Erinnerungen
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Mit dem Fall der Mauer brach zugleich die Nachkriegsordnung zusammen und etwas Neues trat hervor. Nun kam es in den Jahren nach 1990 darauf an, die innere Einheit Deutschlands voranzutreiben.
In den Erinnerungen 1990 - 1994 erzählt Helmut Kohl von den Jahren des Umbruchs, in denen sich das Schicksal Deutschlands und Europas entschied.
Gerade in den Erschütterungen dieser Zeit zeigt sich, welche Bedeutung der Persönlichkeit in der Politik zukommt: Nur dank eigener Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit, dank des in vielen Jahren erworbenen Vertrauens und intensiv gepflegter Kontakte war es Helmut Kohl immer wieder möglich, kritische Situationen zu meistern und das Projekt der deutschen Einheit sicher zu vollenden.
Es war eine Zeitenwende, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte: Mit dem Fall der Mauer brach zugleich die Nachkriegsordnung zusammen, und etwas Neues trat hervor. Aber wie dieses Neue gestalten, wenn die Koordinaten der nationalen wie der internationalen Politik fortwährend neu bestimmt werden mussten?
Zeitweise gewannen die Ereignisse eine solche Dynamik, dass sie kaum zu steuern waren: Immer deutlicher zeichnete sich die desolate wirtschaftliche Lage der DDR ab; jeden Tag machten sich Tausende auf den Weg nach Westen, in die Bundesrepublik. Starke Beharrungskräfte widersetzten sich in der Sowjetunion Gorbatschows Reformpolitik; wie gefährdet seine Position war, erwies sich in dem Putschversuch vom August 1991, als die Welt für einige Tage den Atem anhielt. Mit den ethnischen Konflikten im auseinanderbrechenden Jugoslawien kehrte nach über fünfundvierzig Jahren der Krieg nach Europa zurück - auf einen Kontinent, den die Erfahrung zweier Weltkriege so sehr gezeichnet hat, dass Deutschlands unmittelbare Nachbarn in Ost und West, Polen und Frankreich, einem erstarkenden wiedervereinigten Deutschland mit nur schwer auszuräumendem Misstrauen begegneten.
Aber nicht nur international gab es zum Teil massive Vorbehalte, mitunter setzten sogar deutsche Politiker alles daran, den Weg zur Einheit zu blockieren. Heftig umstritten war insbesondere die Einbindung Gesamtdeutschlands in die Nato, mit der die Einheit abgesichert werden sollte.
In den Jahren nach 1990 kam es darauf an, die innere Einheit Deutschlands voranzutreiben. Im Mittelpunkt standen dabei das
In den Erinnerungen 1990 - 1994 über das Herzstück seiner Regierungszeit, erzählt Helmut Kohl von den Jahren des Umbruchs, in denen sich das Schicksal Deutschlands und Europas entschied. Gerade in den Erschütterungen dieser Zeit erweist es sich, welche Bedeutung der Persönlichkeit in der Politik zukommt: Nur dank eigener Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit, dank des in vielen Jahren erworbenen Vertrauens und intensiv gepflegter Kontakte war es ihm immer wieder möglich, kritische Situationen zu meistern und das Projekt der deutschen Einheit sicher zu vollenden.
Erinnerungen 1990 bis 1994 von Helmut Kohl
LESEPROBE
11.
Partnerschaft
In der DDR machten SED/PDS, SPD undGewerkschaften mit Warnstreiks und Protestversammlungen, an denen Tausende umihre soziale Sicherheit besorgte Menschen teilnahmen, Stimmung gegen den»wirtschaftlichen Ausverkauf der DDR an die BRD«. Am 10. Mai, nur eine Wochenachdem die Modalitäten des Umtauschs von Mark der DDR zu D-Mark vereinbartworden waren, sprach Ministerpräsident de Maizière in der Volkskammer über dieschwerste wirtschaftliche Krise der DDR, in der das Land je gewesen sei. Erstand unter dem Druck des Koalitionspartners SPD, der drohte, dasRegierungsbündnis mit der Allianz für Deutschland aufzukündigen.
