Der Ruf des Kiwis / Maori Bd.3
Roman. Originalausgabe
Neuseeland, 1908: Für Gloria bricht eine Welt zusammen, als sie Kiward Station verlassen muss. Mit ihrer Großkusine reist sie nach England. Doch dort fühlt sie sich fremd und ausgeschlossen. Sie will um jeden Preis nach Neuseeland...
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Produktinformationen zu „Der Ruf des Kiwis / Maori Bd.3 “
Neuseeland, 1908: Für Gloria bricht eine Welt zusammen, als sie Kiward Station verlassen muss. Mit ihrer Großkusine reist sie nach England. Doch dort fühlt sie sich fremd und ausgeschlossen. Sie will um jeden Preis nach Neuseeland zurück, ahnt aber nicht, welchen Preis sie dafür zahlen muss.
"Mit Sarah Larks Geschichten verbringt man die schönsten Lesestunden."
Sarah Rechlin
Klappentext zu „Der Ruf des Kiwis / Maori Bd.3 “
Neuseeland, Canterbury Plains 1907: Für Gloria bricht eine Welt zusammen, als sie Kiward Station verlassen muss. Mit ihrer Großcousine Lilian tritt sie die Reise nach England an, wo die beiden jungen Mädchen ein Internat besuchen sollen. Während Lilian sich rasch einlebt, fühlt sich Gloria fremd und ausgeschlossen. Um jeden Preis will sie nach Neuseeland zurück und schmiedet einen verwegenen Plan, der sie in höchste Gefahr bringt. So nimmt das Schicksal seinen Lauf, und einmal mehr zeigt sich, wie tiefe Gefühle die Menschen verzweifeln lassen - oder stark machen. Spannend und mitreißend schildert Sarah Lark die Geschichte einer neuseeländischen Familie, verwoben mit der Tradition der Maoris. Der dritte, in sich abgeschlossene Band der Bestsellertrilogie
Neuseeland, Canterbury Plains 1908: Gloria wächst auf Kiward Station auf. Ihre glückliche Kindheit endet jäh, als sie mit ihrer Großkusine Lilian in ein englisches Internat geschickt wird. Während Lilian sich dem Leben in der alten Welt anpasst, beginnt Gloria ihre Eltern dafür zu hassen, dass sie ihr ein neues Leben aufgezwängt haben. Um jeden Preis will sie nach Neuseeland zurück. Sie schmiedet einen verwegenen Plan, der sie in höchste Gefahr bringt ... Das Schicksal nimmt seinen Lauf und einmal mehr zeigt sich, wie tiefe Gefühle die Menschen verzweifeln lassen können oder sie stark machen. Spannend und mitreißend schildert Sarah Lark die Geschichte einer neuseeländischen Familie, verwoben mit der Tradition der Maori. Der dritte, in sich abgeschlossene Band der Bestsellertrilogie.
Lese-Probe zu „Der Ruf des Kiwis / Maori Bd.3 “
Der Ruf des Kiwis von Sarah Lark 1
»Ein Wettrennen! Komm, Jack, bis zum Ring der Steinkrieger!«
Gloria wartete Jacks Antwort gar nicht erst ab, sondern brachte ihr fuchsfarbenes Pony gleich neben seinem Pferd in Startposition. Als Jack ergeben nickte, legte Gloria leicht die Unterschenkel an, und die kleine Stute stob davon.
Jack McKenzie, ein junger Mann mit rotbraunem lockigem Haar und ruhigen, grünbraunen Augen, ließ sein Pferd ebenfalls angaloppieren und folgte dem Mädchen über das schier endlose Grasland von Kiward Station. Jack hatte keine Chance, Gloria mit seinem kräftigen, eher langsamen Cobwallach einzuholen. Er war auch zu groß für einen Jockey, aber er gönnte dem Mädchen den Spaß. Gloria war mächtig stolz auf das pfeilschnelle Pony aus England, das wie ein Vollblüter in Kleinformat wirkte. Soweit Jack sich erinnerte, war es das erste Geburtstagsgeschenk ihrer Eltern, mit dem Gloria wirklich glücklich war. Der Inhalt der Pakete aus Europa, die sonst in unregelmäßigen Abständen für sie eintrafen, war wenig spektakulär: ein Rüschenkleid samt Fächer und Kastagnetten aus Sevilla; goldfarbene Schühchen aus Mailand; eine winzige Straußenlederhandtasche aus Paris ... alles Dinge, die auf einer Schaffarm in Neuseeland nicht sonderlich von Nutzen waren, und die sich sogar für gelegentliche Besuche in Christchurch als viel zu extravagant erwiesen.
... mehr
Doch Glorias Eltern dachten nicht an so etwas, im Gegenteil. William und Kura Martyn stellten es sich wahrscheinlich amüsant vor, die eher hausbackene Gesellschaft in den Canterbury Plains durch einen Hauch »Große Welt« zu schockieren. Hemmungen und Schüchternheit waren beiden fremd, und sie gingen selbstverständlich davon aus, dass ihre Tochter ähnlich fühlte.
Während Jack nun in halsbrecherischem Tempo über Feldwege preschte, um das Mädchen wenigstens nicht aus den Augen zu verlieren, dachte er an Glorias Mutter. Kura-maro-tini, die Tochter seines Halbbruders Paul Warden, war eine exotische Schönheit und mit einer außergewöhnlichen Stimme gesegnet. Die Musikalität verdankte sie wohl eher ihrer Mutter, der Maori-Sängerin Marama, als ihren weißen Verwandten. Kura hatte von klein auf den Wunsch gehegt, die Opernwelt in Europa zu erobern, und unablässig ihre Stimme ausgebildet. Jack war gemeinsam mit ihr auf Kiward Station aufgewachsen und dachte heute noch mit Grausen an Kuras Gesangsübungen und ihre schier endlose Klavierspielerei. Dabei hatte es zunächst so ausgesehen, als gäbe es im ländlichen Neuseeland keine Chance für sie, ihre Träume zu verwirklichen -- bis sie in William Martyn, ihrem Mann, endlich den Bewunderer fand, der ihre Talente zur Geltung zu bringen wusste. Seit Jahren tourten die beiden mit einer Gruppe von Maori-Sängern und Tänzern durch Europa. Kura war der Star eines Ensembles, das traditionelle Maori-Musik mit westlichen Instrumenten zu eigenwilligen Interpretationen verband.
»Gewonnen!« Gekonnt verhielt Gloria ihr lebhaftes Pony inmitten der Felsformation, die man den »Ring der Steinkrieger« nannte. »Und da hinten sind auch die Schafe!«
Die kleine Herde Mutterschafe war der eigentliche Grund für Jacks und Glorias Ausritt. Die Tiere hatten sich selbstständig gemacht und weideten nun in der Gegend des Steinkreises auf einem Landstück, das dem örtlichen Maori-Stamm heilig war. Gwyneira McKenzie-Warden, der die Leitung der Farm oblag, achtete die religiösen Gefühle der Ureinwohner, obwohl das Land zu Kiward Station gehörte. Es gab Weiden genug für die Schafe und Rinder, sodass die Tiere nicht auf Maori-Heiligtümern herumstreunen mussten. Deshalb hatte sie Jack beim Mittagessen gebeten, die Schafe einzutreiben, was auf Glorias lebhaften Protest stieß.
»Das kann ich doch machen, Grandma! Nimue muss noch lernen!«
Seit Gloria ihren ersten eigenen Hütehund trainiert hatte, drängte es sie nach größeren Aufgaben auf der Farm, sehr zur Freude Gwyneiras. Auch diesmal lächelte sie ihre Urenkelin an und nickte ihr zu.
»In Ordnung, aber Jack wird dich begleiten«, bestimmte sie, obwohl sie selbst nicht sagen konnte, weshalb sie das Mädchen nicht allein reiten ließ. Im Grunde bestand kein Anlass zur Sorge: Gloria kannte die Farm wie ihre Westentasche, und alle Menschen auf Kiward Station kannten und liebten Gloria.
