Glühende Tränen
Sehnsucht und Leidenschaft vor der prächtigen Kulisse Australiens: der neue Roman von Kaye Dobbie, der Autorin von "Der Duft der roten Akazie".
Tasmanien, 1835: Rachel Twigg ist eine schwarzhaarige Schönheit - und sie...
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Produktinformationen zu „Glühende Tränen “
Sehnsucht und Leidenschaft vor der prächtigen Kulisse Australiens: der neue Roman von Kaye Dobbie, der Autorin von "Der Duft der roten Akazie".
Tasmanien, 1835: Rachel Twigg ist eine schwarzhaarige Schönheit - und sie ist allein, seit sie mit fünf Jahren ihren Vater verlor. Als sie an einem Sommerabend Will Moody begegnet, ist es, als würden alle ihre Träume wahr. Doch Will ist ein unsteter Geist. So sehr er Rachel liebt - er verbirgt ein schreckliches Geheimnis, das ihr Glück schon bald zerstören könnte. Und es gibt noch einen zweiten, der Rachel für sich gewinnen will: Israel Potter, der gefährliche, unwiderstehliche Bruder ihres Dienstherrn. Er ist gewohnt, sich zu nehmen, was er will.
Klappentext zu „Glühende Tränen “
An ihrem dreizehnten Geburtstag, am Mittsommerabend 1835, trifft Rachel Twigg den jungen Will Moody zum ersten Mal. Seit fünf Jahren lebt sie im Waisenhaus in Hobart, Tasmanien. Seit dem Tag, an dem ihr Vater starb. Ihr Vater, der vom Straßenraub lebte, ihr Vater mit den rabenschwarzen Haaren und dem spanischen Blut. Beides hat sie von ihm geerbt. Vier Jahre später, mit siebzehn, trifft sie Will wieder. Er wird ihre große Liebe. Doch so sehr er ihre Liebe erwidert - in seinem Herzen gibt es ein dunkles Geheimnis, dass er selbst vor Rachel sorgsam bewahrt. Und seine Liebe ist in Gefahr, denn Israel Potter hat ebenfalls ein Auge auf Rachel geworfen. Israel ist daran gewöhnt, zu bekommen, was er haben will - und jetzt will er Rachel. So beginnt vor der Kulisse Australiens ein Kampf um die Hingabe einer Frau und die Leidenschaft zweier Männer - ein Kampf, bei dem es einen Verlierer geben muss.
Lese-Probe zu „Glühende Tränen “
Glühende Tränen von Kaye DobbieAus dem Englischen von Karin Dufner
Prolog
Es war so kalt, dass Rachel die Arme um ihren zierlichen Körper schlang. Das Toben des mittsommerlichen Unwetters hatte nachgelassen, der Wind flaute ab, und der sintflutartige Regen war in ein leichtes Nieseln übergegangen. Aus den Zweigen über ihrem Kopf tropfte ihr Wasser ins Haar. Sie schüttelte den Kopf, schob das Laub beiseite und atmete den kühlen, frischen Duft nach Erde ein.
Durch das hohe Gras und das Schilf vor ihr konnte sie den aufgewühlten Fluss erkennen, der wegen der Regenfälle stark angestiegen war. Enten wagten sich aus ihren Verstecken, um vor dem Dunkelwerden noch einmal auf Futtersuche zu gehen. Vorhin hatte Rachel neugierig einen Mann mit einem Wagen beobachtet, der zuerst seine Pferde getränkt und dann seinen Weg über die Brücke fortgesetzt hatte. Doch er hatte sie nicht bemerkt, so gut war sie hinter dem Gras und dem niedrigen Gebüsch am Ufer getarnt.
Hinter sich konnte Rachel dunkle Rauchwolken ausmachen. Sie quollen aus den Kaminen der Häuser, aus denen die Kleinstadt Richmond bestand. Eines der Gebäude beherbergte das Waisenhaus. Rachel wandte sich entschlossen ab. Die Sonne ging unter, und ihre verblassenden Strahlen malten einen Regenbogen auf die unruhigen Gewitterwolken. Kurz betrachtete sie die bunten Farben und fragte sich, ob das Sprichwort wohl recht hatte.
Das, in dem es hieß, dass ein Regenbogen Töpfe voller Gold brachte.
... mehr
Einen Topf Gold hätte sie nämlich gut gebrauchen können, denn er hätte alle ihre Probleme gelöst. Wieder schlang sie die Arme um den Leib, stützte das Kinn auf die mageren Knie und schloss die Augen. Seit Pa fort war - sie brachte es noch immer nicht über sich, ihn als tot zu bezeichnen -, war sie offenbar die Einzige, die sich für ihre Zukunft interessierte. Damals hatte Pa Pläne geschmiedet und Entscheidungen gefällt, während Rachel an nichts hatte denken müssen als an den Sonnenschein, Blumen und Pas warmen Mantel, der sie zudeckte, wenn sie sich vom langsamen Trab des Pferdes in den Schlaf wiegen ließ. Doch seit Pa fort war, hatte ihr Leben eine andere Wendung genommen, und zwar eine unerfreuliche. Inzwischen wurde es von ihrem schmalen Bett und den faden Mahlzeiten im Waisenhaus bestimmt. Und den Gesichtern der anderen Mädchen mit den übergroßen Augen.
Es war so ungerecht, sagte sie sich, während sie mit aller Macht die Tränen zurückdrängte. Warum hatte Pa sterben müssen? Und dabei hatte sie doch nur ihn gehabt. Er war ein guter Mensch gewesen. Das fand wenigstens Mrs Roadknight, und die kannte ihre »Jungs«. Sie beköstigte sie, trocknete ihre regennassen Mäntel und beteuerte gegenüber der Polizei, sie habe sie seit Monaten nicht gesehen. Dabei machte sie ein so aufrichtiges Gesicht, dass die Polizisten gar nicht anders konnten als ihr zu glauben, auch wenn sie wussten, dass sie log.
»Niemals hat er arme Leute bestohlen«, meinte Mrs Roadknight zu Rachel. »Nur die Reichen, und selbst dann hat er sie so höflich behandelt, dass keine Klagen kamen. Deshalb hat es auch so lange gedauert, ihn zu schnappen. Niemand wollte, dass er erwischt wird. Aber die Belohnung ...« Sie schüttelte den Kopf. »Zehn Pfund sind eine Menge Geld, Rachel. Und manche Menschen sind eben so ... Einer dieser Kopfgeldjäger hat ihn schließlich aufgespürt.«
Und so hatte Pas Karriere als Straßenräuber und Gentleman ein jähes Ende gefunden. Er war erschossen worden, als er bei seiner Festnahme Widerstand geleistet hatte. Nun gab es einen Banditen weniger auf der Welt, der kleine Siedlungen und einsame Reisende bedrohte und die Behörden von Van Diemen's Land auf Trab hielt. Allerdings hieß das nicht, dass nicht genügend Nachfolger parat gestanden hätten, um in seine Fußstapfen zu treten. Nur, dass Pa etwas Besonderes gewesen war. Selbst Mrs Roadknight, die den Gasthof zum Ende der Welt an der Straße zwischen Pitt Water und Jerusalem betrieb und ihre Pappenheimer ins Herz geschlossen hatte, fand, dass er mehr Stil gehabt hatte als die anderen.
