrgebiets und trägt einen Seitenscheitel. Er hat eine Frau und ein Kind und ein Leben wie eine Tatort-Folge: ziemlich deutsch, mäßig spannend, mit wenig Sex, und man ahnt nach der Hälfte, wie es ausgehen wird. Bis Nappo auftaucht, ein Kerl mit einer Tätowierung, einer Sporttasche und einer echten Waffe. Plötzlich ist alles anders: Ein Kaninchen stirbt, ein Mann wird zusammengeschlagen, ein unflotter Dreier findet statt, und Bruce Springsteen spielt dazu. Außerdem fehlen der Dresdner Bank mal eben 30.000 Euro. Und Till Reiners ist auch nicht mehr, was er mal war ...
Intelligenter muss Humor nicht sein: Der erste Roman von Stromberg-Erfinder und Grimme-Preisträger Ralf Husmann: die unglaublich gute Geschichte eines gar nicht guten Arbeitstages!
Lese-Probe zu „Nicht mein Tag “
Nicht mein Tag von Ralf Husmann1
Sein Seitenscheitel ist so out wie Volksmusik.
Er ist fluffiger als die Versionen, die man bei Hitlers Helfer sieht, gleichzeitig aber nicht zottelig genug, um als retro, trendy oder szenig durchzugehen.
Seit Till denken kann, hat er diesen Seitenscheitel. Vermutlich sogar noch länger. Vermutlich haben die Ärzte seiner Mutter bei seiner Geburt gesagt »Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Seitenscheitel«. Es ist praktisch das Einzige, was sein Vater ihm vererbt hat, abgesehen von ein paar Pfandbriefen. Und dann noch mit dieser Haarfarbe: Ein Eichhörnchenbraun. Ein Braun wie eine überreife Banane. Aber während ringsherum alle ständig ihre Frisuren wechseln, hat er keine Ahnung, was er anders machen sollte. Jedes Mal, wenn er in dem hochfahrbaren Frisierstuhl sitzt, befällt ihn eine Starre, eine klamme Mulmigkeit, dass die Friseurin, die halb so alt ist wie er, die vermutlich halb so viel verdient wie er, die wahrscheinlich nie ein Buch von innen gesehen hat, dass diese Friseurin ihn auslacht, innerlich, womöglich sogar äußerlich, sobald er eine andere Frisur vorschlägt. Die erste Nachfrage von ihr wird ihn komplett aus der Bahn werfen. Deswegen hat er noch immer den Seitenscheitel.
In zwei Jahren wird er vierzig sein und er hat keine Ahnung, wie andere Männer es schaffen, sich passende Frisuren auszusuchen. Till starrt auf sein Foto in dem Album, das Jessica ihm hinhält. Jessica wartet darauf, dass er ein paar Sätze unter seinen Seitenscheitel schreibt. Es geht auf den Feierabend zu, bis dahin sollte ihm ein Satz eingefallen sein, denn Herr Walther wird die Filiale gegen 17 Uhr abschließen, sobald der letzte Kunde den Schalterraum verlassen hat. Dann wollen sie ihm den faltbaren Angelstuhl schenken, für den die Belegschaft zusammengelegt hat, und das Album, mit Fotos von allen Kollegen,
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mit denen Herr Walther mal gearbeitet hat. Fotos und Widmungen. Widmungen, die einem erstmal einfallen müssen.
Und das, was er schreibt, muss jetzt quasi seinen Seitenscheitel wieder ausgleichen. Herr Walther wird heute 60. Deswegen hatte Frau Odra die Idee, zusätzlich zu dem faltbaren Angelstuhl noch das Album zu machen. Sie war extra in der Hauptstelle und hat alle fotografiert, mit denen Herr Walther mal etwas zu tun hatte. Sie hat sogar ein Bild von den türkischen Putzfrauen gemacht, die seit ein paar Jahren für die Reinigung der Filiale zuständig sind. Seit Frau Odra ihren Afrikaner geheiratet hat, legt sie Wert darauf, auch andere Minderheiten ordentlich zu behandeln. Tills Gehirn produziert nichts. Die Julihitze setzt die letzten Giftstoffe im durchgetretenen Teppichboden der Filiale Osthofen Süd frei, die Klimaanlage klappert pro forma, scheitert aber kläglich an ihrer eigentlichen Aufgabe.