Mit ihren eigenen Kindern war Gwyneira längst nicht so übervorsichtig gewesen. Ihre älteste Tochter Fleurette war schon als Achtjährige vier Meilen zu der kleinen Schule geritten, die Gwyneiras Freundin Helen damals auf einer Nachbarfarm betrieb. Aber Gloria war etwas anderes. Gwyneiras sämtliche Hoffnungen ruhten auf der einzigen anerkannten Erbin von Kiward Station. Nur in den Adern Glorias und Kura-maro-tinis strömte das Blut der Wardens, der eigentlichen Gründer der Farm. Dazu stammte Kuras Mutter Marama aus dem örtlichen Maori-Stamm; Gloria wurde also auch von den Ureinwohnern
anerkannt. Das war wichtig, denn zwischen Tonga, dem Häuptling der Ngai Tahu, und den Wardens bestand seit jeher eine heftige Rivalität. Tonga hoffte, das Land durch eine Heirat zwischen Gloria und einem Maori aus seinem Stamm verstärkt unter seinen Einfluss zu bringen. Diese Strategie hatte allerdings schon bei Glorias Mutter Kura versagt. Und Gloria zeigte bislang kein großes Interesse am Leben und der Kultur der Stämme. Natürlich sprach sie fließend Maori und hörte gerne zu, wenn ihre Großmutter Marama die uralten Sagen und Legenden ihres Volkes erzählte. Verbunden jedoch fühlte sie sich nur Gwyneira, deren zweitem Mann James McKenzie und vor allem ihrem Sohn Jack.
Zwischen Jack und Gloria hatte immer schon eine besondere Beziehung bestanden. Der junge Mann war fünfzehn Jahre älter als seine Halbgroßnichte, und in Glorias ersten Lebensjahren war vor allem er es gewesen, der sie vor den Launen und dem Desinteresse ihrer Eltern beschützt hatte. Jack hatte für Kura und ihre Musik nie etwas übrig gehabt, aber Gloria mochte er vom ersten Schrei an -- was buchstäblich zu nehmen war, wie Jacks Vater gerne scherzte. Das Baby pflegte nämlich lauthals loszubrüllen, sobald Kura die erste Klaviertaste anschlug. Dem brachte Jack vollstes Verständnis entgegen; er schleppte Gloria mit sich herum wie einen Hundewelpen.
Inzwischen hatte nicht nur Jack den Steinkreis erreicht, auch Glorias kleine Hündin Nimue. Der Border Collie hechelte und blickte beinahe vorwurfsvoll zu seiner Herrin auf. Es gefiel der Hündin gar nicht, wenn Gloria ihr davonritt. Sie war glücklicher gewesen, bevor das pfeilschnelle Pony aus England
eingetroffen war. Jetzt aber nahm sie sich zusammen und jagte gleich wieder los, als Gloria sie mit einem scharfen Pfiff auf die Schafe ansetzte, die um die Felsen verstreut grasten. Wohlgefällig beobachtet von Jack und ihrer stolzen Besitzerin, trieb Nimue die Tiere zusammen und wartete dann auf weitere Befehle. Gloria führte die Herde geschickt in Richtung Heimat.
»Siehst du, ich hätte es auch allein geschafft!« Triumphierend strahlte das Mädchen Jack an. »Wirst du es Grandma erzählen?«
Jack nickte ernsthaft. »Sicher, Glory. Sie wird stolz auf dich sein. Und auf Nimue!«
Gwyneira McKenzie hatte mehr als fünfzig Jahre zuvor die ersten Border Collies aus Wales nach Neuseeland gebracht, dort weiter gezüchtet und trainiert. Es machte sie glücklich, Gloria so geschickt mit den Tieren umgehen zu sehen.
Andy McAran, der steinalte Vorarbeiter der Farm, beobachtete Jack und Gloria, als diese die Schafe schließlich in den Pferch trieben, an dem er herumwerkelte. McAran hätte längst nicht mehr arbeiten müssen, beschäftigte sich aber gern auf der Farm und sattelte noch fast jeden Tag sein Pferd, um aus dem Ort Haldon nach Kiward Station zu reiten. Seiner Frau gefiel das nicht, was Andy aber nicht abschreckte -- im Gegenteil. Er hatte spät geheiratet und würde sich nie daran gewöhnen, dass jemand ihm Vorschriften machte.
»Fast wie damals, Miss Gwyn.« Der Alte grinste anerkennend, als Gloria das Tor hinter den Schafen schloss. »Fehlt nur das rote Haar und ...« Den Rest ließ Andy unausgesprochen; schließlich wollte er Gloria nicht kränken. Aber Jack hatte zu oft ähnliche Bemerkungen gehört, um Andys Gedanken nicht lesen zu können: Der alte Viehhüter bedauerte, dass Gloria weder die elfenhaft zarte Figur noch das schmale, hübsche Gesicht ihrer Urgroßmutter geerbt hatte -- was seltsam war, da Gwyneira ihre roten Locken und die zierliche Gestalt an fast alle anderen weiblichen Nachkommen weitergegeben hatte. Gloria schlug nach den Wardens: kantiges Gesicht, dicht zusammenstehenden Augen, scharf geschnittener Mund. Ihre hellbraunen üppigen Locken umspielten ihr Gesicht weniger als es zu erdrücken. Die wilde Pracht zu frisieren war eine Qual, und so hatte das Mädchen vor etwa einem Jahr ihr Haar in einem Anfall von Trotz abgeschnitten. Natürlich hatten alle sie geneckt, ob sie denn nun »ganz zum Jungen« werden wollte -- vorher schon hatte sie gern die Breeches stibitzt, die ihre Großmutter Marama für die Maori-Jungen nähte --, doch Jack fand, dass Gloria die kurzen Locken wunderbar standen, und auch die weiten Reithosen passten besser zu ihrem kräftigen, etwas gedrungenen Körper als Kleider. Was die Figur betraf, schlug Gloria nach ihren Maori-Ahnen. Mode nach westlichem Schnitt würde sie nie vorteilhaft kleiden.
»Von ihrer Mutter hat das Mädchen nun wirklich gar nichts«, bemerkte auch James McKenzie. Er hatte die Ankunft Jacks und Glorias vom Erker in Gwyneiras Schlafzimmer aus beobachtet. Dort saß er inzwischen gern; der luftige Aussichtspunkt gefiel ihm besser als die bequemeren Sessel im Salon. James war vor kurzem achtzig geworden, und das Alter machte ihm zu schaffen. Seit einiger Zeit quälten ihn Gelenkschmerzen, die ihm jede Bewegung schwer machten. Dabei hasste er es, sich auf einen Stock zu stützen. Er gab nicht gern zu, dass die Treppe hinunter zum Salon ein immer größeres Hindernis für ihn darstellte, deshalb redete er sich lieber damit heraus, von seinem Erkerplatz aus das Geschehen auf der Farm leichter überwachen zu können. Gwyneira wusste es besser: James hatte sich im vornehmen Salon auf Kiward Station nie wirklich wohlgefühlt. Seine Welt waren stets die Mannschaftsunterkünfte gewesen. Nur Gwyn zuliebe hatte er sich damit abgefunden, das hochherrschaftliche Anwesen zu bewohnen und seinen Sohn hier aufzuziehen. James hätte seiner Familie lieber ein Blockhaus gebaut und vor einem Kamin gesessen, für den er selbst das Brennholz geschlagen hatte. Dieser Traum verlor allerdings an Attraktivität, je älter er wurde. Inzwischen fand er es angenehm, einfach nur die Wärme zu genießen, für die Gwyneiras Dienstboten sorgten.
Gwyneira legte ihm die Hand auf die Schulter und schaute nun ebenfalls zu Gloria und ihrem Sohn hinunter.