Der Gasthof war als Treffpunkt von Straßenräubern und Dieben berüchtigt, auch wenn die Polizei nichts beweisen konnte und zudem viel zu wenig Leute hatte, um es auch nur zu versuchen.
Nach Pas Tod hatte Mrs Roadknight Rachel bei sich aufgenommen. Das kleine Mädchen war erst fünf gewesen und hatte die nächsten drei Lebensjahre im Gasthof verbracht. Ein wenig verwildert zwar, aber innig geliebt und von den »fremden Männern«, die Mrs Roadknight Tag und Nacht besuchten, wie eine kleine Prinzessin behandelt. So hatte Rachel von Kindesbeinen an gelernt, der Obrigkeit zu misstrauen. Sie wurde zur leidenschaftlichen Anhängerin des Mythos, vom Straßenräuber - einem aufrichtigen Mann, dem von einer böswilligen Gesellschaft übel mitgespielt worden war, bis er sich gezwungen gesehen hatte, sich in den Busch zu flüchten, sich mit Raub und Diebstahl durchzuschlagen und der Polizei nach Kräften aus dem Weg zu gehen.
In einigen Fällen traf das auch zu. Doch viele der Männer, die sich als Banditen oder Straßenräuber bezeichneten, waren brutal und gewissenlos. Außerdem hatte so mancher wegen der Grausamkeiten, die er im Straflager oder in der Arbeitsbrigade hatte erdulden müssen, den Verstand verloren. Doch Rachel war noch zu klein gewesen, um das zu verstehen. Sie wusste nur, dass es Männer gab, deren Blick sie ängstigte, weshalb sie ihnen lieber aus dem Weg ging.
Irgendwann hatte die Polizei dann kurzen Prozess mit Mrs Roadknight gemacht und den Gasthof an der Jerusalem Road geschlossen. Und so war Rachel, damals acht, in dem neuen Waisenhaus in Richmond gelandet. Hier wurde sie nicht mehr wie eine kleine Prinzessin behandelt, sondern war nur noch eines von vielen im Stich gelassenen Mädchen.
Rachel schluckte und hob wieder den Kopf. Wie immer hatte sich ihre Frisur gelöst, sodass ihr das Haar wie eine dicke schwarze Wolke über den Rücken fiel. Die Regentropfen darin glitzerten silbrig. Sie liebte es, wie das Gewicht ihres Haars an ihrem Hals zog. Im Waisenhaus galt die Vorschrift, das Haar stets mit einer Haube zu bedecken. Aber hier sah sie ja niemand.
»Schwarz wie bei einer Zigeunerin«, hatte Pa immer gesagt. Bei Kerzenschein schimmerte es bläulich. Rachels Gesicht war blass und würde eines Tages makellos oval sein. Nun aber war es zu mager und ein wenig zu kantig, um als schön zu gelten. Ihre Nase war gerade, wenn auch vielleicht ein bisschen zu lang, und sie hatte dunkle, geheimnisvoll dreinblickende Augen mit leicht nach oben gebogenen Augenwinkeln. Sie waren so schwarz wie ihr Haar.
»Wir haben spanisches Blut«, hatte ihr Pa ihr erklärt. »Einer unserer Vorfahren hat zur Zeit von Sir Francis Drake mit der Armada Schiffbruch erlitten und ist irgendwie in Devon gestrandet. « Das klang romantischer, als wenn man sie, wie so häufig auf ihren Reisen durch Van Diemen's Land, als »Zigeunerbrut« oder »Schwarze« bezeichnete. Denn wenn Pa sich nicht als Gentlemanräuber betätigte, verdiente er sein Geld als fahrender Händler, der seine Waren an die einsamen Frauen in den Siedlungen auf der Insel verkaufte. Pa wirkte auf Frauen. Das hatte sogar Rachel bemerkt. Sie wusste auch, das einige gern das Bett mit ihm teilten. Doch mehr wurde nie daraus. Sie, Rachel, war sein Ein und Alles, seine Freundin und sein Lehrling.
Es wurde rasch dunkel. Bald würde man sie im Waisenhaus vermissen. Schließlich hatte sie Pflichten zu erledigen und musste kochen, putzen und den jüngeren Mädchen helfen ... denn inzwischen war Rachel dreizehn. Obwohl seit Pas Tod acht Jahre vergangen waren, spürte sie immer noch seine Nähe, wenn sie nachts die Augen schloss. Wieder stiegen Tränen in ihr auf. Für gewöhnlich unterdrückte sie sie, doch weil sie nun allein in der Dämmerung saß, ließ sie ihnen freien Lauf.
Sie weinte eine lange Zeit. Es war so ungerecht ! Außer Pa hatte sie niemanden auf der Welt gehabt. Auch wenn es manchmal ein hartes und von Ungewissheit geprägtes Leben war, war sie wenigstens nicht allein gewesen. Das Wissen, zu jemandem zu gehören, war es, was ihr am meisten fehlte. Im Waisenhaus war die Stimmung kühl. Sie bekamen zwar Essen und Kleidung und wurden nicht nur körperlich, sondern auch spirituell versorgt, denn sonntags ging es im Gänsemarsch in die Kirche - aber was die Gefühle betraf ... Rachel hatte den Eindruck, dass sie innerlich so leer und karg war wie die hohen, schroffen Berge im Westen. Und das war für einen warmherzigen und liebesfähigen Menschen wie sie, der sich nach Zuneigung sehnte, manchmal so unerträglich, dass sie einfach flüchten musste.
So wie jetzt.
Nur, um mit ihren Erinnerungen und Gedanken allein zu sein und wieder Kraft zu sammeln. Und um sich vor Augen zu halten, wer sie war, nämlich ein eigenständiger Mensch, nicht nur eine Nummer in Waisenhaustracht.
Plötzlich knackte hinter ihr ein Zweig. Ängstlich fuhr Rachel herum und konnte zunächst nichts erkennen, denn es war in den Momenten, in denen sie ihrer Vergangenheit nachgetrauert hatte, merklich dunkler geworden. Dann bewegte sich ein Schatten. Es war eine Gestalt auf einem Pferd. Das Tier wieherte leise und fi ng an, das lange Gras abzuweiden. Rachel bekam vor Furcht Herzklopfen. Es war gefährlich, allein hier draußen zu sein. Schließlich wimmelte es von Halunken, Dieben und Mördern, die, anders als ihr Vater, keine Gentlemen waren. Sie schickte sich zur Flucht an.
»Alles in Ordnung«, sagte da eine leise, dunkle Stimme. Der Akzent war gedehnt und erinnerte sie ein wenig an den von Pa. »Ich wollte nur mein Pferd tränken und habe jemanden weinen gehört. Bist du verletzt ?«
Mit großen Augen beobachtete Rachel, wie der Mann sein Pferd näher an sie heranlenkte. Er war nur ein dunkler Schatten in der Dämmerung, sodass sie seine Gesichtszüge anfangs nicht erkennen konnte. Erst als er abstieg, konnte sie ihn besser sehen, allerdings noch immer nicht feststellen, welche Farbe sein Haar hatte, das ihm über die Augen fiel. Seine breiten Schultern ließen darauf schließen, dass er körperlich schwer arbeitete, und sein Mund und sein Kiefer wirkten hart und kantig, was so gar nicht zu seinem besorgten Tonfall passen wollte.