Durch die Fensterfront dringt das Verkehrsrauschen aus der Welt, die groß, übervölkert und weitgehend von ihm unentdeckt draußen vor der Dresdner Bank liegt. Er hat keine Idee, was man jemandem schreibt, der 60 wird. »Schreib doch irgendwas. Schreib ›Piep, piep, piep, piep, wir haben Sie alle lieb.‹ Is doch egal . . .«, sagt Jessica. – »Ein Piep müssen wir leider abziehen, sonst holpert der Reim . . . bleiben drei Piep, das macht in Schilling . . .« Sie sieht ihn an, für einen winzigen Moment hat sie aufgehört, ihr Kaugummi zu kauen, aber stattdessen nicht angefangen zu lachen. Natürlich nicht. Jessica ist 24. Woher soll sie Anspielungen auf Dalli Dalli verstehen? Hans Rosenthal ist schon lange tot. Und Jessica ist nicht das hellste Licht am großen Baum der Dresdner Bankfiliale in Osthofen-Süd. »Wieso Schilling? Versteh ich nicht.« Er winkt ab. »Nicht schlimm.« Sie kaut weiter, sie sortiert Unterlagen, die ihr prompt aus der Hand fallen. Sie ist unfassbar dämlich und er will sie gern nackt sehen.
Am liebsten, während er auch nackt ist. Am allerliebsten, während sie dabei auf ihm sitzt und draußen vor dem Fenster Paris ist und nicht Osthofen-Süd und drinnen . . . Er muss aufhören damit! Er muss dringend aufhören damit! Er ist praktisch schon so gut wie 40, und das muss er seiner Libido auch mal mitteilen, oder seinem Testosteron, oder was auch immer bei ihm dafür zuständig ist, dass seine Phantasie dauernd vollgerümpelt wird mit einer nackten Jessica. Er muss etwas unter sein Foto schreiben, für Herrn Walther, der heute 60 wird und sein Zweigstellenleiter ist. Irgendwas Nettes sollte ihm einfallen. Aber der Teufel ist kein Eichhörnchen, wie oft behauptet wird, sondern Designer bei H&M und hatte die Idee mit den etwas zu kurzen Tops, die Jessica in diesem Sommer mit Vorliebe trägt. Jessica und ein Viertel ihres nackten Bauchs stehen gelangweilt vor Till. »Bei uns in der Schule hatten die Mädchen diese Poesiealben «, sagt er, »und Brigitte Schlünzke, die konnte ich nicht leiden, der hab ich reingeschrieben ›Wum fickt gut‹, und daneben hab ich Wum gezeichnet, wie er es Wendelin von hinten besorgt.« Er muss lachen, Jessica nicht. Sie sieht ihn an. »Das war damals . . . Wum war so ein Hund . . . und ein Elefant . . . die waren in so einer Show . . . im Fernsehen.« Er merkt, dass ihm die Erklärung missrät, und schiebt trotzdem hinterher: »Weil es doch den Spruch gibt, von wegen dumm, äh, also . . .« Er kann nicht zweimal hintereinander »fickt« sagen zu einer Kollegin, die zwanzig Jahre jünger ist als er. Er merkt, dass sie auch so durchaus verstanden hat, dass er das mit dem Sex nicht auf Hunde und Elefanten bezogen hat.
Dafür hat sie einen sechsten Sinn.