»Sie ist wunderschön«, sagte sie. »Wenn sich eines Tages der passende Mann für sie findet ...«
James verdrehte die Augen. »Nicht schon wieder!«, seufzte
»Gott sei Dank läuft sie den Kerlen noch nicht nach. Wenn ich da an Kura und diesen Maori-Knaben denke, der dir solches Kopfzerbrechen bereitet hat ... Wie alt war sie damals? Dreizehn?«
»Sie war nun mal frühreif!«, verteidigte Gwyneira ihre Enkelin. Sie hatte Kura immer geliebt. »Ich weiß, du magst sie nicht besonders. Aber ihr Problem bestand eigentlich nur darin, dass sie nicht hierher gehörte.«
Gwyneira bürstete ihr Haar, bevor sie es aufsteckte. Es war immer noch lang und lockig, auch wenn das Weiß darin immer mehr über das Rot triumphierte. Ansonsten sah man der inzwischen fast Dreiundsiebzigjährigen ihr Alter kaum an. Gwyneira McKenzie-Warden war schlank und drahtig wie in ihrer Jugend. Ihr Gesicht wirkte zwarmittlerweile hager und war von kleinen Fältchen durchzogen, aber sie hatte ihre Haut nie vor Sonne und Regen geschützt. Das Leben einer Dame der feinen Gesellschaft lag ihr nicht, und allen Fährnissen des Daseins zum Trotz betrachtete sie es nach wie vor als Glücksfall, dass sie ihr adeliges Elternhaus in Wales im Alter von siebzehn Jahren verlassen hatte, um in einer neuen Welt ein riskantes Eheabenteuer zu wagen.
»Kuras Problem lag darin, dass ihr niemand das Wort Nein beigebracht hat, als sie noch aufnahmefähig war«, brummte James. Sie hatten diese Diskussion über Kura schon tausendmal geführt; es war im Grunde das einzige Thema, das jemals für Sprengstoff in James' und Gwyneiras Ehe gesorgt hatte.
Gwyn schüttelte missbilligend den Kopf. »Das klingt ja schon wieder, als hätte ich Angst vor Kura gehabt«, sagte sie unwillig. Auch dieser Vorwurf war nicht neu, obwohl er ursprünglich nicht von James gekommen war, sondern von Gwyns Freundin Helen O'Keefe -- und schon der Gedanke an Helen, die im Jahr zuvor gestorben war, versetzte Gwyn einen Stich.
James zog die Augenbrauen hoch. »Angst vor Kura? Die hattest du doch nie!«, neckte er seine Frau. »Deshalb schiebst du ja auch seit drei Stunden diesen Brief, den der alte Andy gebracht hat, auf dem Tisch hin und her. Mach ihn schon auf, Gwyn! Zwischen dir und Kura liegen achtzehntausend Meilen. Sie wird dich nicht beißen!«
Andy McAran und seine Frau lebten in Haldon, dem nächsten kleinen Ort. Im dortigen Postamt lagerten die Briefe für Kiward Station, und Andy betätigte sich gern als Briefträger, wenn Post aus Übersee eintraf. Im Gegenzug erwartete er -- wie sämtliche männlichen und weiblichen Klatschbasen in Haldon -- ein bisschen Tratsch über das exotische Künstlerdasein der sonderbaren Warden-Erbin. James oder Jack lieferten die neuesten Nachrichten über Kuras wildes Leben auch bereitwillig, und Gwyneira schritt gewöhnlich nicht ein. Schließlich gab es meist Erfreuliches zu berichten: Kura und William waren glücklich, die Vorstellungen ausverkauft, eine Tournee jagte die andere. In Haldon zerriss man sich natürlich trotzdem die Mäuler. War William seiner Kura wirklich seit bald zehn Jahren treu? Auf Kiward Station hatte das ungetrübte Glück gerade mal ein Jahr gehalten. Und wenn die Ehe wirklich so vollkommen war -- warum wurde sie dann nicht mit weiteren Kindern gesegnet?
Gwyneira, die jetzt mit zittrigen Fingern den diesmal in London abgestempelten Brief öffnete, war das alles egal. Sie interessierte eigentlich nur Kuras Verhältnis zu Gloria. Das war bislang von Desinteresse geprägt, und Gwyneira betete, dass es so blieb.
Diesmal sah James seiner Frau jedoch schon beim Lesen an, dass der Brief aufrüttelndere Nachrichten enthielt als die immer gleichen Erfolgsgeschichten von »Haka meets Piano«. James hatte es schon geahnt, als er nicht Kuras steile Buchstaben auf dem Umschlag erkannt hatte, sondern William Martyns flüssiges Schriftbild.
»Sie wollen Gloria nach England holen«, sagte Gwyneira tonlos, als sie den Brief schließlich sinken ließ. »Sie ...«
Gwyn suchte die Stelle in Williams Schreiben. »Sie wissen unsere Erziehungsarbeit zwar zu schätzen, aber sie machen sich Sorgen darüber, ob Glorias >künstlerisch-kreative Seite< hier ausreichend gefördert wird! James, Gloria hat keine >künstlerisch-kreative Seite<!«
»Gott sei Dank«, bemerkte James. »Und wie gedenken die zwei diese neue Gloria denn nun zu erwecken? Soll sie mit auf Tournee? Singen, tanzen? Flöte spielen?«
Kuras virtuose Beherrschung der pecorino-Flöte gehörte zu den Glanzpunkten ihres Programms, und natürlich besaß auch Gloria ein solches Instrument. Zum Kummer ihrer Großmutter Marama hatte das Mädchen der Flöte aber nicht einmal eine der »normalen Stimmen« fehlerfrei entlocken können, geschweige denn die berühmte »wairua«, die Stimme der Geister.
»Nein, sie soll in ein Internat. Hör dir das an: >Wir haben eine kleine und sehr idyllisch gelegene Schule bei Cambridge ausgewählt, die eine vielseitige Mädchenbildung besonders im geistig-künstlerischen Bereich gewährleistet ...<«, las Gwyneira vor. »Mädchenbildung! Was soll man denn darunter verstehen?«, murmelte sie ärgerlich.
James lachte. »Kochen, backen, sticken?«, schlug er vor. »Französisch? Klavier spielen?«
Gwyn sah aus, als würde sie gefoltert. Als Tochter eines Landadeligen war ihr das alles nicht erspart geblieben, aber zum Glück hatte das Geld der Silkhams nie für eine Internatsausbildung der Töchter gereicht. Deshalb hatte Gwyn sich den schlimmsten Auswüchsen entziehen können, um stattdessen nützliche Dinge wie Reiten und Hütehundeausbildung zu erlernen.
James stand mühsam auf und nahm sie in die Arme.
»Komm, Gwyn, so schlimm wird es schon nicht sein. Seit die Dampfschiffe verkehren, ist die Reise nach England ein Klacks. Viele Leute schicken ihre Kinder auf ein Internat. Es wird Gloria nicht schaden, sich ein bisschen in der Welt umzusehen. Und die Landschaft bei Cambridge soll sehr lieblich sein, so wie hier. Gloria wird mit gleichaltrigen Mädchen zusammen sein und Hockey spielen oder was man da so treibt ... na gut, wenn sie ausreitet, muss sie sich halt mit dem Damensattel abfinden. Ein bisschen gesellschaftlicher Schliff ist ja auch gar nicht so schlecht, seit die Viehbarone hier immer vornehmer werden ...«
Die großen Farmen in den Canterbury Plains, die seit fünfzig Jahren bestanden, warfen meist ohne größeren Einsatz der Besitzer guten Gewinn ab. So mancher »Schafbaron« der zweiten oder dritten Generation führte das Leben eines vornehmen Gutsbesitzers. Es gab jedoch auch Farmen, die verkauft worden waren und nun vor allem hochdekorierten Kriegsveteranen aus England als Ruhesitz dienten.
Gwyn atmete tief durch. »Das war es wahrscheinlich«, seufzte sie. »Ich hätte ihr das Foto mit dem Pferd nicht erlauben sollen. Aber sie wollte es unbedingt. Sie war so glücklich über das Pony ...«
James wusste, was Gwyn meinte: Einmal im Jahr machte sie ein großes Gewese darum, Gloria für ihre Eltern fotografieren zu lassen. Im Allgemeinen steckte sie das Mädchen dazu in ein möglichst steifes und langweiliges Sonntagskleid; diesmal aber hatte Gloria darauf bestanden, im Sattel ihres neuen Ponys abgelichtet zu werden. »Mom und Dad haben mir Princess doch geschenkt!«, hatte sie argumentiert. »Sie freuen sich bestimmt, wenn sie mit auf dem Bild ist.«
Gwyneira spielte nervös mit ihrem eben erst aufgesteckten Haarknoten, bis sich die ersten Strähnen wieder lösten. »Ich hätte wenigstens auf Damensattel und Reitkleid bestehen sollen.«
James nahm sanft ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf.