»Bist du wirklich nicht verletzt ?«
Sie schüttelte den Kopf und rieb sich heftig mit dem Ärmel übers Gesicht, um alle Spuren ihrer Schwäche zu beseitigen. »Ich habe nur an etwas Trauriges gedacht«, erwiderte sie zögernd.
Wieder betrachtete er sie, und kurz spielte ein Lächeln um seine schmalen Lippen. »Und was macht dich so traurig, Kleines ?«
»Ich habe an meinen Pa gedacht.« Sie musterte ihn, um festzustellen, welche Wirkung diese Worte auf ihn hatten. »Er ist tot. Ich bin eine Waise.« Offenbar hatte er verstanden. »Dann kommst du aus dem Waisenhaus«, stellte er fest. »Solltest du denn allein hier draußen herumlaufen?«
Rachel zuckte gleichmütig die Achseln, obwohl sich die Angst wieder meldete. Ein wenig nervös blickte sie zu den Rauchwolken aus den Kaminen der Stadt hinüber, die inzwischen nur noch als graue Schmierer am dunklen Himmel auszumachen waren. Sie würde Schwierigkeiten bekommen. Sicher würde man sie ohne Abendessen ins Bett schicken. Und außerdem stand ihr eine Gardinenpredigt von Mrs Hewett bevor, die das Heim leitete und sie ohnehin schon auf dem Kieker hatte. Andererseits hatte sie so selten Gelegenheit, mit einem Mann zu sprechen. Im Waisenhaus
lebten nur Mädchen, und es wurde ausschließlich von Frauen geführt. Ihr fehlte die Aufmerksamkeit von Männern, die sie in Mrs Roadknights Gasthof genossen hatte, und sie vermisste ihren Pa. Dieser Mann klang ein bisschen wie er. Sie wollte sich einfach noch nicht von ihm verabschieden.
Er stand so reglos da, als sei er selbst in Gedanken versunken. Sie betrachtete ihn neugierig. »Wohnen Sie auch in der Stadt ? Habe ich Sie schon einmal in der Kirche gesehen ?«
Er schmunzelte. »Nun, da gehe ich nicht sehr oft hin. Lebst du schon immer hier ?«, wechselte er das Thema.
»Pa und ich sind durchs ganze Land gefahren«, antwortete sie leise. »Er war mit Matthew Brady befreundet, das hat wenigstens Mrs Roadknight gesagt.«
Sie bemerkte, dass der Mann zusammenzuckte. »Meinst du Brady, den Straßenräuber ?«
»Ja.« Sie seufzte. »Aber mein Pa war ein Gentleman und hat niemandem etwas zuleide getan. Er hat sich nur genommen, was er brauchte, und war dabei immer freundlich und höflich zu den Damen. Doch eines Tages haben ihn die Polizei und ein bezahlter Auftragsmörder erwischt und erschossen. Also bin ich eine Weile bei Mrs Roadknight im Gasthof zum Ende der Welt geblieben. Nachdem die Polizei ihr das Lokal geschlossen hat, ist sie zu ihrer Schwester nach Hobart Town gezogen. Für mich war dort kein Platz, und seitdem bin ich im Waisenhaus.«
Er schwieg eine Weile, und sie fragte sich, was er wohl dachte. Wenn sie sonst Pa und Matthew Brady erwähnte, erntete sie aufgeregtes Getuschel und Anerkennung. Doch als der Fremde wieder das Wort ergriff, meinte er nur : »Hast du denn keine anderen Verwandten, bei denen du wohnen kannst ?« Seine Stimme war nur ein Murmeln in der Dunkelheit, so als wäre er selbst ein Teil davon, wie sie mit einem wohligen Schauder dachte.
»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte sie geradeheraus. »Pa hat nie welche erwähnt.« Als eine Brise in den Blättern rauschte, hob sie den Kopf, um ihr Gesicht zu kühlen. Inzwischen standen einige blasse Sterne am Himmel. »Meine Mutter ist gestorben, als ich noch ein Baby war«, fügte sie hinzu. Vergeblich versuchte sie, so etwas wie Trauer zu empfinden. Doch da sie ihre Mutter nie gekannt hatte, vermisste sie sie auch nicht. »Pa hat mir erzählt, sie sei bereits verheiratet gewesen, als er sie kennengelernt hat. Sie haben sieben Nächte zusammen verbracht, und dann kam ihr Ehemann zurück. Doch als ich geboren wurde, hat meine Mutter ihm kurz vor ihrem Tod die Wahrheit gesagt. Daraufhin ist er zu Pa gegangen und hat mich ihm in die Hand gedrückt wie ein Bündel Lumpen. So hat er es wenigstens ausgedrückt.« Sie lachte auf, denn bei Pa hatte es wie eine lustige Anekdote geklungen. »Also habe ich keine Ma und keinen Pa mehr und bin eine Waise. Und deshalb habe ich geweint.«
»Das kann ich verstehen«, antwortete er. »Es ist nicht leicht, allein zu sein.« Inzwischen schwang Bitterkeit in seinem Tonfall mit.
Vielleicht war er ja ein verbannter Sträfl ing und hatte sein Zuhause und seine Angehörigen verlassen müssen, um unter der Knute und bei Zwangsarbeit seine Strafe zu verbüßen. Oder er war ein Siedler, der um die halbe Welt gereist war und sein Glück gesucht, aber nur Elend gefunden hatte.
»Haben Sie denn Familie ?«, erkundigte Rachel sich mitfühlend.
»Nicht mehr«, entgegnete er in einem trostlosen Tonfall, der ihr ans Herz ging. Ohne nachzudenken legte sie die Hand auf seine, die auf einem Ast ruhte.
»Dann sind wir beide in derselben Lage«, verkündete sie, um ihn aufzumuntern.
Er schien überrascht. Sie spürte, wie seine Hand zuckte und sich dann wieder entspannte. »Vielleicht sind wir das ja«, sagte er leicht belustigt.
»Woher kommen Sie denn ?«
Als er sich die Haare aus dem Gesicht schob, fielen sie ihm gleich wieder über die Stirn. »Ich habe drüben in Sorell gearbeitet und bin jetzt endlich wieder auf dem Nachhauseweg.« Sie verstand nicht, warum er spöttisch auflachte. Dennoch fühlte sie sich diesem fremden Mann so verbunden, dass ihre Angst sich legte. Er war aus Gründen, die sie nicht kannte, einsam und unglücklich, und sie spürte eine Nähe, als hätten sie wirklich das gleiche Schicksal erlitten.
Wieder blickte Rachel hinauf zu den Sternen. Im nächsten Moment erhellte sich ihre Stimmung. »Wissen Sie, was für eine Nacht wir heute haben ?«, flüsterte sie so aufgeregt, als sei sie im Begriff, ihm ein Geschenk zu machen.
Wortlos schüttelte er den Kopf.
»Ich habe Geburtstag«, fuhr sie fort. »Ich bin zur Mittsommersonnwende geboren. Mein Pa sagte immer, die Mittsommernacht hat etwas Magisches - Sie wissen schon, wie in uralten Zeiten. Wenn ich mir da etwas wünschen würde, würde es in Erfüllung gehen.«
»Und hast du es je getan ?«, fragte er. Sie stellte fest, dass er näher kam und sich neben sie kauerte.