In dieser Situation traf Lothar deMaizière am 14. Mai mit mir zusammen. Das war ein überaus schwieriges Gespräch,bei dem es um einige noch ungelöste, aber keinesfalls unlösbare Fragen ging.
So trat die DDR-Regierung zwar fürden freien Handel mit Grund und Boden ein; sie wollte aber - um Spekulation zuverhindern - für eine Übergangszeit von zehn Jahren Personen, die an einembestimmten Stichtag ihren Wohnsitz nicht in der DDR hatten, nur einErbpachtrecht mit Vorkaufsrecht zu den dann marktüblichen Preisen einräumen.Das hätte jegliche Investitionsbereitschaft im Keime erstickt, deshalb mussteich dem DDR-Ministerpräsidenten diese Idee ausreden. Schließlich gelang es mir,meinen schwierigen Gesprächspartner umzustimmen.
Über den Umstellungskurs der Rentenim Verhältnis von 1:1 und die Anpassung des DDR-Rentensystems an das derBundesrepublik waren wir uns bald einig. Es war mir ein besonderes Anliegen,jener Generation tätige Solidarität zuteil werden zu lassen, die die volle Lastdes Krieges, der Niederlage und von mehr als vierzig Jahren SED-Regime getragenhatte. Das führte dazu, dass die finanzielle Absicherung der Rentner in denneuen Bundesländern wesentlich schneller verbessert wurde, als es beiausschließlich ökonomischer Betrachtung zu rechtfertigen gewesen wäre: Währenddie Durchschnittsrente im Osten Mitte 1990 bei 600 Mark (Ost) lag, betrug sieab dem 1. Januar 1994 1400 D-Mark.
GrundlegendeMeinungsverschiedenheiten gab es in der Frage, ob enteignete Immobilienzurückzugeben seien oder als Ausgleich eine Entschädigung zu zahlen sei. Wasdie von der sowjetischen Besatzungsmacht zwischen 1945 und 1949 verfügtenEnteignungen anging, gab es ohnehin ein klares »Njet«des Kreml: Moskau hatte am 28. April in einem Memorandum davor gewarnt, die»Gesetzlichkeiten der Maßnahmen und Verordnungen in Frage zu stellen, die dieVier Mächte in Fragen der Entnazifizierung, der Demilitarisierung und derDemokratisierung gemeinsam oder jede in ihrer ehemaligen Besatzungszoneergriffen haben. Die Rechtmäßigkeit dieser Beschlüsse, vor allem in Besitz- undBodenfragen, unterliegt keiner neuerlichen Prüfung oder Revision durch deutscheGerichte oder andere deutsche Staatsorgane.« Das wareine sowjetische Vorbedingung für die Einheit, und das Bundesverfassungsgerichthat diese Vorgabe später bestätigt. Bezüglich der Enteignungen nach 1949konnten wir vorerst keine Einigung erzielen, so dass dieses Thema aus demVertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ausgeklammert wurde.
Am 16. Mai einigten sich Bund undLänder schließlich über die Finanzierung der deutschen Einheit. Bisher hattesich die Mehrzahl der Länder geweigert, das vorgesehene Drittel der Kosten zutragen. Auf Empfehlung der Finanzminister von Bund und Ländern hatte ich michnun mit den Ministerpräsidenten auf die Einrichtung eines Fonds »DeutscheEinheit« in Höhe von 115 Milliarden DM verständigt, der im Staatsvertrag verankertwurde und bis Ende 1994 als Zuschuss zur DDR-Haushaltsfinanzierung dienensollte. 95 Milliarden DM sollten durch eine langfristige Anleihe amKapitalmarkt, 20 Milliarden DM durch Einsparungen im Bundeshaushalt finanziertwerden. In diese 20 Milliarden sollten die Gelder für die Zonenrandförderungund die nun schrittweise abzubauenden Berlinhilfen einfließen.