Vielleicht fehlen ihr die anderen fünf komplett, aber den sechsten Sinn für billige Anmache, den hat sie. Er ist sich in diesem Moment absolut sicher, dass der blöde Spruch stimmt. Mit Sicherheit ist Jessica eine Granate im Bett. Was immer das auch heißt. Er hat keine Ahnung, wenn er ehrlich ist. Jessica könnte es ihm zeigen, das fühlt er. Dabei sieht sie nach normalen Kriterien eher durchschnittlich aus. Nackt wäre sie eher in der Coupé als im Playboy. Sie ist ungefähr 1,65, schätzt er, parmesanblond, mit hellen Strähnchen, ein kleines bisschen fleischig um die Hüften, mit einem sparsamen, herzförmigen Gesicht, etwas zu vollen Wangen, leicht aufgeworfenen Lippen und herzzerreißenden Sommersprossen über der kleinen Nase, gerade jetzt, da sie vor zwei Wochen aus einem Ibiza-Urlaub wiedergekommen ist, wo sie offenbar bemüht war, alle Klischees über Ibiza-Urlauberinnen zu erfüllen. Zumindest ist sie reklamefähig braun und trägt deshalb ein ziemlich unseriöses rotes Top, und darunter ein weißes Trägerhemdchen und darunter nichts mehr, denn er sieht, wie sich bei jeder Bewegung ihre kleinen Brüste mitbewegen, einladend geformt wie perfekte Miniatursitzsäckchen, zwischen die er sich fallen lassen könnte, um . . . er muss aufhören damit. Er muss aufhören damit! Sie hockt sich hin, um die heruntergefallenen Unterlagen aufzusammeln, und zum circa neuntausendsten Mal fällt sein Blick auf die Tätowierung, die sie kurz über dem Steißbein hat.
Ein buntes Muster, geformt wie ein Motorradlenker. Er weiß, dass das erbärmlich ist. Er weiß, dass das ein international gültiges Zeichen für eine ganz billige Tussi ist. Und entsprechend hat sie schon das ein oder andere Mal gesagt, sie würde lieber irgendwas mit Fernsehen, Modeln oder Berühmtsein machen, als in der Bank zu arbeiten. Und so, wie sie selbst einfache Vorgänge bearbeitet, ist klar, dass ihre Chancen trillionenfach größer sind, bei einer dieser Richtershows im Nachmittagsfernsehen zu enden als beim Nobelpreiskomitee in Stockholm. Till ist das egal. Komplett wurscht.
Er sieht in der Tätowierung einen aufgemalten Wegweiser, einen subtilen Hinweis darauf, dass es unter der Gürtellinie weitergeht mit Jessica. Er sieht die kleinen, hellen Härchen, in der leichten Mulde am unteren Ende ihres straffen Rückens, ein vollendet weicher Flaum, den der sadistische Regisseur des Lebens jetzt auch noch mit Mittagssonne beleuchten lässt. Jetzt, da die Sonne auf die Tätowierung fällt, wirken die Farben auf ihrer Haut gedämpfter, weicher als sonst. Wenn er jetzt die Wahl hätte zwischen Leonardos Mona Lisa und Jessicas Tätowierung, müsste er keine Sekunde überlegen.
Wahrscheinlich hätte Leonardo heute sowieso ein Tattoo-Studio. Jessicas Tätowierung ist das bunte Vorspiel zu ihrem erdballrunden kleinen Hintern, grandios verpackt in einer fast weißen Hose, deren Bund tiefer hängt, als das bei Frauenhosen früher der Fall war. Das alles würde er ohne Zögern als Weltkulturerbe bezeichnen. Er muss aufhören damit. Er blickt sich um, ob irgendjemand ihn beobachtet hat, wie er Jessica beobachtet hat. Gott sei Dank nicht. Er hat bislang mit keinem der Kollegen in der Bank über Jessica gesprochen, und die Kollegen haben von sich aus sicher auch noch nichts bemerkt. Er ist vorsichtig und verheiratet genug, um nicht aufzufallen. Till sieht sich jetzt selber an, von seinem Foto, auf dem er unverändert nach wie vor seinen Seitenscheitel trägt. Es ist unwahrscheinlich, dass Jessica in ihrem Leben mit jemandem schlafen wird, der einen Seitenscheitel hat.
Auch wenn der Rest von ihm durchaus Chancen hätte, durch den Liebhaber-TÜV zu kommen. Er hat die handelsübliche Anzahl an Armen, Beinen, Augen, Ohren und Nasen, alles mehr oder weniger ohne besondere Kennzeichen, einen leichten Bauchansatz, der nur auffällt, wenn er eng geschnittene Hemden trägt, er ist durchschnittlich groß, einsdreiundachtzig. Heute trägt er eine sandfarbene Leinenhose und ein kurzärmeliges, weißes Hemd, das vermutlich besser wirken würde, wenn er ein bisschen braun wäre. Aber er ist kein modischer Unfall wie Herr Walther an den meisten Tagen des Jahres.