»Manchmal«, antwortete sie stockend. »Aber nichts ist passiert. Vielleicht habe ich mir ja zu viel gewünscht.«
Als er lächelnd den Kopf senkte, warf sie ihren empört in den Nacken. Die Bewegung ließ ihn aufmerken, und sie stellte fest, dass seine Augen feucht schimmerten. Ob es Tränen waren ? War er womöglich ein Geist, eine verlorene Seele, unerwünscht und allein, die zurückgekehrt war, um am Flussufer umzugehen ? Es hieß, dass es hier einen Geist gab, doch sie hatte die Einzelheiten vergessen. Ihre Haut prickelte.
»Glauben Sie nicht an den Zauber der Mittsommernacht ?«, erkundigte sie sich leise und ängstlich.
Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Mein Vater hat mich immer einen Mondangler genannt, also vielleicht schon.«
Rachel neigte den Kopf zur Seite. Ihre Befürchtungen waren vergessen. »Was ist denn ein Mondangler, Sir ?«
Er lachte auf. Es war ein warmes Lachen, das Lachen eines Freundes. »Das ist ein Mensch, der das Spiegelbild des Mondes in einer Wasserfläche sieht, der denkt, dass der Mond selbst dort schwimmt, und versucht, ihn herauszuangeln.«
Rachel schnaubte. »Ein Dummkopf also ! Gut, ich wünsche mir aber trotzdem etwas.« Schweigen entstand, während sie es tat : Ich möchte diesen Mann wiedersehen. Warum hatte sie ihren Wunsch an so eine Albernheit verschwendet ?, fragte sie sich im nächsten Moment. Sie hätte sich besser einen Topf Gold oder ein liebevolles Zuhause und eine Familie wünschen sollen ...
»Was hast du dir gewünscht ?«, fragte er in bemüht ernsthaftem Tonfall.
Rachel biss sich auf die Lippe. Die Wahrheit konnte sie ihm unmöglich verraten, da er sie dann nur ausgelacht hätte. Stattdessen warf sie einen Blick auf das Pferd, das immer noch graste, und lächelte. »Ich habe mir gewünscht, dass Sie auf Ihrem Pferd einen Ausritt mit mir unternehmen«, flunkerte sie.
Er schien zu überlegen und stand dann auf. »Warum nicht ?«, erwiderte er spöttisch, als spräche er mit sich selbst. »Es passiert nicht oft, dass ich die Wünsche anderer Leute wahr werden lassen kann!«
Rachels Herz machte einen Satz. Er stieg auf und streckte die Hand nach ihr aus. Ohne nachzudenken, griff sie zu und spürte, wie seine Finger ihre fest umfassten, als er sie vor sich in den Sattel zog und seine starken Arme um sie legte. Sein Atem berührte ihr Haar, und sie drehte den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen. Sein Griff um die Zügel wurde fester, und seine Armmuskeln spannten sich an. »Wohin möchtest du galoppieren ?«, fragte er sie ruhig. »Nach Hobart Town und zurück oder ins Meer hinein ?«
Rachel lachte auf. Sie erkannte die Aufregung in seiner Stimme, die so groß wie ihre zu sein schien, sosehr er sie auch zu verbergen versuchte. »Ins Meer!«, rief sie.
Als er seinem Pferd heftig die Fersen in die Flanken stieß, preschte es die Straße entlang. Der Wind blies ihr ins Gesicht, wehte ihr Haar zurück und brachte Wangen und Augen zum Brennen. Sie sprachen beide kein Wort. Nach dem Regen war die Luft abgekühlt, sodass sie sich nun frisch und belebend anfühlte. Es war, als würden sie fliegen. In ihrem ganzen jungen Leben hatte Rachel noch nie so empfunden wie jetzt, als sie mit einem Fremden durch die Nacht ritt. Ihre aufgewühlten Gefühle sorgten dafür, dass sie laut auflachte. Er schloss die Arme fester um sie und drückte sie an sich. Das Pferd geriet ins Stolpern, doch irgendwie gelang es dem Fremden, einen Sturz zu verhindern, und sie stellte erstaunt fest, wie stark er war. Es war ein Gefühl, ganz klein und geborgen zu sein, so wie damals bei ihrem Vater, aber auch anders, und zwar auf eine Weise, die sie nicht verstand. Rachel schob sich das Haar aus dem Gesicht und lächelte in sich hinein. Nie werde ich diesen Moment vergessen, sagte sie sich. Nicht, solange ich lebe. Wenn ich einmal alt bin, werde ich immer noch daran denken.
Nach einer Weile bemerkte sie, dass das Pferd nur noch trabte. Es keuchte und schnaubte, und seine Flanken bebten. Vermutlich war es ziemlich anstrengend, sie beide zu tragen, schoss es ihr durch den Kopf. Zu ihrer Enttäuschung konnte sie die Lichter von Richmond vor ihnen ausmachen und wusste, dass ihr Ausfl ug sich dem Ende zuneigte. Aber er trieb das Pferd wieder zum Galopp an. Seine Hufe ließen Schlamm und Gras am Ufer hochspritzen. Einige Wasservögel flogen, empört über die späte Störung, auf. Lachend drehte Rachel sich zu dem Fremden um.
Kurz hielt er zögernd inne. Im nächsten Augenblick beugte er sich vor, und seine Lippen streiften, warm und weich, die ihren. Rachel war so überrascht, dass sie sich nicht bewegen konnte, und sie spürte, dass er lächelte, ohne es zu sehen. »Du bist ein wunder volles Mädchen«, meinte er. »Ich bin froh, dass ich deinen Wunsch in Erfüllung gehen lassen konnte. Aber jetzt machst du dich besser auf den Weg, sonst bekommst du noch Schwierigkeiten.«
Widerstrebend rutschte Rachel aus dem Sattel. »Werde ich Sie wiedersehen ?«, fragte sie ihn. »Kommen Sie zurück ?«
Er lächelte. »Vielleicht bin ich nächste Mittsommernacht wieder hier, um dir einen Wunsch zu erfüllen, mein Liebling !«
Sie lachte, so wie er es beabsichtigt hatte, und entfernte sich rückwärts. Seine dunkle Silhouette, hoch zu Ross, hob sich vom Himmel ab, an dem inzwischen die Sterne funkelten.
»Wie heißt du ?«, fragte er sie plötzlich.
Sie lief bereits den Weg zurück, den sie gekommen war. »Rachel, ich heiße Rachel !«, rief sie, während ihre Stimme in der Dunkelheit verklang. Hüpfend und lachend rannte sie weiter, ohne sich darum zu kümmern, dass sie von zornigen Gesichtern erwartet und hungrig und mit Striemen zu Bett gehen würde. Nun hatte sie ein Geheimnis, das ganz allein ihr gehörte. Sie dachte oft daran und vergaß es nie. Aber obwohl sie sich in der nächsten Mittsommernacht wieder am Fluss einfand und mit wild klopfendem Herzen in der Dunkelheit wartete, erschien er nicht. Und sie fragte sich, ob er nicht doch nur ein Geist gewesen war.
1
Sind Sie sicher, dass sie sich eignet?«
Die junge Frau umrundete Rachel und musterte sie, bis sie sich fühlte wie eine Kuh auf dem Viehmarkt. Die Frau hatte ihr hellbraunes Haar zu einem Dutt aufgesteckt und ein blasses, eingefallenes und verkniffenes Gesicht. Als das Baby in ihren Armen schrie, wiegte sie es ungeduldig. Man hatte Rachel gesagt, dass sie Martha Potter hieß, dass ihr Mann eine Farm in der Nähe von Richmond besaß und dass sie Hilfe bei der Betreuung ihrer Kinder brauchte.