Während in Bonn fieberhaft an derFertigstellung des Vertrags über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialuniongearbeitet wurde, flog ich zusammen mit Außenminister Hans-Dietrich Genscherund Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg nach Amerika. Mein Besuch inWashington war dringend notwendig geworden, weil die amerikanische Regierungwegen der Krise um Litauen wirtschaftliche Sanktionen gegen Moskau erwog. Daswar das Gegenteil dessen, was ich - wenn auch aus anderen Erwägungen heraus -jetzt für notwendig und wünschenswert hielt. Mir ging es bei dem Gespräch mitdem amerikanischen Präsidenten vor allem um eine großzügige wirtschaftliche UnterstützungGorbatschows, um ihm die Zustimmung zu einem Verbleib Deutschlands in der Natoabzuringen.
Ich schilderte meinem Freund GeorgeBush, wie bereits einige Tage zuvor Außenminister Baker in Bonn, dassGorbatschow enorme Probleme habe und der gesamte Reformkurs in Gefahr gerate,wenn der Generalsekretär nicht bald Erfolge vorweisen könne. Die Fortsetzungdes Reformkurses liege im gemeinsamen Interesse der gesamten westlichen Welt.George Bush gab mir recht, wandte aber ein, dass esihm angesichts der Ereignisse in Litauen, das seine Loslösung von Moskauanstrebte, schwerfalle, Moskau wirtschaftlich zuunterstützen.
Auch in Deutschland habe man viel Sympathien für Litauen, erwiderte ich, wir müssten unsaber davor hüten, dass allein dieses Thema die Politik des Westens gegenüberMoskau bestimme.
Der Präsident bekräftigte daraufhin,dass die Perestroika nicht scheitern dürfe. Das habe er auch der litauischenPremierministerin Kazimiera Prunskiene erläutert.Allerdings müsse er auch in Rechnung stellen, dass diese Zusammenhänge nichtüberall in Senat und Kongress so gesehen würden. Trotz der Gefahr einesRückschlages bei der sowjetischen Reformpolitik verlangten dort einige sogarvon ihm, wegen der sowjetischen Boykottmaßnahmen den für Ende Mai / Anfang Junivorgesehenen Washingtoner Gipfel mit Gorbatschow zu verschieben und Sanktionengegen Moskau zu verhängen.
Im weiteren Verlauf des Gesprächsmachte ich deutlich, dass der amerikanisch-sowjetische Gipfel unbedingt auchfür Gorbatschow ein Erfolg werden müsse. Im Gegensatz zu den Zeiten Stalins,Chruschtschows und Breschnews habe es die Führung der Sowjetunion heute auchdaheim mit einer öffentlichen Meinung zu tun. Gerade angesichts der Probleme,mit denen er zu kämpfen habe, dürfe Gorbatschow weder in den Augen der eigenennoch der Weltöffentlichkeit als Verlierer dastehen, sondern müsse sich alsselbstbewusster Vertreter einer Weltmacht präsentieren können.
Ich bedrängte Bush geradezu mitderlei Argumenten, weil er davon überzeugt war, dass es im Umgang mitGorbatschow sehr stark auf die Psychologie ankam. Der amerikanische Präsidentversprach, Gorbatschow mit dem erforderlichen Respekt zu behandeln - mit allemRespekt, den er nicht nur als Individuum verdient habe, sondern der ihm alsOberhaupt der Sowjetunion zustehe.
Bezüglich der Lage in Deutschlandinformierte ich den Präsidenten über den Stand der Dinge: Dass derStaatsvertrag jetzt unmittelbar vor der Unterzeichnung stehe, hatten wir nochvor vier Wochen selbst nicht für möglich gehalten; zum 1. Juli werde die D-Markin der DDR eingeführt. Die Hauptschwierigkeiten bei der deutschen Vereinigunglägen jedoch nicht in Wirtschafts- und Finanzfragen, sondern bei der Verwundungder Seelen durch vierzig Jahre Stalinismus. Dazu gab ich einen kurzen Exkurs überdie Hinterlassenschaft des DDR-Geheimdiensts. Abschließend verglich ich meineSituation mit der eines Bauern, der vorsorglich, weil möglicherweise einGewitter droht, die Heuernte einbringen möchte.