Till hat einen inselartigen Bartwuchs und eine kleine Narbe auf dem Kinn, von seinem Versuch, als Dreijähriger die Tischdecke vom Tisch zu ziehen, bei dem er auch den Kristallglasaschenbecher mitgerissen hat. Seither sieht sein Kinn aus wie ein erster, abgelehnter Entwurf für das Kinn von Kirk oder Michael Douglas. Trotzdem, insgesamt kann er zufrieden sein. Auf der Skala zwischen Brad Pitt und dem Elefantenmenschen ist er näher an Brad Pitt. Er hat schon Männer seiner Preisklasse gesehen, die es mit tätowierten Jessicas getrieben haben. In Pornos. Aber das ist nur ein marginaler Einwand, findet er.
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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009
Und das, was er schreibt, muss jetzt quasi seinen Seitenscheitel wieder ausgleichen. Herr Walther wird heute 60. Deswegen hatte Frau Odra die Idee, zusätzlich zu dem faltbaren Angelstuhl noch das Album zu machen. Sie war extra in der Hauptstelle und hat alle fotografiert, mit denen Herr Walther mal etwas zu tun hatte. Sie hat sogar ein Bild von den türkischen Putzfrauen gemacht, die seit ein paar Jahren für die Reinigung der Filiale zuständig sind. Seit Frau Odra ihren Afrikaner geheiratet hat, legt sie Wert darauf, auch andere Minderheiten ordentlich zu behandeln. Tills Gehirn produziert nichts. Die Julihitze setzt die letzten Giftstoffe im durchgetretenen Teppichboden der Filiale Osthofen Süd frei, die Klimaanlage klappert pro forma, scheitert aber kläglich an ihrer eigentlichen Aufgabe.
Durch die Fensterfront dringt das Verkehrsrauschen aus der Welt, die groß, übervölkert und weitgehend von ihm unentdeckt draußen vor der Dresdner Bank liegt. Er hat keine Idee, was man jemandem schreibt, der 60 wird. »Schreib doch irgendwas. Schreib ›Piep, piep, piep, piep, wir haben Sie alle lieb.‹ Is doch egal . . .«, sagt Jessica. – »Ein Piep müssen wir leider abziehen, sonst holpert der Reim . . . bleiben drei Piep, das macht in Schilling . . .« Sie sieht ihn an, für einen winzigen Moment hat sie aufgehört, ihr Kaugummi zu kauen, aber stattdessen nicht angefangen zu lachen. Natürlich nicht. Jessica ist 24. Woher soll sie Anspielungen auf Dalli Dalli verstehen? Hans Rosenthal ist schon lange tot. Und Jessica ist nicht das hellste Licht am großen Baum der Dresdner Bankfiliale in Osthofen-Süd. »Wieso Schilling? Versteh ich nicht.« Er winkt ab. »Nicht schlimm.« Sie kaut weiter, sie sortiert Unterlagen, die ihr prompt aus der Hand fallen. Sie ist unfassbar dämlich und er will sie gern nackt sehen.