»Sie hat in fünf Jahren drei Kinder bekommen«, hatte Mrs Finn ihr auf dem Weg zum Salon zugeflüstert, wo Martha Potter wartete. »Und da sie die zweite Ehefrau ist, sind da vielleicht noch andere aus der ersten Ehe. Eine Freundin, die sehr zufrieden war, hat ihr von meinen Mädchen erzählt, also ...« Sie sah Rachel in die leuchtenden und neugierig dreinblickenden Augen. »Ich bin sicher, dass die Stelle genau das Richtige für dich ist, Rachel. Natürlich weiß ich deine Mitarbeit hier im Waisenhaus sehr zu schätzen. Wenn nur Emily nicht letzte Woche zu den Talbots gezogen und Suzanne nicht schon wieder krank wäre !«
Rachel lächelte. »Ja, Mrs Finn.«
Rachel war schon unter Mrs Hewetts Leitung im Waisenhaus gewesen, und jedermann wusste, was für eine Megäre sie gewesen war. Inzwischen hatte sich alles geändert, denn nun hatte Mrs Finn hier das Sagen. Mrs Finn war vernünftig, tüchtig und für diesen Posten ausgezeichnet geeignet. Außerdem war sie der Ansicht, dass jede Frau ein Recht auf Bildung hatte, weshalb alle »ihre« Mädchen lesen konnten. Mittlerweile war Rachel siebzehn, also die Älteste, was allerdings nicht ihre Schuld war. Mrs Finn hatte sie einfach nicht gehen lassen wollen. Bis zum heutigen Tag.
»Sei höflich, Rachel«, sagte sie nun, »und schau zu Boden. Du weißt ja, wie einschüchternd du wirken kannst, wenn du die Leute anstarrst. Das mögen sie nicht, mein Kind!«
Rachel lächelte wieder und senkte ihren anstößig herausfordernden Blick. Sie wusste, dass Mrs Finn sie mochte. Sie war fleißig und auch eine gute Lehrerin, und alle Kinder liebten sie. Mrs Finn bezeichnete sie als »ihren Goldschatz«, und Rachel war stolz darauf, dass sie das ernst meinte. Allerdings war ihr im Grunde ihres Herzens klar, dass es immer Mrs Finns Ziel gewesen war, Rachel in einem Haushalt unterzubringen, in der beruhigenden Gewissheit, dass wieder eines »ihrer« Mädchen ein Auskommen gefunden hatte.
»Sie ist sehr ... dunkel«, meinte Mrs Potter. »Meine Kinder haben alle die blauen Augen und blonden Haare der Potters !« Als ob das etwas Besseres gewesen wäre als schwarzes Haar und dunkle Augen, dachte Rachel. Doch sie schaute weiter zu Boden und faltete die Hände vor dem Leib, um möglichst demütig und fügsam zu wirken.
»Rachel beherrscht sämtliche hauswirtschaftlichen Tätigkeiten«, fuhr Mrs Finn selbstbewusst fort. »Alle meine Mädchen kennen sich im Haushalt aus. Außerdem hat sie im Laufe der Jahre viele Kinder betreut. Sie kann lesen, schreiben und rechnen und näht ganz wunderbar. Sie werden es nicht bereuen, wenn Sie Rachel bei sich aufnehmen, Mrs Potter, das kann ich Ihnen versichern. Zwischen Rachel und den Sträflingsmädchen, die man uns aufzuhalsen versucht, besteht ein himmelweiter Unterschied.« Sie holte tief Luft und fügte, ein wenig zurückhaltender, hinzu: »Und wenn wir uns auf einen angemessenen Lohn einigen könnten ...?«
Mrs Potter wiegte wieder das Baby, vermutlich eher aus Gewohnheit als deshalb, weil es nötig gewesen wäre, wie Rachel fand. »Mein Mann ist bereit ...« Sie flüsterte einen Betrag, der nur für Mrs Finns Ohren bestimmt war. »Keinen Penny mehr !«, fügte sie patzig und in einem Tonfall hinzu, der keinen Widerspruch duldete.
Mrs Finn lächelte. »Natürlich, ich verstehe. Die Zeiten sind für uns alle nicht leicht. Wie ich gehört habe, hat schon wieder eine Bank in Hobart Town geschlossen, und was wird nun aus ihren Kunden ?« Sie nickte. »Ja, Mrs Potter, das ist ausgesprochen großzügig. « Es war zwar nicht sehr viel, jedoch mehr, als Mrs Finn sich erhofft hatte, denn sie hatte durch bittere Erfahrungen gelernt, keine zu hohen Erwartungen zu stellen. Außerdem stand Rachel ja noch die Möglichkeit offen, sich nach einer Weile etwas Besseres zu suchen. Oder - wie Mrs Finn es sich für alle ihre Mädchen erhoffte - eine gute und glückliche Ehe einzugehen.
»Wann kann sie anfangen ?«, fragte Mrs Potter fordernd.
»Morgen Vormittag. In aller Früh. Könnten Sie vielleicht einen Wagen schicken, Mrs Potter ? Wir haben hier im Waisenhaus keine Fahrgelegenheit, und soweit ich weiß, wohnen Sie ja in Greengage.«
Mrs Potter nickte. »Ja, auf der Down Farm. Ich schicke ihr morgen einen Wagen.« Als sie Rachel erwartungsvoll ansah, machte diese einen kleinen Knicks. Offenbar war Mrs Potter damit zufrieden, denn sie ging mit Mrs Finn hinaus. Das Baby fi ng wieder an zu schreien. Nach einer Weile kehrte Mrs Finn zurück und lächelte Rachel ruhig und gelassen an.
»Das wäre also abgemacht«, sagte sie. Sie wirkte ein wenig zweifelnd und hielt kurz inne, um Luft zu holen. Eigentlich hatte sie sich für Rachel etwas anderes gewünscht, doch es musste genügen. »Es könnte ein wenig dauern, Rachel, aber ich bin sicher, dass Mrs Potter erkennen wird, was sie an dir hat.«
Würde sie das? Rachel hoffte das sehr. Plötzlich wurde sie von Trauer ergriffen. Das Waisenhaus war nun schon seit neun Jahren ihr einziges Zuhause. Und nun würde sie wieder einmal Abschied nehmen müssen. Nur, dass sie diesmal in die Welt hinausging. Inzwischen war sie siebzehn, aufgeweckt und freundlich. Sie strahlte eine anziehende Wärme und Lebendigkeit aus, weshalb nur wenige bemerkten, dass sie eigentlich noch immer das verzweifelte und einsame kleine Mädchen war, das den Tod seines Vaters wie einen Verrat empfand und die Liebe suchte, die ihr so grausam entrissen worden war. Vielleicht kam sie deshalb so gut mit den kleineren Kindern zurecht. Sie verstand ihre Gefühle. Obwohl Rachel sie sehr vermissen würde, wusste sie im Grunde ihres Herzens, dass das Waisenhaus ihr nie die Heimat hatte ersetzen können. Für sie war ein Zuhause kein Gebäude mit vier Wänden und einem Dach, denn in ihrer Kindheit war sie mit ihrem Pa herumgereist und hatte so etwas deshalb ohnehin nicht gekannt und sich dennoch sicher und geborgen gefühlt. Nein, für Rachel war ein Zuhause gleichbedeutend mit dem warmen Arm eines Mannes um ihre Schultern, seinem zärtlichen Lächeln und der bedingungslosen Liebe, die ihr Vater ihr geschenkt hatte.