Präsident Bush stellte fest, in alldiesen Fragen mit mir auf derselben Wellenlänge zu liegen. Dann kam er auf dieUS-Truppen in Europa zu sprechen. Er sorgte sich darum, dass der Abzug dersowjetischen Truppen mit der Forderung nach dem Abzug der amerikanischenverknüpft werden könnte. Auch deshalb sei es entscheidend, dass man bei dergemeinsamen Ansicht über die Unerlässlichkeit der Nato bleibe und nicht etwaden Sowjets erlaube, über den Zwei-plus-Vier-Prozessin einen KSZE-Prozess überzugehen und damit das Bündnis zu überspielen. Dasschließe eine Modernisierung der KSZE nicht aus, aber wichtig sei eineerweiterte Rolle der Nato, denn für die US-Präsenz in Europa sei mit ihr eineInstitution gegeben, in der die USA eine angemessene Rolle spielten. Ichpflichtete ihm bei. Wir Deutschen wollten den vorgesehenen Weg in engerAbstimmung mit den Vereinigten Staaten gehen. George Bush war ein Glücksfallfür Europa und die Deutschen. Im zwanzigsten Jahrhundert regierten im WeißenHaus viele Präsidenten, die weit weniger von Europa und Deutschland wussten alsdieser Mann. Das war in der jetzigen dramatischen Übergangszeit mit all ihrenGefahren und Chancen wichtiger denn je.
Für den Vormittag des 18. Mai wardie Unterzeichnung des Vertrags über die Schaffung einer Wirtschafts-,Währungs- und Sozialunion mit der DDR angesetzt. Nach einer kurzen Nacht imFlugzeug ging ich am Morgen vom Kanzleramt hinüber zum Palais Schaumburg. Hierim alten Kabinettssaal, wo einst meine Vorgänger Adenauer, Erhard, Kiesinger,Brandt und Schmidt regierten, hatten sich die beiden Delegationen versammelt,und die in Leder gebundenen Exemplare des Vertrages lagen zur Unterzeichnungvor.
Man kann sich heute kaum nochvorstellen, mit welchem Hochdruck an diesem Vertragswerk gearbeitet worden war.So etwas hatte es noch nie gegeben: ein Vertrag, mit dem sich ein Land dazuverpflichtete, seine Wirtschaftsordnung völlig zu verändern und gleichsam überNacht den Schritt von einer zentralisierten Kommandowirtschaft zur sozialenMarktwirtschaft zu tun. Viele hatten in den vergangenen Tagen und Wochen daranmitgewirkt, oft bis an den Rand der Erschöpfung. Hans Tietmeyer als Leiter derwestdeutschen Delegation trug maßgeblich dazu bei, dass dieser Vertrag, der fürmich zu den größten Leistungen der modernen deutschen Wirtschaftsgeschichtegehört, ein Erfolg wurde. Besonders dankbar bin ich Theo Waigel, der sich mitunermüdlichem persönlichem Einsatz auch in dieser entscheidenden Fragebleibende Verdienste um die Einheit unseres Vaterlandes erworben hat.
Es war ein ergreifender Augenblick,als Theo Waigel und der von der SPD gestellte DDR-Finanzminister Walter Rombergihre Unterschriften unter das Papier setzten. Für die Menschen in Deutschlandwurde damit in wichtigen Bereichen ihres täglichen Lebens der Weg zur Einheiterlebbare Wirklichkeit. Eine gemeinsame Währung ist nicht nur schlichtesZahlungsmittel, sondern mit enormer politischer Symbolik aufgeladen: DieStabilität der D-Mark stand auch für die Stabilität der freiheitlichenDemokratie auf dem Fundament unseres Grundgesetzes. Dass die Reichsmark auf Grundder Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg an der Destabilisierung derWeimarer Republik wesentlichen Anteil hatte, war eine traumatische Erfahrungaller Deutschen. So gesehen verband sich mit der Unterzeichnung desStaatsvertrages noch eine weitere Botschaft: Die Geschicke der Deutschen in derBundesrepublik und in der DDR wurden dadurch unauflösbar miteinander verbunden.