Am liebsten, während er auch nackt ist. Am allerliebsten, während sie dabei auf ihm sitzt und draußen vor dem Fenster Paris ist und nicht Osthofen-Süd und drinnen . . . Er muss aufhören damit! Er muss dringend aufhören damit! Er ist praktisch schon so gut wie 40, und das muss er seiner Libido auch mal mitteilen, oder seinem Testosteron, oder was auch immer bei ihm dafür zuständig ist, dass seine Phantasie dauernd vollgerümpelt wird mit einer nackten Jessica. Er muss etwas unter sein Foto schreiben, für Herrn Walther, der heute 60 wird und sein Zweigstellenleiter ist. Irgendwas Nettes sollte ihm einfallen. Aber der Teufel ist kein Eichhörnchen, wie oft behauptet wird, sondern Designer bei H&M und hatte die Idee mit den etwas zu kurzen Tops, die Jessica in diesem Sommer mit Vorliebe trägt. Jessica und ein Viertel ihres nackten Bauchs stehen gelangweilt vor Till. »Bei uns in der Schule hatten die Mädchen diese Poesiealben «, sagt er, »und Brigitte Schlünzke, die konnte ich nicht leiden, der hab ich reingeschrieben ›Wum fickt gut‹, und daneben hab ich Wum gezeichnet, wie er es Wendelin von hinten besorgt.« Er muss lachen, Jessica nicht. Sie sieht ihn an. »Das war damals . . . Wum war so ein Hund . . . und ein Elefant . . . die waren in so einer Show . . . im Fernsehen.« Er merkt, dass ihm die Erklärung missrät, und schiebt trotzdem hinterher: »Weil es doch den Spruch gibt, von wegen dumm, äh, also . . .« Er kann nicht zweimal hintereinander »fickt« sagen zu einer Kollegin, die zwanzig Jahre jünger ist als er. Er merkt, dass sie auch so durchaus verstanden hat, dass er das mit dem Sex nicht auf Hunde und Elefanten bezogen hat.
Dafür hat sie einen sechsten Sinn.
Vielleicht fehlen ihr die anderen fünf komplett, aber den sechsten Sinn für billige Anmache, den hat sie. Er ist sich in diesem Moment absolut sicher, dass der blöde Spruch stimmt. Mit Sicherheit ist Jessica eine Granate im Bett. Was immer das auch heißt. Er hat keine Ahnung, wenn er ehrlich ist. Jessica könnte es ihm zeigen, das fühlt er. Dabei sieht sie nach normalen Kriterien eher durchschnittlich aus. Nackt wäre sie eher in der Coupé als im Playboy. Sie ist ungefähr 1,65, schätzt er, parmesanblond, mit hellen Strähnchen, ein kleines bisschen fleischig um die Hüften, mit einem sparsamen, herzförmigen Gesicht, etwas zu vollen Wangen, leicht aufgeworfenen Lippen und herzzerreißenden Sommersprossen über der kleinen Nase, gerade jetzt, da sie vor zwei Wochen aus einem Ibiza-Urlaub wiedergekommen ist, wo sie offenbar bemüht war, alle Klischees über Ibiza-Urlauberinnen zu erfüllen. Zumindest ist sie reklamefähig braun und trägt deshalb ein ziemlich unseriöses rotes Top, und darunter ein weißes Trägerhemdchen und darunter nichts mehr, denn er sieht, wie sich bei jeder Bewegung ihre kleinen Brüste mitbewegen, einladend geformt wie perfekte Miniatursitzsäckchen, zwischen die er sich fallen lassen könnte, um . . . er muss aufhören damit. Er muss aufhören damit! Sie hockt sich hin, um die heruntergefallenen Unterlagen aufzusammeln, und zum circa neuntausendsten Mal fällt sein Blick auf die Tätowierung, die sie kurz über dem Steißbein hat.
Ein buntes Muster, geformt wie ein Motorradlenker. Er weiß, dass das erbärmlich ist. Er weiß, dass das ein international gültiges Zeichen für eine ganz billige Tussi ist. Und entsprechend hat sie schon das ein oder andere Mal gesagt, sie würde lieber irgendwas mit Fernsehen, Modeln oder Berühmtsein machen, als in der Bank zu arbeiten. Und so, wie sie selbst einfache Vorgänge bearbeitet, ist klar, dass ihre Chancen trillionenfach größer sind, bei einer dieser Richtershows im Nachmittagsfernsehen zu enden als beim Nobelpreiskomitee in Stockholm. Till ist das egal. Komplett wurscht.
Er sieht in der Tätowierung einen aufgemalten Wegweiser, einen subtilen Hinweis darauf, dass es unter der Gürtellinie weitergeht mit Jessica. Er sieht die kleinen, hellen Härchen, in der leichten Mulde am unteren Ende ihres straffen Rückens, ein vollendet weicher Flaum, den der sadistische Regisseur des Lebens jetzt auch noch mit Mittagssonne beleuchten lässt. Jetzt, da die Sonne auf die Tätowierung fällt, wirken die Farben auf ihrer Haut gedämpfter, weicher als sonst. Wenn er jetzt die Wahl hätte zwischen Leonardos Mona Lisa und Jessicas Tätowierung, müsste er keine Sekunde überlegen.