»Du kennst doch Kura und William. Vielleicht war es wirklich das Pony. Aber genauso gut hättest du ein Foto von Gloria im Sonntagsstaat schicken können -- dann hätten sie geschrieben, dass eigentlich ein Klavier dazugehört. Vielleicht war die Zeit einfach reif. Sie mussten sich irgendwann daran erinnern, dass sie eine Tochter haben.«
»Reichlich spät!«, schimpfte Gwyn. »Und warum lassen sie uns nicht wenigstens mitreden? Sie kennen Glory doch gar nicht. Und gleich ein Internat! Sie ist so jung ...«
James zog seine Frau an sich. Aber er sah sie lieber wütend als so verzagt und unsicher wie eben.
»Viele englische Kinder kommen schon mit vier ins Internat«, erinnerte er sie. »Und Glory ist zwölf. Sie wird es verkraften. Wahrscheinlich gefällt es ihr sogar.«
»Sie wird ganz allein sein ...«, sagte Gwyn leise. »Sie wird Heimweh haben.«
James nickte. »Am Anfang haben bestimmt alle Mädchen Heimweh. Aber sie werden darüber hinwegkommen.«
Gwyneira fuhr auf. »Wenn das Gut der Eltern zwanzig Meilen entfernt ist, ganz sicher. Aber bei Glory sind es achtzehntausend! Wir schicken sie um die halbe Welt, zu Leuten, die sie nicht kennen und nicht lieben!«
Gwyneira biss sich auf die Lippen. Bislang hatte sie es nie zugegeben, im Gegenteil, sie hatte Kura immer wieder verteidigt. Aber im Grunde war es eine Tatsache. Kura-maro-tini machte sich nichts aus ihrer Tochter. Und William Martyn ging es nicht anders.
»Können wir nicht einfach so tun, als hätten wir den Brief nicht bekommen?« Sie schmiegte sich an James. Der fühlte sich an die blutjunge Gwyneira erinnert, die sich zu den Viehhütern in die Ställe geflüchtet hatte, wenn sie mit all den Ansprüchen ihrer neuen, neuseeländischen Familie nicht fertig wurde. Aber das hier war ernster als ein Rezept für Irish Stew ...
»Gwyn, Liebes, dann schicken sie einen neuen! Das hier ist nicht auf Kuras Mist gewachsen. Die hätte vielleicht mal so eine Idee geäußert, aber spätestens beim nächsten Konzert wäre das wieder vergessen gewesen. Der Brief kommt von William.
Ganze ist also sein Projekt. Wahrscheinlich liebäugelt er mit der Idee, Gloria bei nächster Gelegenheit mit irgendeinem Earl zu verheiraten ...«
»Aber früher hat er die Engländer gehasst«, wandte Gwyneira ein. William Martyn konnte auf eine kurze Vergangenheit als Irischer Freiheitskämpfer zurückblicken.
James zuckte die Achseln. »William ist wandlungsfähig.«
»Wenn Gloria wenigstens nicht ganz allein wäre«, seufzte Gwyn. »Die lange Schiffsreise, all die fremden Leute ...«
James nickte. Trotz all seiner beruhigenden Worte konnte
Gwyns Gedanken gut nachvollziehen. Gloria liebte die Arbeit auf der Farm, aber ihr fehlte die Abenteuerlust, die Gwyn und ihre Tochter Fleurette auszeichnete. In dieser Beziehung schlug das Mädchen aus der Art -- nicht nur Gwyn, auch ihr Ahnherr Gerald Warden hatte niemals das Risiko gescheut, und Kura und William Martyn erst recht nicht. Aber hier mochte das Maori-Erbe greifen. Glorias Großmutter Marama war sanft und erdverbunden. Natürlich wanderte sie mit ihrem Stamm umher, aber wenn sie das Land der Ngai Tahu allein verlassen sollte, fühlte sie sich unsicher.
»Und wenn wir ein anderes Mädchen mitschicken?«, überlegte James. »Hat sie keine Freundin unter den Maoris?«
Gwyneira schüttelte den Kopf. »Du glaubst doch nicht, dass Tonga ein Mädchen aus seinem Stamm nach England schickt!«, meinte sie. »Ganz abgesehen davon, dass mir keines einfällt, das mit Gloria vertraut ist. Da wäre allenfalls ...« Gwyns Gesicht hellte sich auf. »Ja, das wäre eine Möglichkeit!«
James wartete geduldig, bis sie ihren Gedanken zu Ende geführt hatte.
»Sie ist natürlich auch noch sehr jung ...«
»Wer?«, fragte er schließlich nach.
»Lilian«, meinte Gwyn. »Mit Lilian hat sie sich gut verstanden, als Elaine letztes Jahr hier war. Eigentlich was sie das einzige Mädchen, mit dem Glory jemals gespielt hat. Und Tim ist doch selbst in England zur Schule gegangen. Vielleicht erwärmt er sich ja für die Idee.«
Ein Lächeln huschte über James' Gesicht, als Lilians Name fiel. Noch eine Urenkelin, aber in diesem Fall Fleisch von seinem Fleisch. Elaine, Fleurettes Tochter, war in Greymouth verheiratet. Ihre Tochter Lilian war das älteste von vier Kindern. Das einzige Mädchen und eine Neuauflage von Gwyneira, Fleurette und Elaine: rothaarig, lebhaft und immer gut gelaunt. Gloria war zuerst ein wenig schüchtern gewesen, als sie im Jahr zuvor zusammen mit ihrer Urgroßmutter die Farm besucht hatte. Aber Lilian hatte das Eis schnell gebrochen. Sie plauderte ohne Punkt und Komma von ihrer Schule, ihren Freundinnen, ihren Pferden und Hunden zu Hause, ritt mit Gloria um die Wette und drängte sie, ihr Maori beizubringen und den Stamm auf Kiward Station zu besuchen. Zum ersten Mal hörte Gwyneira ihre Urenkelin Gloria mit einem anderen Mädchen kichern und Geheimnisse austauschen. Die zwei versuchten, Rongo Rongo, Hebamme und tohunga der Maoris, beim Schmieden eines Zaubers zu belauschen, und Lilian hütete das Stück Jade, das Rongo Rongo ihr schließlich schenkte, wie einen Schatz. Die Kleine wurde auch nicht müde, sich eigene Geschichten auszudenken.
»Ich frag meinen Dad, ob er mir den Stein fassen lässt«, erklärte sie gewichtig. »Dann hänge ich ihn mir an einer goldenen Kette um den Hals. Und wenn ich dann den Mann kennen lerne, den ich mal heirate, wird er ... wird er ...« Lilian schwankte zwischen »brennen wie glühende Kohlen« und »vibrieren wie ein wild pochendes Herz«.
Gloria konnte da nicht mithalten. Für sie war ein Stück Jade ein Stück Jade, kein Werkzeug, jemanden zu verzaubern. Doch Lilians Fantasien lauschte sie gern.
»Lilian ist noch jünger als Gloria«, gab James zu bedenken. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Elaine sich jetzt schon von ihr trennt. Egal was Tim dazu meint ...«
»Fragen kostet nichts«, erklärte Gwyn resolut. »Ich werde ihnen gleich schreiben. Was meinst du, müssen wir es Gloria sagen?«
James seufzte und fuhr sich durch sein ehemals braunes, jetzt weißes, aber immer noch wirres Haar. Eine für ihn typische Geste, die Gwyneira immer geliebt hatte. »Nicht heute und nicht morgen«, meinte er schließlich. »Aber wenn ich William richtig verstehe, fängt nach Ostern das neue Schuljahr an. Dann sollte sie in Cambridge sein. Gäbe es eine Verzögerung, würde man ihr keinen Gefallen tun. Wenn sie mitten im Jahr die einzige Neue ist, wird es umso schwerer für sie.«
Gwyn nickte müde. »Aber wir müssen es Miss Bleachum mitteilen«, meinte sie unglücklich. »Die muss sich schließlich eine neue Stellung suchen. Verflixt, da haben wir mal eine Hauslehrerin, die sich wirklich bewährt, und dann so was!«
Sarah Bleachum unterrichtete Gloria seit Beginn ihrer Schulzeit, und das Mädchen hing sehr an ihr.