»Ich bin sicher, dass alles gut wird«, murmelte Rachel. Ihre Sprache war noch immer eine Mischung aus Pas Devon-Akzent und Mrs Finns sorgfältiger Ausbildung. »Und wenn nicht ... kann ich ja immer noch zurückkommen !« Sie lächelte schief, und ihre schwarzen Augen funkelten.
Mrs Finn schnalzte mit der Zunge, aber sie konnte dem Mädchen nicht böse sein. Sie war einfach reizend. Manchmal machte sie sich Sorgen um sie. Sie war so offenherzig und hatte so ein einladendes Lächeln, dass andere Menschen sie möglicherweise ausnutzen und ihr wehtun würden. Und trotzdem musste Rachel diese Erfahrung selbst machen. Alle Vorträge der Welt konnten sie nicht aufs Leben vorbereiten. »Du weißt, Rachel«, entgegnete sie deshalb forsch, »dass du hier immer gern gesehen bist. Aber ich hoffe, dass es für dich ein Neuanfang sein wird. Ein neues Leben.«
Und Mrs Finn hatte recht! Selbst am Abend, als sie sich traurig von den Kleinen verabschiedete, ihnen versprach, sie zu besuchen, und sie dabei fest umarmte, wusste Rachel, dass sie noch nicht wirklich angefangen hatte zu leben. Die letzten neun Jahre waren nichts als Wartezeit gewesen, so als hätte sie beim Krippenspiel des Waisenhauses in der dunklen Kulisse gestanden, ausharrend, bis sie an der Reihe war, die hell erleuchtete Bühne zu betreten und ihre Rolle zu spielen. Und das schon seit sehr langer Zeit.
»Der Wagen ist da !«, rief eines der Mädchen die Treppe hinauf.
Hastig stopfte Rachel die letzten Gegenstände in ihren Koffer und knallte den Deckel zu. Sie trug ein ordentliches schwarzes Kleid und hatte das Haar unter der weißen Haube zu einem schweren Dutt aufgesteckt. Als sie in den Spiegel schaute, fand sie, dass sie sauber und gepflegt und wie der Inbegriff eines guten Dienstmädchens aussah. Was ihr jedoch entging, waren ihre rosigen Wangen, die leuchtenden Augen, das ansteckende Lächeln, das um ihre Lippen spielte, und ihre warme und lebendige Ausstrahlung.
»Ich helfe dir mit dem Ding«, meinte Betsy, krempelte die Ärmel hoch und streckte die Hand nach einem der Griffe aus. Nachdem sie und Rachel sich die schmale Treppe hinunter in die Vorhalle gequält hatten, wurden sie schon von Mrs Finn erwartet.
»Rachel, ich weiß, dass du meine guten Wünsche nicht nötig hast, weil du auch ohne sie zurechtkommen wirst. Aber ich gebe sie dir dennoch mit auf den Weg.« Sie umarmte Rachel fest und lächelte ihr zum Abschied zu.
Lachend drängte Rachel die Tränen zurück, blickte sich noch einmal um und ging dann mit Betsy, den Koffer zwischen ihnen, hinaus. Ich verlasse dieses Haus, sagte sie sich, konnte es aber noch nicht wirklich glauben.
Der Kutscher blieb sitzen und kehrte ihnen den Rücken zu. Rachel schnitt eine Grimasse in Betsys Richtung und wuchtete den Koffer auf die Ladefläche. »Auf Wiedersehen«, keuchte sie. »Ich besuche dich, sobald ich kann. Ehrenwort.«
Betsy umarmte sie unter Tränen und trat zurück. »Ich werde dich vermissen. Ohne dich ist es nicht mehr dasselbe«, erwiderte sie und wischte sich die Wangen ab. Rachel kletterte neben den Kutscher auf den Bock und drehte sich noch einmal winkend um, als der Wagen sich in Bewegung setzte. Sie winkte immer weiter, während das Waisenhaus hinter dem Gerichtsgebäude verschwand und die aufgeregten Gesichter der Kinder dort hinter einem Schleier aus Tränen in der Ferne versanken. Erst dann gestattete sie es sich, ein Taschentuch aus ihrem Ärmel zu ziehen und sich die Augen abzutupfen.
Doch die Tränen währten nicht lang. Rachel holte tief Luft. Da sie stets gewusst hatte, dass dieser Tag einmal kommen würde, hatte sie sich darauf vorbereitet. Denn so sehr Rachel die anderen Kinder auch geliebt hatte, war ihr klar gewesen, dass in einem Waisenhaus nichts von Dauer war. Neue Mädchen kamen und alte gingen. Einige schrieben frohe Briefe, andere traurige. Aber keine konnte für immer bleiben, ganz gleich, was das Schicksal auch für sie bereithielt.
Sie erschauderte und bemerkte erst jetzt, wie kalt es war. Der Winter hielt das Land in einem gnadenlos eisigen Griff. Der Himmel über Richmond war bleigrau, und nichts deutete darauf hin, dass der frische Wind nachlassen würde, der Rachel nun, und zwar nicht aus Trauer, die Tränen in die Augen trieb. Sie zog den Umhang enger um sich zusammen und war froh über die Handschuhe, die Mrs Finn ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Vielleicht würde es heute sogar noch schneien.
Der Kutscher ruckte an den Zügeln und trieb das vor sich hintrottende Pferd zur Eile an. Rachel warf ihm einen raschen Blick zu. Er war ein gedrungener, dunkelhaariger junger Mann mit verschlossener, nachdenklicher Miene und sie fand, dass er ihre Aufmerksamkeit nicht wert war. Also sah sie sich mit wachsender Aufregung um.
In Richmond kannte sie sich recht gut aus. Schließlich marschierten die Mädchen aus dem Waisenhaus jeden zweiten Sonntag zum Gottesdienst nach St. Luke, und außerdem mussten sie oft allein oder zu zweit verschiedenen Handwerkern oder Frauen in der Gemeinde Nachrichten von Mrs Finn überbringen. Rachel hatte beobachtet, wie Soldaten mit Ketten aneinander gefesselte Arbeitsbrigaden zum Gefängnis in der Batthurst Street führten, wo sie die Nacht verbringen sollten. Sie hatte die Postkutsche gesehen, die auf dem Weg von Jerusalem nach Risdon Ferry und Hobart Town durch die Stadt kam. Es gab eine Mühle, in der das Mehl gemahlen wurde, eine Bäckerei, eine Metzgerei, Rädermacher, Schmiede, Hotels, Gasthöfe und auch sonst alles, was in einer aufstrebenden Gemeinde benötigt wurde.
Um diese frühe Morgenstunde herrschte kaum Verkehr auf der Straße. Nur einige Karren und Wagen, die Farmern gehörten, rumpelten über die ungeteerten Wege und umrundeten die Schlaglöcher, über die sich jedermann beschwerte, die jedoch niemand flickte. Hin und wieder lüpfte der Kutscher den Hut, um einen Gruß zu erwidern. »George !«, riefen die Leute. Oder »Junger George !« Rachel hüpfte vor Aufregung beinahe auf und nieder, als sie den Stadtrand erreichten und am letzten Gasthof vorbeifuhren.