Mit dem Übergang von dersozialistischen Kommandowirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft betraten wir invielerlei Hinsicht Neuland und mussten nach Lösungen für eine Fülle nie dagewesener Probleme suchen. So spielten die »volkseigenenBetriebe« zwar innerhalb des kommunistischen Machtbereichs qualitativ eineführende Rolle, aber auf dem Weltmarkt waren ihre Produkte nur schwer absetzbar.Es wäre um vieles leichter gewesen, wenn der osteuropäische und der sowjetischeMarkt intakt geblieben wären. Leider war das nicht der Fall. Vor allem dasunerwartete Ende der Sowjetunion und, damit verbunden, der rasche Zusammenbruchdes Wirtschaftssystems im gesamten kommunistischen Machtbereich führten zueinem dramatischen Einbruch der DDR-Wirtschaft.
Mir ist später oft vorgehaltenworden, ich hätte den Menschen in den neuen Bundesländern Sand in die Augengestreut, als ich ihnen »blühende Landschaften« in Aussicht stellte. Viele, diemich deshalb kritisierten, müssen heute zugeben, dass ich so falsch nicht lag.Es stimmte zwar, dass ich mich im Zeitmaß irrte, aber in der Hauptsache irrteich nicht: Wer mit offenen Augen durch die neuen Bundesländer fährt und dasheutige Erscheinungsbild mit dem von 1990 vergleicht, der wird nichtbestreiten, dass wir - ungeachtet aller alten und neuen Probleme - mit demAufbau Ost weit vorangekommen sind.
Manche mögen sich fragen, was ausder DDR geworden wäre, wenn es in der Sowjetunion keine Perestroika und keinGlasnost gegeben hätte und Generalsekretär Erich Honecker von Moskau weitergestützt worden wäre. Die Antwort ist nicht spekulativ, im Gegenteil. Heutezugängliche Dokumente aus der DDR zeigen deutlich das Versagen desPlanungssystems, die Illusionen der Parteiführung und die Ausweglosigkeit derwirtschaftlichen Lage. Damit belegen diese Quellen eindeutig, was uns von denSpitzenpolitikern der DDR selbst noch 1990 nach den ersten freien Wahlen imOsten vorenthalten wurde: Spätestens seit 1988 zeichnete sich derwirtschaftliche Zusammenbruch der DDR ab. Besonders aufschlussreich ist, wasGerhard Schürer, von 1965 bis 1989 Vorsitzender der Staatlichen Plankommission,seinerzeit in Analysen dazu feststellte und später bekräftigte.
Angesichts der hohen politischenPriorität, die der »Verbesserung des Lebensstandards« in der DDR eingeräumtwurde, warnte er bereits 1978 und danach immer wieder vor der gefährlichsteigenden Verschuldung bei westlichen Banken und scheute sich nicht, dieUrsachen der Misere zu benennen: Vernachlässigen der Investitionen, steigendeSubventionen, zu hoher Kaufkraftüberhang, Konsum auf Pump, Versorgung aufKosten der Substanz. Folgerichtig, aber vergeblich forderte Schürer etwa 1988, dieKosten und Gewinne jedes Projekts (beispielsweise in der Pkw-Produktion oderbei der Chipfertigung) an den harten ökonomischen Bedingungen des Weltmarkts zumessen.