»Na ja, zumindest wird Glory bestimmt nicht hinter den englischen Mädchen zurückstehen«, tröstete sich Gwyn. Miss Bleachum hatte die Lehrerakademie in Wellington besucht und mit besten Zeugnissen abgeschlossen. Ihre besondere Liebe galt den Naturwissenschaften, und sie verstand, auch Glorias Interesse daran zu wecken. Die beiden vergruben sich mit Leidenschaft in Bücher, die von der Flora und Fauna Neuseelands handelten, und Miss Bleachums Begeisterung kannte keine Grenzen, als Gwyneira die Aufzeichnungen ihres ersten Gatten, Lucas Warden, hervorholte. Lucas hatte vor allem die Insektenpopulation seiner Heimat erforscht und katalogisiert. Miss Bleachum bestaunte seine peniblen Zeichnungen der verschiedenen Weta-Gattungen. Gwyneira betrachtete diese Kreaturen mit eher gemischten Gefühlen. Die Rieseninsekten waren ihr nie sonderlich sympathisch gewesen.
»Das war mein Urgroßvater, nicht?«, fragte Gloria stolz.
Gwyneira nickte. In Wirklichkeit war Lucas eher ihr Großonkel gewesen, aber das musste das Kind nicht wissen. Lucas wäre glücklich über diese kluge Urenkelin gewesen, die endlich seine Interessen teilte. Ob man Glorias Begeisterung für Insekten und sonstiges Getier allerdings auch in einer englischen Mädchenschule zu schätzen wusste?
© 2008 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Während Jack nun in halsbrecherischem Tempo über Feldwege preschte, um das Mädchen wenigstens nicht aus den Augen zu verlieren, dachte er an Glorias Mutter. Kura-maro-tini, die Tochter seines Halbbruders Paul Warden, war eine exotische Schönheit und mit einer außergewöhnlichen Stimme gesegnet. Die Musikalität verdankte sie wohl eher ihrer Mutter, der Maori-Sängerin Marama, als ihren weißen Verwandten. Kura hatte von klein auf den Wunsch gehegt, die Opernwelt in Europa zu erobern, und unablässig ihre Stimme ausgebildet. Jack war gemeinsam mit ihr auf Kiward Station aufgewachsen und dachte heute noch mit Grausen an Kuras Gesangsübungen und ihre schier endlose Klavierspielerei. Dabei hatte es zunächst so ausgesehen, als gäbe es im ländlichen Neuseeland keine Chance für sie, ihre Träume zu verwirklichen -- bis sie in William Martyn, ihrem Mann, endlich den Bewunderer fand, der ihre Talente zur Geltung zu bringen wusste. Seit Jahren tourten die beiden mit einer Gruppe von Maori-Sängern und Tänzern durch Europa. Kura war der Star eines Ensembles, das traditionelle Maori-Musik mit westlichen Instrumenten zu eigenwilligen Interpretationen verband.
»Gewonnen!« Gekonnt verhielt Gloria ihr lebhaftes Pony inmitten der Felsformation, die man den »Ring der Steinkrieger« nannte. »Und da hinten sind auch die Schafe!«
Die kleine Herde Mutterschafe war der eigentliche Grund für Jacks und Glorias Ausritt. Die Tiere hatten sich selbstständig gemacht und weideten nun in der Gegend des Steinkreises auf einem Landstück, das dem örtlichen Maori-Stamm heilig war. Gwyneira McKenzie-Warden, der die Leitung der Farm oblag, achtete die religiösen Gefühle der Ureinwohner, obwohl das Land zu Kiward Station gehörte. Es gab Weiden genug für die Schafe und Rinder, sodass die Tiere nicht auf Maori-Heiligtümern herumstreunen mussten. Deshalb hatte sie Jack beim Mittagessen gebeten, die Schafe einzutreiben, was auf Glorias lebhaften Protest stieß.
»Das kann ich doch machen, Grandma! Nimue muss noch lernen!«
Seit Gloria ihren ersten eigenen Hütehund trainiert hatte, drängte es sie nach größeren Aufgaben auf der Farm, sehr zur Freude Gwyneiras. Auch diesmal lächelte sie ihre Urenkelin an und nickte ihr zu.
»In Ordnung, aber Jack wird dich begleiten«, bestimmte sie, obwohl sie selbst nicht sagen konnte, weshalb sie das Mädchen nicht allein reiten ließ. Im Grunde bestand kein Anlass zur Sorge: Gloria kannte die Farm wie ihre Westentasche, und alle Menschen auf Kiward Station kannten und liebten Gloria.
Mit ihren eigenen Kindern war Gwyneira längst nicht so übervorsichtig gewesen. Ihre älteste Tochter Fleurette war schon als Achtjährige vier Meilen zu der kleinen Schule geritten, die Gwyneiras Freundin Helen damals auf einer Nachbarfarm betrieb. Aber Gloria war etwas anderes. Gwyneiras sämtliche Hoffnungen ruhten auf der einzigen anerkannten Erbin von Kiward Station. Nur in den Adern Glorias und Kura-maro-tinis strömte das Blut der Wardens, der eigentlichen Gründer der Farm. Dazu stammte Kuras Mutter Marama aus dem örtlichen Maori-Stamm; Gloria wurde also auch von den Ureinwohnern
anerkannt. Das war wichtig, denn zwischen Tonga, dem Häuptling der Ngai Tahu, und den Wardens bestand seit jeher eine heftige Rivalität. Tonga hoffte, das Land durch eine Heirat zwischen Gloria und einem Maori aus seinem Stamm verstärkt unter seinen Einfluss zu bringen. Diese Strategie hatte allerdings schon bei Glorias Mutter Kura versagt. Und Gloria zeigte bislang kein großes Interesse am Leben und der Kultur der Stämme. Natürlich sprach sie fließend Maori und hörte gerne zu, wenn ihre Großmutter Marama die uralten Sagen und Legenden ihres Volkes erzählte. Verbunden jedoch fühlte sie sich nur Gwyneira, deren zweitem Mann James McKenzie und vor allem ihrem Sohn Jack.
Zwischen Jack und Gloria hatte immer schon eine besondere Beziehung bestanden. Der junge Mann war fünfzehn Jahre älter als seine Halbgroßnichte, und in Glorias ersten Lebensjahren war vor allem er es gewesen, der sie vor den Launen und dem Desinteresse ihrer Eltern beschützt hatte. Jack hatte für Kura und ihre Musik nie etwas übrig gehabt, aber Gloria mochte er vom ersten Schrei an -- was buchstäblich zu nehmen war, wie Jacks Vater gerne scherzte. Das Baby pflegte nämlich lauthals loszubrüllen, sobald Kura die erste Klaviertaste anschlug. Dem brachte Jack vollstes Verständnis entgegen; er schleppte Gloria mit sich herum wie einen Hundewelpen.
Inzwischen hatte nicht nur Jack den Steinkreis erreicht, auch Glorias kleine Hündin Nimue. Der Border Collie hechelte und blickte beinahe vorwurfsvoll zu seiner Herrin auf. Es gefiel der Hündin gar nicht, wenn Gloria ihr davonritt. Sie war glücklicher gewesen, bevor das pfeilschnelle Pony aus England
eingetroffen war. Jetzt aber nahm sie sich zusammen und jagte gleich wieder los, als Gloria sie mit einem scharfen Pfiff auf die Schafe ansetzte, die um die Felsen verstreut grasten. Wohlgefällig beobachtet von Jack und ihrer stolzen Besitzerin, trieb Nimue die Tiere zusammen und wartete dann auf weitere Befehle. Gloria führte die Herde geschickt in Richtung Heimat.