Bald waren sie auf dem flachen Land. Rachel versuchte, sich an das Schaukeln des Wagens zu gewöhnen, als sie die Straße nach Greengage entlangrollten. Falls man diese Buckelpiste überhaupt als Straße bezeichnen konnte ! Es war eher ein Viehpfad, wie sie höhnisch dachte. Sie passierten einige Hütten oder Kleinbauernhöfe, wo die Kinder, die am Straßenrand spielten, dem Wagen nachwinkten. Rachel winkte lachend zurück. Ihre Augen funkelten. Als sie bemerkte, dass der Fahrer sie belustigt grinsend ansah, hielt sie inne, verschränkte die Hände fest auf dem Schoß und beobachtete ihn durch gesenkte Wimpern. Vermutlich fand er sie albern.
»Warst du lange im Waisenhaus ?«
Rachel musterte ihn argwöhnisch, aber er schaute weiter geradeaus.
»Neun Jahre«, entgegnete sie steif und verdarb dann die förmliche Wirkung, indem sie hinzufügte : »Sechs Monate, zwei Wochen und vier Tage.«
Er schmunzelte.
Sie betrachtete ihn eine Weile. Er trug ein altes Hemd, das am Hals offen stand, und eine abgewetzte Hose. Seine Stiefel waren staubig und ebenfalls zerschrammt. Ein zur Zwangsarbeit verurteilter Sträfling vielleicht, oder ein Haftentlassener, der für einen staatlich festgesetzten Lohn beschäftigt war. Er hatte etwas Hartes und Abweisendes an sich, das in ihr den Verdacht weckte, dass er im Leben schon einiges mitgemacht hatte. Schließlich war sie in ihrer Kindheit schon vielen dieser Männer begegnet und fühlte sich ihnen deshalb verbunden.
Plötzlich erkannte sie vor sich die Uniform eines der Feldpolizisten von Richmond, die sich vom grauen Busch abhob. Rasch ritt der Mann auf sie zu. Die Hufe seines Pferdes trappelten auf dem hart gefrorenen Boden. Und dann war er fort. Der Kutscher drehte sich um und spuckte auf den Boden, ohne einen Hehl aus seiner Verachtung zu machen. Rachel betrachtete ihn neugierig. Mrs Roadknight hatte die Polizei gehasst, und obwohl Mrs Finn sich Mühe gegeben hatte, Rachel diese Ansichten auszutreiben, war sie machtlos dagegen, dass sie beim Anblick eines Polizisten erschauderte. »Alles ehemalige Sträfl inge«, pflegte Mrs Roadknight zu sagen. »Ich bin noch nie einem Polizisten begegnet, der nicht betrunken oder einem Bestechungsgeld abgeneigt gewesen wäre !« Doch noch schlimmer als die Polizei waren die Männer, die in ihrem Auftrag auf Menschenjagd gingen und töteten. Die Kopfgeldjäger. »Abschaum«, wie Mrs Roadknight befand. Dabei verzog sie die Lippen, als wäre ihr etwas sauer aufgestoßen. Einmal, in Richmond, war Rachel Zeugin geworden, wie Polizisten mit zwei Toten in ihrem Karren in die Stadt galoppiert waren, sodass die leblosen Körper hin und her geschleudert wurden. »Straßenräuber«, hatten die Leute getuschelt. Die beiden Männer waren schmutzig und ungepflegt gewesen, mit langen, struppigen Haaren und Bärten und in Lumpen und Känguruhleder gekleidet ... alles war voller Blut. Ein anderer Mann war neben den Polizisten hergeritten. Er hatte gelacht und gescherzt und sich im Sattel wie zu Hause gefühlt. »Kopfgeldjäger«, hatte einer der Umstehenden geraunt, als wäre es ein Schimpfwort. Und Rachel hatte den Mann mit Blicken durchbohrt, bis sie glaubte, dass er es spüren musste. Wie konnte ein Mensch jemanden jagen und töten wie ein Tier, nur um die Belohnung einzustreichen, die auf seinen Kopf stand ?, fragte sie sich. So jemand war doch sicher ein viel schlimmerer Verbrecher als diejenigen, die er zur Strecke brachte.
George hatte während der ganzen Fahrt kein weiteres Wort von sich gegeben. Der Wind wurde immer kälter. Eine Krähe flog, begleitet von scharfem Gekrächze, in die Bäume. Ihre schwarzen Flügel brachten Zweige zum Knacken und Blätter zum Rascheln, bis sie sich endlich niederließ. Rachels Augenlider fingen vor Erschöpfung an zu flattern, und sie begann wegzudämmern. Immerhin war sie heute Morgen schon sehr früh aufgestanden. Ihr Kopf sackte vornüber, und sie schreckte dann und wann hoch, wenn der Wagen über eine Bodenwelle holperte. Der Kutscher pfiff leise vor sich hin, als sei er das Alleinsein gewöhnt.
Rachel betrachtete ihn verstohlen. Anfangs hatte sie ihn für einen mürrischen Zeitgenossen gehalten, doch nun wurde ihr klar, dass das nur an seiner nachdenklichen Miene lag. Die braunen Augen blickten geradeaus, die Arme ruhten auf den Knien, die Zügel hingen locker zwischen seinen Fingern. Offenbar kannte das Pferd den Weg auswendig, denn es setzte einen bepelzten Huf vor den anderen.
»Bist du schon lange bei den Potters ?«, fragte sie, nachdem sie sich geräuspert hatte. Rachels Stimme war nach dem langen Schweigen ganz eingerostet, denn sie war selten lange still. Er
überlegte länger, als es bei so einer Frage angemessen war.
»Seit ein paar Jahren«, erwiderte er.
»Bekommst du also Lohn ?«, erkundigte sie sich kühn, um herauszufinden, welche gesellschaftliche Stellung er innehatte.
Er zog einen Mundwinkel hoch. »Ja.«
Würden die Potters angenehme Arbeitgeber sein ?, fragte sie sich. Sie hoffte sehr, dass es ihr auf Down Farm gefallen würde, denn ihre Briefe ans Waisenhaus sollten fröhliche werden. »Was ist denn aus meiner Vorgängerin geworden ?«, fragte sie unvermittelt.
George warf ihr einen Seitenblick zu. »Nichts. Sie ist noch dort. Aber es steht mir nicht zu, über sie zu sprechen.«
Rachel zog eine Grimasse. »Oh, bitte ! Ich würde gern mehr über sie wissen. Was hat sie falsch gemacht ?«
Er ließ sich erweichen. »Suzy und Mrs Potter sind nicht miteinander ausgekommen. Sie hat nichts falsch gemacht.« Wenn Rachel an Mrs Potter dachte, konnte sie sich das gut vorstellen. Doch seine Augen funkelten wieder belustigt. »Du fragst zu viel«, meinte er. »Das kann unklug sein.«
Rachel biss sich auf die Lippe. Er hatte recht. In Van Diemen's Land war Neugier nicht ratsam. Zu viele Menschen hatten Geheimnisse und eine Vergangenheit, die sie lieber nicht herumposaunen wollten. Als sie sich umsah, wurde ihr klar, wie allein sie auf dieser verlassenen Straße waren. Wer zu viel fragte, konnte leicht ermordet, ins Gebüsch geworfen und den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen werden. Sie erschauderte. Als er sie am Arm berührte, zuckte sie zusammen.