Um Mittel für dringend notwendigeInvestitionen freizusetzen, schlug er Maßnahmen zur Kürzung des Konsums und zumAbbau des Kaufkraftüberhangs vor - etwa durch Kürzungen im Wohnungsbau,Mieterhöhungen, Zuwachsverringerung bei Sozialausgaben und Löhnen,Preiserhöhungen bei Konsumgütern wie Videogeräten und so weiter. Am 16. Mai1989 erklärte Schürer, die Verschuldung nehme monatlich um eine halbe MilliardeDDR-Mark zu, und wenn dieser Kurs fortgesetzt werde, wäre die DDR 1991zahlungsunfähig. Doch Honecker lehnte Kürzungen beim privaten Konsum strikt ab.Das Dilemma der Führungsspitze beschrieb Finanzminister Ernst Höfner treffend: »Wir leben eben über unsere Verhältnisse!Sonst müssten wir unsere Politik ändern, und das können wir nicht.«
Mit dem ständigen Versuch jedoch,den materiellen Rückstand gegenüber dem Westen zu verringern, ruinierte dieSED-Führung letztlich die Grundlagen der Produktion und der Lebensqualität, denKapitalstock und die Umwelt. Wie wenig die DDR noch zu stabilisieren war, zeigteine Analyse, die Schürer und Höfner gemeinsam mitAußenhandelsminister Gerhard Beil und dessen Staatssekretär AlexanderSchalck-Golodkowski sowie mit dem Leiter der Zentralverwaltung für StatistikArno Donda verfassten und am 30. Oktober 1989 EgonKrenz als dem neuen Generalsekretär und dem Politbüro übergaben. Darin heißtes: »Allein das Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung desLebensstandards um 25 bis 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen.Selbst wenn das der Bevölkerung zugemutet würde, ist das erforderlicheexportfähige Endprodukt nicht aufzubringen.« In ihrerNot empfahlen sie, durch ein »konstruktives Konzept« Hilfe im Westen zu suchen;neben einer Prüfung »aller Formen der Zusammenarbeit mit westlichenUnternehmen« und »Verhandlungen mit der Regierung der BRD über Finanzkredite inHöhe von 2 bis 3 Milliarden DM über bisherige Kreditlinien hinaus« sollte dazuvor allem die Fortsetzung der alten Strategie des Technologieimports gehören.
An eine Korrektur des zentralgeleiteten Wirtschaftssystems wagten sich die Funktionäre in ihrer inOst-Berlin als »streng vertraulich« klassifizierten Analyse jedoch nicht heran.Sie befürworteten lediglich Reformen im Rahmen des sozialistischen Systems,dessen Grundlagen - Staatseigentum, staatliche Rahmenplanung und möglichstgeringe Einkommensdifferenzierung - unangetastet bleiben sollten.
Die Menschen in der DDR jedochverglichen sich in ihren materiellen Ansprüchen weniger mit den deutlichschlechteren Verhältnissen im sozialistischen Bruderland Sowjetunion, sondernmit dem wesentlich höheren Lebensstandard in der Bundesrepublik. Der stand derBevölkerung in der DDR durch den »Genex-Geschenkdienst«,durch die »Intershops«, »Exquisit«- und »Delikat«-Läden ständig vor Augen, indenen Devisenbesitzer und Bezieher höherer Einkommen auch hochwertigeWestprodukte kaufen konnten.
Ohne Zweifel spielten bei derUnzufriedenheit der Bevölkerung auch die fehlenden politischen Freiheiten einegroße Rolle, und das um so mehr, je mehr die Zahl der»Westkontakte« stieg.
Welches Motiv letztlich überwog -wirtschaftliche Probleme oder fehlende politische Freiheiten -, ist kaum zuklären. Richtig ist in jedem Fall: Ohne die offenkundigen Funktionsmängel dessozialistischen Wirtschaftssystems hätte es weder die mutigenBürgerrechtsbewegungen in Polen und Ungarn noch Perestroika und Glasnost in derSowjetunion, noch den dramatischen Zusammenbruch in der DDR im Jahr 1989gegeben.