»Siehst du, ich hätte es auch allein geschafft!« Triumphierend strahlte das Mädchen Jack an. »Wirst du es Grandma erzählen?«
Jack nickte ernsthaft. »Sicher, Glory. Sie wird stolz auf dich sein. Und auf Nimue!«
Gwyneira McKenzie hatte mehr als fünfzig Jahre zuvor die ersten Border Collies aus Wales nach Neuseeland gebracht, dort weiter gezüchtet und trainiert. Es machte sie glücklich, Gloria so geschickt mit den Tieren umgehen zu sehen.
Andy McAran, der steinalte Vorarbeiter der Farm, beobachtete Jack und Gloria, als diese die Schafe schließlich in den Pferch trieben, an dem er herumwerkelte. McAran hätte längst nicht mehr arbeiten müssen, beschäftigte sich aber gern auf der Farm und sattelte noch fast jeden Tag sein Pferd, um aus dem Ort Haldon nach Kiward Station zu reiten. Seiner Frau gefiel das nicht, was Andy aber nicht abschreckte -- im Gegenteil. Er hatte spät geheiratet und würde sich nie daran gewöhnen, dass jemand ihm Vorschriften machte.
»Fast wie damals, Miss Gwyn.« Der Alte grinste anerkennend, als Gloria das Tor hinter den Schafen schloss. »Fehlt nur das rote Haar und ...« Den Rest ließ Andy unausgesprochen; schließlich wollte er Gloria nicht kränken. Aber Jack hatte zu oft ähnliche Bemerkungen gehört, um Andys Gedanken nicht lesen zu können: Der alte Viehhüter bedauerte, dass Gloria weder die elfenhaft zarte Figur noch das schmale, hübsche Gesicht ihrer Urgroßmutter geerbt hatte -- was seltsam war, da Gwyneira ihre roten Locken und die zierliche Gestalt an fast alle anderen weiblichen Nachkommen weitergegeben hatte. Gloria schlug nach den Wardens: kantiges Gesicht, dicht zusammenstehenden Augen, scharf geschnittener Mund. Ihre hellbraunen üppigen Locken umspielten ihr Gesicht weniger als es zu erdrücken. Die wilde Pracht zu frisieren war eine Qual, und so hatte das Mädchen vor etwa einem Jahr ihr Haar in einem Anfall von Trotz abgeschnitten. Natürlich hatten alle sie geneckt, ob sie denn nun »ganz zum Jungen« werden wollte -- vorher schon hatte sie gern die Breeches stibitzt, die ihre Großmutter Marama für die Maori-Jungen nähte --, doch Jack fand, dass Gloria die kurzen Locken wunderbar standen, und auch die weiten Reithosen passten besser zu ihrem kräftigen, etwas gedrungenen Körper als Kleider. Was die Figur betraf, schlug Gloria nach ihren Maori-Ahnen. Mode nach westlichem Schnitt würde sie nie vorteilhaft kleiden.
»Von ihrer Mutter hat das Mädchen nun wirklich gar nichts«, bemerkte auch James McKenzie. Er hatte die Ankunft Jacks und Glorias vom Erker in Gwyneiras Schlafzimmer aus beobachtet. Dort saß er inzwischen gern; der luftige Aussichtspunkt gefiel ihm besser als die bequemeren Sessel im Salon. James war vor kurzem achtzig geworden, und das Alter machte ihm zu schaffen. Seit einiger Zeit quälten ihn Gelenkschmerzen, die ihm jede Bewegung schwer machten. Dabei hasste er es, sich auf einen Stock zu stützen. Er gab nicht gern zu, dass die Treppe hinunter zum Salon ein immer größeres Hindernis für ihn darstellte, deshalb redete er sich lieber damit heraus, von seinem Erkerplatz aus das Geschehen auf der Farm leichter überwachen zu können. Gwyneira wusste es besser: James hatte sich im vornehmen Salon auf Kiward Station nie wirklich wohlgefühlt. Seine Welt waren stets die Mannschaftsunterkünfte gewesen. Nur Gwyn zuliebe hatte er sich damit abgefunden, das hochherrschaftliche Anwesen zu bewohnen und seinen Sohn hier aufzuziehen. James hätte seiner Familie lieber ein Blockhaus gebaut und vor einem Kamin gesessen, für den er selbst das Brennholz geschlagen hatte. Dieser Traum verlor allerdings an Attraktivität, je älter er wurde. Inzwischen fand er es angenehm, einfach nur die Wärme zu genießen, für die Gwyneiras Dienstboten sorgten.
Gwyneira legte ihm die Hand auf die Schulter und schaute nun ebenfalls zu Gloria und ihrem Sohn hinunter.
»Sie ist wunderschön«, sagte sie. »Wenn sich eines Tages der passende Mann für sie findet ...«
James verdrehte die Augen. »Nicht schon wieder!«, seufzte
»Gott sei Dank läuft sie den Kerlen noch nicht nach. Wenn ich da an Kura und diesen Maori-Knaben denke, der dir solches Kopfzerbrechen bereitet hat ... Wie alt war sie damals? Dreizehn?«
»Sie war nun mal frühreif!«, verteidigte Gwyneira ihre Enkelin. Sie hatte Kura immer geliebt. »Ich weiß, du magst sie nicht besonders. Aber ihr Problem bestand eigentlich nur darin, dass sie nicht hierher gehörte.«
Gwyneira bürstete ihr Haar, bevor sie es aufsteckte. Es war immer noch lang und lockig, auch wenn das Weiß darin immer mehr über das Rot triumphierte. Ansonsten sah man der inzwischen fast Dreiundsiebzigjährigen ihr Alter kaum an. Gwyneira McKenzie-Warden war schlank und drahtig wie in ihrer Jugend. Ihr Gesicht wirkte zwarmittlerweile hager und war von kleinen Fältchen durchzogen, aber sie hatte ihre Haut nie vor Sonne und Regen geschützt. Das Leben einer Dame der feinen Gesellschaft lag ihr nicht, und allen Fährnissen des Daseins zum Trotz betrachtete sie es nach wie vor als Glücksfall, dass sie ihr adeliges Elternhaus in Wales im Alter von siebzehn Jahren verlassen hatte, um in einer neuen Welt ein riskantes Eheabenteuer zu wagen.
»Kuras Problem lag darin, dass ihr niemand das Wort Nein beigebracht hat, als sie noch aufnahmefähig war«, brummte James. Sie hatten diese Diskussion über Kura schon tausendmal geführt; es war im Grunde das einzige Thema, das jemals für Sprengstoff in James' und Gwyneiras Ehe gesorgt hatte.
Gwyn schüttelte missbilligend den Kopf. »Das klingt ja schon wieder, als hätte ich Angst vor Kura gehabt«, sagte sie unwillig. Auch dieser Vorwurf war nicht neu, obwohl er ursprünglich nicht von James gekommen war, sondern von Gwyns Freundin Helen O'Keefe -- und schon der Gedanke an Helen, die im Jahr zuvor gestorben war, versetzte Gwyn einen Stich.
James zog die Augenbrauen hoch. »Angst vor Kura? Die hattest du doch nie!«, neckte er seine Frau. »Deshalb schiebst du ja auch seit drei Stunden diesen Brief, den der alte Andy gebracht hat, auf dem Tisch hin und her. Mach ihn schon auf, Gwyn! Zwischen dir und Kura liegen achtzehntausend Meilen. Sie wird dich nicht beißen!«
Andy McAran und seine Frau lebten in Haldon, dem nächsten kleinen Ort. Im dortigen Postamt lagerten die Briefe für Kiward Station, und Andy betätigte sich gern als Briefträger, wenn Post aus Übersee eintraf. Im Gegenzug erwartete er -- wie sämtliche männlichen und weiblichen Klatschbasen in Haldon -- ein bisschen Tratsch über das exotische Künstlerdasein der sonderbaren Warden-Erbin. James oder Jack lieferten die neuesten Nachrichten über Kuras wildes Leben auch bereitwillig, und Gwyneira schritt gewöhnlich nicht ein. Schließlich gab es meist Erfreuliches zu berichten: Kura und William waren glücklich, die Vorstellungen ausverkauft, eine Tournee jagte die andere. In Haldon zerriss man sich natürlich trotzdem die Mäuler. War William seiner Kura wirklich seit bald zehn Jahren treu? Auf Kiward Station hatte das ungetrübte Glück gerade mal ein Jahr gehalten. Und wenn die Ehe wirklich so vollkommen war -- warum wurde sie dann nicht mit weiteren Kindern gesegnet?