Wahrscheinlich hätte Leonardo heute sowieso ein Tattoo-Studio. Jessicas Tätowierung ist das bunte Vorspiel zu ihrem erdballrunden kleinen Hintern, grandios verpackt in einer fast weißen Hose, deren Bund tiefer hängt, als das bei Frauenhosen früher der Fall war. Das alles würde er ohne Zögern als Weltkulturerbe bezeichnen. Er muss aufhören damit. Er blickt sich um, ob irgendjemand ihn beobachtet hat, wie er Jessica beobachtet hat. Gott sei Dank nicht. Er hat bislang mit keinem der Kollegen in der Bank über Jessica gesprochen, und die Kollegen haben von sich aus sicher auch noch nichts bemerkt. Er ist vorsichtig und verheiratet genug, um nicht aufzufallen. Till sieht sich jetzt selber an, von seinem Foto, auf dem er unverändert nach wie vor seinen Seitenscheitel trägt. Es ist unwahrscheinlich, dass Jessica in ihrem Leben mit jemandem schlafen wird, der einen Seitenscheitel hat.
Auch wenn der Rest von ihm durchaus Chancen hätte, durch den Liebhaber-TÜV zu kommen. Er hat die handelsübliche Anzahl an Armen, Beinen, Augen, Ohren und Nasen, alles mehr oder weniger ohne besondere Kennzeichen, einen leichten Bauchansatz, der nur auffällt, wenn er eng geschnittene Hemden trägt, er ist durchschnittlich groß, einsdreiundachtzig. Heute trägt er eine sandfarbene Leinenhose und ein kurzärmeliges, weißes Hemd, das vermutlich besser wirken würde, wenn er ein bisschen braun wäre. Aber er ist kein modischer Unfall wie Herr Walther an den meisten Tagen des Jahres.
Till hat einen inselartigen Bartwuchs und eine kleine Narbe auf dem Kinn, von seinem Versuch, als Dreijähriger die Tischdecke vom Tisch zu ziehen, bei dem er auch den Kristallglasaschenbecher mitgerissen hat. Seither sieht sein Kinn aus wie ein erster, abgelehnter Entwurf für das Kinn von Kirk oder Michael Douglas. Trotzdem, insgesamt kann er zufrieden sein. Auf der Skala zwischen Brad Pitt und dem Elefantenmenschen ist er näher an Brad Pitt. Er hat schon Männer seiner Preisklasse gesehen, die es mit tätowierten Jessicas getrieben haben. In Pornos. Aber das ist nur ein marginaler Einwand, findet er.
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise,
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Autoren-Porträt von Ralf Husmann
Ralf Husmann ist Erfinder und Autor von 'Stromberg', 'Dr. Psycho' und des neuen 'Tatort'-Teams Dresden mit Alwara Höfels. Er wurde mehrfach mit dem Deutschen Comedy-Preis, dem Deutschen Fernsehpreis sowie dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Husmann ist Kolumnist des 'KulturSPIEGEL' und schrieb die Romane 'Nicht mein Tag', verfilmt mit Moritz Bleibtreu, und 'Vorsicht vor Leuten', verfilmt mit Charly Hübner. Außerdem erschienen von ihm 'Das total gefälschte Geheim-Tagebuch vom Mann von Frau Merkel' und das ultimative Büro-Buch 'Stromberg - Die goldenen Job-Regeln'.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ralf Husmann
- 2011, 5. Aufl., 336 Seiten, Maße: 12,7 x 19,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596174783
- ISBN-13: 9783596174782
- Erscheinungsdatum: 04.06.2009
Rezension zu „Nicht mein Tag “
"Ein lustiger deutscher Unterhaltungsroman mit geschliffenen Dialogen, hervorragendem Timing und bemerkenswerter Beobachtungsgabe." (Denis Scheck, Der Tagesspiegel)
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