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Autoren-Porträt von Helmut Kohl
Helmut Kohl kann auf ein reiches politisches Lebenzurückblicken - und so verwundert es kaum, dass seine Memoiren inzwischen dreistattliche Bände füllen. Der erste beschäftigt sich mit Kindheit und Jugend sowiedem rasanten politischen Aufstieg bis zur Kanzlerschaft 1982. Der zweite Banddeckt sein Wirken bis zur deutschen Wiedervereinigung ab, der dritte nun istden ersten Jahren des wiedervereinigten Deutschlands, also der Zeit von 1990-94gewidmet.
Helmut Kohl wird am 3. April 1930 in Ludwigshafen geboren. In der pfälzischenStadt besucht er die Schule und tritt mit gerade 17 Jahren in die CDU ein. Kohlist Mitbegründer der Jungen Union in Rheinland-Pfalz. In Frankfurt am Mainbeginnt er das Studium der Rechtswissenschaft und Geschichte, wechselt dann andie Universität Heidelberg, wo er auch promoviert. 1955 wird er Mitglied desCDU-Landesvorstandes. 1959, mit 29, wird er Mitglied des rheinland-pfälzischenLandtages, dem er zehn Jahre angehört. 1960 heiratet er Hannelore Renner, dieer seit 1948 kennt. Aus der Ehe gehen zwei Söhne hervor.
1966 gelingt ihm der Einstieg in die Bundespolitik, er wirdMitglied des Bundesvorstandes der CDU, 1969 stellvertretenderBundesvorsitzender. Im selben Jahr wird er zum Ministerpräsidenten vonRheinland-Pfalz gewählt. Sieben Jahre bleibt er im Amt.
Ab 1973 ist Helmut Kohl CDU-Vorsitzender und bleibt indiesem Amt 25 Jahre. Nach der verlorenen Bundestagswahl 1976 geht Kohl alsOppositionsführer der CDU/CSU nach Bonn. 1982 ist es dann soweit: Nach demBruch der sozial-liberalen Koalition wird Kohl mit Hilfe der FDP zum Kanzlergewählt. Die Kanzlerschaft steht außenpolitisch unter dem Zeichen dereuropäischen Integration. Innenpolitisch wird Kohl zum"Konsenspolitiker", viele Reformen bleiben liegen. Im Flick-Untersuchungsausschussum illegale Parteispenden sagt Kohl die Unwahrheit. Dennoch setzt er sich 1987im Bundestagswahlkampf gegen den späteren Bundespräsidenten Johannes Rau durch.
1989 kommt dann die große Stunde Helmut Kohls. Wenige Wochennach dem Fall der Berliner Mauer legt er das "Zehn-Punkte-Programm zurÜberwindung der Teilung Deutschlands und Europas" vor. In den folgendenMonaten kann er die Zustimmung der ehemaligen Siegermächte für dieWiedervereinigung erreichen. Mit dem 3. Oktober 1990 ist Deutschland offiziellwiedervereinigt. Wenige Monate später, 1991, wird Kohl erwartungsgemäß zumdritten Mal zum Bundeskanzler gewählt. 1994 wiederholt sich der Wahlerfolg.Während dieser Jahre bleibt Kohls Leidenschaft die europäische Integration.Meilensteine sind hier der Vertrag von Maastricht und die Weichenstellung füreine gemeinsame europäische Währung. Für seine Verdienste wird er zumEhrenbürger Europas ernannt; eine Auszeichnung, die zuvor nur dem französischenPolitiker Jean Monnet verliehen wurde.
1998 unterliegt Kohl dem sozialdemokratischen HerausfordererGerhard Schröder. Noch für eine letzte Legislaturperiode behält Kohl seinBundestagsmandat, das von dem Parteispenden-Untersuchungsausschuss überschattetwird. Bei den Wahlen 2002 zum deutschen Bundestag kandidiert Helmut Kohl nichtmehr.
- Autor: Helmut Kohl
- 2007, 2. Aufl., 784 Seiten, 20 farbige Abbildungen, 50 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 15,3 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426274086
- ISBN-13: 9783426274088
- Erscheinungsdatum: 14.11.2007
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