Gwyneira, die jetzt mit zittrigen Fingern den diesmal in London abgestempelten Brief öffnete, war das alles egal. Sie interessierte eigentlich nur Kuras Verhältnis zu Gloria. Das war bislang von Desinteresse geprägt, und Gwyneira betete, dass es so blieb.
Diesmal sah James seiner Frau jedoch schon beim Lesen an, dass der Brief aufrüttelndere Nachrichten enthielt als die immer gleichen Erfolgsgeschichten von »Haka meets Piano«. James hatte es schon geahnt, als er nicht Kuras steile Buchstaben auf dem Umschlag erkannt hatte, sondern William Martyns flüssiges Schriftbild.
»Sie wollen Gloria nach England holen«, sagte Gwyneira tonlos, als sie den Brief schließlich sinken ließ. »Sie ...«
Gwyn suchte die Stelle in Williams Schreiben. »Sie wissen unsere Erziehungsarbeit zwar zu schätzen, aber sie machen sich Sorgen darüber, ob Glorias >künstlerisch-kreative Seite< hier ausreichend gefördert wird! James, Gloria hat keine >künstlerisch-kreative Seite<!«
»Gott sei Dank«, bemerkte James. »Und wie gedenken die zwei diese neue Gloria denn nun zu erwecken? Soll sie mit auf Tournee? Singen, tanzen? Flöte spielen?«
Kuras virtuose Beherrschung der pecorino-Flöte gehörte zu den Glanzpunkten ihres Programms, und natürlich besaß auch Gloria ein solches Instrument. Zum Kummer ihrer Großmutter Marama hatte das Mädchen der Flöte aber nicht einmal eine der »normalen Stimmen« fehlerfrei entlocken können, geschweige denn die berühmte »wairua«, die Stimme der Geister.
»Nein, sie soll in ein Internat. Hör dir das an: >Wir haben eine kleine und sehr idyllisch gelegene Schule bei Cambridge ausgewählt, die eine vielseitige Mädchenbildung besonders im geistig-künstlerischen Bereich gewährleistet ...<«, las Gwyneira vor. »Mädchenbildung! Was soll man denn darunter verstehen?«, murmelte sie ärgerlich.
James lachte. »Kochen, backen, sticken?«, schlug er vor. »Französisch? Klavier spielen?«
Gwyn sah aus, als würde sie gefoltert. Als Tochter eines Landadeligen war ihr das alles nicht erspart geblieben, aber zum Glück hatte das Geld der Silkhams nie für eine Internatsausbildung der Töchter gereicht. Deshalb hatte Gwyn sich den schlimmsten Auswüchsen entziehen können, um stattdessen nützliche Dinge wie Reiten und Hütehundeausbildung zu erlernen.
James stand mühsam auf und nahm sie in die Arme.
»Komm, Gwyn, so schlimm wird es schon nicht sein. Seit die Dampfschiffe verkehren, ist die Reise nach England ein Klacks. Viele Leute schicken ihre Kinder auf ein Internat. Es wird Gloria nicht schaden, sich ein bisschen in der Welt umzusehen. Und die Landschaft bei Cambridge soll sehr lieblich sein, so wie hier. Gloria wird mit gleichaltrigen Mädchen zusammen sein und Hockey spielen oder was man da so treibt ... na gut, wenn sie ausreitet, muss sie sich halt mit dem Damensattel abfinden. Ein bisschen gesellschaftlicher Schliff ist ja auch gar nicht so schlecht, seit die Viehbarone hier immer vornehmer werden ...«
Die großen Farmen in den Canterbury Plains, die seit fünfzig Jahren bestanden, warfen meist ohne größeren Einsatz der Besitzer guten Gewinn ab. So mancher »Schafbaron« der zweiten oder dritten Generation führte das Leben eines vornehmen Gutsbesitzers. Es gab jedoch auch Farmen, die verkauft worden waren und nun vor allem hochdekorierten Kriegsveteranen aus England als Ruhesitz dienten.
Gwyn atmete tief durch. »Das war es wahrscheinlich«, seufzte sie. »Ich hätte ihr das Foto mit dem Pferd nicht erlauben sollen. Aber sie wollte es unbedingt. Sie war so glücklich über das Pony ...«
James wusste, was Gwyn meinte: Einmal im Jahr machte sie ein großes Gewese darum, Gloria für ihre Eltern fotografieren zu lassen. Im Allgemeinen steckte sie das Mädchen dazu in ein möglichst steifes und langweiliges Sonntagskleid; diesmal aber hatte Gloria darauf bestanden, im Sattel ihres neuen Ponys abgelichtet zu werden. »Mom und Dad haben mir Princess doch geschenkt!«, hatte sie argumentiert. »Sie freuen sich bestimmt, wenn sie mit auf dem Bild ist.«
Gwyneira spielte nervös mit ihrem eben erst aufgesteckten Haarknoten, bis sich die ersten Strähnen wieder lösten. »Ich hätte wenigstens auf Damensattel und Reitkleid bestehen sollen.«
James nahm sanft ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf.
»Du kennst doch Kura und William. Vielleicht war es wirklich das Pony. Aber genauso gut hättest du ein Foto von Gloria im Sonntagsstaat schicken können -- dann hätten sie geschrieben, dass eigentlich ein Klavier dazugehört. Vielleicht war die Zeit einfach reif. Sie mussten sich irgendwann daran erinnern, dass sie eine Tochter haben.«
»Reichlich spät!«, schimpfte Gwyn. »Und warum lassen sie uns nicht wenigstens mitreden? Sie kennen Glory doch gar nicht. Und gleich ein Internat! Sie ist so jung ...«
James zog seine Frau an sich. Aber er sah sie lieber wütend als so verzagt und unsicher wie eben.
»Viele englische Kinder kommen schon mit vier ins Internat«, erinnerte er sie. »Und Glory ist zwölf. Sie wird es verkraften. Wahrscheinlich gefällt es ihr sogar.«
»Sie wird ganz allein sein ...«, sagte Gwyn leise. »Sie wird Heimweh haben.«
James nickte. »Am Anfang haben bestimmt alle Mädchen Heimweh. Aber sie werden darüber hinwegkommen.«
Gwyneira fuhr auf. »Wenn das Gut der Eltern zwanzig Meilen entfernt ist, ganz sicher. Aber bei Glory sind es achtzehntausend! Wir schicken sie um die halbe Welt, zu Leuten, die sie nicht kennen und nicht lieben!«
Gwyneira biss sich auf die Lippen. Bislang hatte sie es nie zugegeben, im Gegenteil, sie hatte Kura immer wieder verteidigt. Aber im Grunde war es eine Tatsache. Kura-maro-tini machte sich nichts aus ihrer Tochter. Und William Martyn ging es nicht anders.
»Können wir nicht einfach so tun, als hätten wir den Brief nicht bekommen?« Sie schmiegte sich an James. Der fühlte sich an die blutjunge Gwyneira erinnert, die sich zu den Viehhütern in die Ställe geflüchtet hatte, wenn sie mit all den Ansprüchen ihrer neuen, neuseeländischen Familie nicht fertig wurde. Aber das hier war ernster als ein Rezept für Irish Stew ...
»Gwyn, Liebes, dann schicken sie einen neuen! Das hier ist nicht auf Kuras Mist gewachsen. Die hätte vielleicht mal so eine Idee geäußert, aber spätestens beim nächsten Konzert wäre das wieder vergessen gewesen. Der Brief kommt von William.
Ganze ist also sein Projekt. Wahrscheinlich liebäugelt er mit der Idee, Gloria bei nächster Gelegenheit mit irgendeinem Earl zu verheiraten ...«
»Aber früher hat er die Engländer gehasst«, wandte Gwyneira ein. William Martyn konnte auf eine kurze Vergangenheit als Irischer Freiheitskämpfer zurückblicken.
James zuckte die Achseln. »William ist wandlungsfähig.«
»Wenn Gloria wenigstens nicht ganz allein wäre«, seufzte Gwyn. »Die lange Schiffsreise, all die fremden Leute ...«
James nickte. Trotz all seiner beruhigenden Worte konnte
Gwyns Gedanken gut nachvollziehen. Gloria liebte die Arbeit auf der Farm, aber ihr fehlte die Abenteuerlust, die Gwyn und ihre Tochter Fleurette auszeichnete. In dieser Beziehung schlug das Mädchen aus der Art -- nicht nur Gwyn, auch ihr Ahnherr Gerald Warden hatte niemals das Risiko gescheut, und Kura und William Martyn erst recht nicht. Aber hier mochte das Maori-Erbe greifen. Glorias Großmutter Marama war sanft und erdverbunden. Natürlich wanderte sie mit ihrem Stamm umher, aber wenn sie das Land der Ngai Tahu allein verlassen sollte, fühlte sie sich unsicher.
»Und wenn wir ein anderes Mädchen mitschicken?«, überlegte James. »Hat sie keine Freundin unter den Maoris?«
Gwyneira schüttelte den Kopf. »Du glaubst doch nicht, dass Tonga ein Mädchen aus seinem Stamm nach England schickt!«, meinte sie. »Ganz abgesehen davon, dass mir keines einfällt, das mit Gloria vertraut ist. Da wäre allenfalls ...« Gwyns Gesicht hellte sich auf. »Ja, das wäre eine Möglichkeit!«
James wartete geduldig, bis sie ihren Gedanken zu Ende geführt hatte.
»Sie ist natürlich auch noch sehr jung ...«
»Wer?«, fragte er schließlich nach.
»Lilian«, meinte Gwyn. »Mit Lilian hat sie sich gut verstanden, als Elaine letztes Jahr hier war. Eigentlich was sie das einzige Mädchen, mit dem Glory jemals gespielt hat. Und Tim ist doch selbst in England zur Schule gegangen. Vielleicht erwärmt er sich ja für die Idee.«
Ein Lächeln huschte über James' Gesicht, als Lilians Name fiel. Noch eine Urenkelin, aber in diesem Fall Fleisch von seinem Fleisch. Elaine, Fleurettes Tochter, war in Greymouth verheiratet. Ihre Tochter Lilian war das älteste von vier Kindern. Das einzige Mädchen und eine Neuauflage von Gwyneira, Fleurette und Elaine: rothaarig, lebhaft und immer gut gelaunt. Gloria war zuerst ein wenig schüchtern gewesen, als sie im Jahr zuvor zusammen mit ihrer Urgroßmutter die Farm besucht hatte. Aber Lilian hatte das Eis schnell gebrochen. Sie plauderte ohne Punkt und Komma von ihrer Schule, ihren Freundinnen, ihren Pferden und Hunden zu Hause, ritt mit Gloria um die Wette und drängte sie, ihr Maori beizubringen und den Stamm auf Kiward Station zu besuchen. Zum ersten Mal hörte Gwyneira ihre Urenkelin Gloria mit einem anderen Mädchen kichern und Geheimnisse austauschen. Die zwei versuchten, Rongo Rongo, Hebamme und tohunga der Maoris, beim Schmieden eines Zaubers zu belauschen, und Lilian hütete das Stück Jade, das Rongo Rongo ihr schließlich schenkte, wie einen Schatz. Die Kleine wurde auch nicht müde, sich eigene Geschichten auszudenken.
»Ich frag meinen Dad, ob er mir den Stein fassen lässt«, erklärte sie gewichtig. »Dann hänge ich ihn mir an einer goldenen Kette um den Hals. Und wenn ich dann den Mann kennen lerne, den ich mal heirate, wird er ... wird er ...« Lilian schwankte zwischen »brennen wie glühende Kohlen« und »vibrieren wie ein wild pochendes Herz«.
Gloria konnte da nicht mithalten. Für sie war ein Stück Jade ein Stück Jade, kein Werkzeug, jemanden zu verzaubern. Doch Lilians Fantasien lauschte sie gern.
»Lilian ist noch jünger als Gloria«, gab James zu bedenken. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Elaine sich jetzt schon von ihr trennt. Egal was Tim dazu meint ...«
»Fragen kostet nichts«, erklärte Gwyn resolut. »Ich werde ihnen gleich schreiben. Was meinst du, müssen wir es Gloria sagen?«
James seufzte und fuhr sich durch sein ehemals braunes, jetzt weißes, aber immer noch wirres Haar. Eine für ihn typische Geste, die Gwyneira immer geliebt hatte. »Nicht heute und nicht morgen«, meinte er schließlich. »Aber wenn ich William richtig verstehe, fängt nach Ostern das neue Schuljahr an. Dann sollte sie in Cambridge sein. Gäbe es eine Verzögerung, würde man ihr keinen Gefallen tun. Wenn sie mitten im Jahr die einzige Neue ist, wird es umso schwerer für sie.«
Gwyn nickte müde. »Aber wir müssen es Miss Bleachum mitteilen«, meinte sie unglücklich. »Die muss sich schließlich eine neue Stellung suchen. Verflixt, da haben wir mal eine Hauslehrerin, die sich wirklich bewährt, und dann so was!«
Sarah Bleachum unterrichtete Gloria seit Beginn ihrer Schulzeit, und das Mädchen hing sehr an ihr.
»Na ja, zumindest wird Glory bestimmt nicht hinter den englischen Mädchen zurückstehen«, tröstete sich Gwyn. Miss Bleachum hatte die Lehrerakademie in Wellington besucht und mit besten Zeugnissen abgeschlossen. Ihre besondere Liebe galt den Naturwissenschaften, und sie verstand, auch Glorias Interesse daran zu wecken. Die beiden vergruben sich mit Leidenschaft in Bücher, die von der Flora und Fauna Neuseelands handelten, und Miss Bleachums Begeisterung kannte keine Grenzen, als Gwyneira die Aufzeichnungen ihres ersten Gatten, Lucas Warden, hervorholte. Lucas hatte vor allem die Insektenpopulation seiner Heimat erforscht und katalogisiert. Miss Bleachum bestaunte seine peniblen Zeichnungen der verschiedenen Weta-Gattungen. Gwyneira betrachtete diese Kreaturen mit eher gemischten Gefühlen. Die Rieseninsekten waren ihr nie sonderlich sympathisch gewesen.
»Das war mein Urgroßvater, nicht?«, fragte Gloria stolz.
Gwyneira nickte. In Wirklichkeit war Lucas eher ihr Großonkel gewesen, aber das musste das Kind nicht wissen. Lucas wäre glücklich über diese kluge Urenkelin gewesen, die endlich seine Interessen teilte. Ob man Glorias Begeisterung für Insekten und sonstiges Getier allerdings auch in einer englischen Mädchenschule zu schätzen wusste?
© 2008 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
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Autoren-Porträt von Sarah Lark
Sarah Lark, geboren 1958, arbeitete lange Jahre als Reiseleiterin. Ihre Liebe für Neuseeland entdeckte sie schon früh. Seine atemberaubenden Landschaften haben sie seit jeher magisch angezogen. Sarah Lark ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Schriftstellerin. Sie lebt in Spanien und arbeitet zurzeit an ihrem nächsten Roman. Unter dem Autorennamen Ricarda Jordan entführt sie ihre Leserinnen auch ins farbenprächtige Mittelalter (Die Pestärztin).
Bibliographische Angaben
- Autor: Sarah Lark
- 2009, 13. Aufl., 832 Seiten, 2 Abbildungen, Maße: 12,4 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404162617
- ISBN-13: 9783404162611
- Erscheinungsdatum: 06.04.2009
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