»Wenn wir auf der Down Farm sind, kannst du dich an Sarahs Feuer aufwärmen«, sagte er. »Und da wären wir auch schon.«
Rachel blickte erstaunt auf und stellte fest, dass sie in einen Weg eingebogen waren, an dessen Ende gerodete und eingezäunte Felder und Weiden lagen. Wie die meisten Farmer in Van Diemen's Land betrieben die Potters Mischwirtschaft. Nur einige wohlhabende Grundbesitzer hatten so viel Land, dass sie sich spezialisieren konnten. Der Weg führte zu einem Farmhaus, das ringsherum von einer Veranda umgeben war. Dahinter waren Fenster zu erkennen, und aus dem geneigten Dach ragten Gauben hervor. Im Hof liefen Hennen herum, und in der Koppel neben dem Haus tollten einige Pferde. Es gab auch eine Anzahl von Nebengebäuden - eine Scheune und einen kleinen Stall und außerdem einen Holzschuppen und verschiedene weitere windschiefe Bauten. Hinter der Farm erhob sich ein gedrungener, von einem dichten Wald gekrönter Hügel.
Rachel war so sehr damit beschäftigt, den Anblick auf sich wirken zu lassen, dass sie gar nicht bemerkte, dass der Wagen inzwischen das Ende des Wegs erreicht und dass er am Tor angehalten hatte. Sie wurden von zwei Männern, einer davon ein wenig älter, erwartet. Der ältere Mann grinste dem Kutscher zu. »Ein richtiges Schätzchen, was, George ?«, sagte er.
George erwiderte das Lächeln. »Na, offenbar haben wir uns diesmal Ärger eingehandelt.«
Rachel brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass die beiden über sie sprachen. Kochend vor Wut saß sie da, während der Wagen in den Hof rollte und anhielt. Ein Hahn stolzierte zwischen den Hennen hervor, als wolle er sich Rachel präsentieren.
»Da geht's rein«, sagte George und zeigte auf die Tür. »Ich kümmere mich um den Koffer.«
Rachel warf ihm einen finsteren Blick zu, kletterte vom Bock und wandte sich ab. Als sie über die Veranda zur Tür ging, hörte sie ihn lachen. Dann setzte sich der Wagen in Bewegung und ließ sie allein zurück. Während Rachel darauf wartete, dass jemand auf ihr Klopfen öffnete, sah sie sich um. Das Anwesen war recht gepflegt, auch wenn es keinen Vorgarten gab. Ihr Blick wanderte über die Koppeln zur Straße und hinauf zum grauen Himmel. Down Farm war eine eigene kleine Welt.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Einen Topf Gold hätte sie nämlich gut gebrauchen können, denn er hätte alle ihre Probleme gelöst. Wieder schlang sie die Arme um den Leib, stützte das Kinn auf die mageren Knie und schloss die Augen. Seit Pa fort war - sie brachte es noch immer nicht über sich, ihn als tot zu bezeichnen -, war sie offenbar die Einzige, die sich für ihre Zukunft interessierte. Damals hatte Pa Pläne geschmiedet und Entscheidungen gefällt, während Rachel an nichts hatte denken müssen als an den Sonnenschein, Blumen und Pas warmen Mantel, der sie zudeckte, wenn sie sich vom langsamen Trab des Pferdes in den Schlaf wiegen ließ. Doch seit Pa fort war, hatte ihr Leben eine andere Wendung genommen, und zwar eine unerfreuliche. Inzwischen wurde es von ihrem schmalen Bett und den faden Mahlzeiten im Waisenhaus bestimmt. Und den Gesichtern der anderen Mädchen mit den übergroßen Augen.
Es war so ungerecht, sagte sie sich, während sie mit aller Macht die Tränen zurückdrängte. Warum hatte Pa sterben müssen? Und dabei hatte sie doch nur ihn gehabt. Er war ein guter Mensch gewesen. Das fand wenigstens Mrs Roadknight, und die kannte ihre »Jungs«. Sie beköstigte sie, trocknete ihre regennassen Mäntel und beteuerte gegenüber der Polizei, sie habe sie seit Monaten nicht gesehen. Dabei machte sie ein so aufrichtiges Gesicht, dass die Polizisten gar nicht anders konnten als ihr zu glauben, auch wenn sie wussten, dass sie log.
»Niemals hat er arme Leute bestohlen«, meinte Mrs Roadknight zu Rachel. »Nur die Reichen, und selbst dann hat er sie so höflich behandelt, dass keine Klagen kamen. Deshalb hat es auch so lange gedauert, ihn zu schnappen. Niemand wollte, dass er erwischt wird. Aber die Belohnung ...« Sie schüttelte den Kopf. »Zehn Pfund sind eine Menge Geld, Rachel. Und manche Menschen sind eben so ... Einer dieser Kopfgeldjäger hat ihn schließlich aufgespürt.«
Und so hatte Pas Karriere als Straßenräuber und Gentleman ein jähes Ende gefunden. Er war erschossen worden, als er bei seiner Festnahme Widerstand geleistet hatte. Nun gab es einen Banditen weniger auf der Welt, der kleine Siedlungen und einsame Reisende bedrohte und die Behörden von Van Diemen's Land auf Trab hielt. Allerdings hieß das nicht, dass nicht genügend Nachfolger parat gestanden hätten, um in seine Fußstapfen zu treten. Nur, dass Pa etwas Besonderes gewesen war. Selbst Mrs Roadknight, die den Gasthof zum Ende der Welt an der Straße zwischen Pitt Water und Jerusalem betrieb und ihre Pappenheimer ins Herz geschlossen hatte, fand, dass er mehr Stil gehabt hatte als die anderen.
Der Gasthof war als Treffpunkt von Straßenräubern und Dieben berüchtigt, auch wenn die Polizei nichts beweisen konnte und zudem viel zu wenig Leute hatte, um es auch nur zu versuchen.
Nach Pas Tod hatte Mrs Roadknight Rachel bei sich aufgenommen. Das kleine Mädchen war erst fünf gewesen und hatte die nächsten drei Lebensjahre im Gasthof verbracht. Ein wenig verwildert zwar, aber innig geliebt und von den »fremden Männern«, die Mrs Roadknight Tag und Nacht besuchten, wie eine kleine Prinzessin behandelt. So hatte Rachel von Kindesbeinen an gelernt, der Obrigkeit zu misstrauen. Sie wurde zur leidenschaftlichen Anhängerin des Mythos, vom Straßenräuber - einem aufrichtigen Mann, dem von einer böswilligen Gesellschaft übel mitgespielt worden war, bis er sich gezwungen gesehen hatte, sich in den Busch zu flüchten, sich mit Raub und Diebstahl durchzuschlagen und der Polizei nach Kräften aus dem Weg zu gehen.
In einigen Fällen traf das auch zu. Doch viele der Männer, die sich als Banditen oder Straßenräuber bezeichneten, waren brutal und gewissenlos. Außerdem hatte so mancher wegen der Grausamkeiten, die er im Straflager oder in der Arbeitsbrigade hatte erdulden müssen, den Verstand verloren. Doch Rachel war noch zu klein gewesen, um das zu verstehen. Sie wusste nur, dass es Männer gab, deren Blick sie ängstigte, weshalb sie ihnen lieber aus dem Weg ging.
Irgendwann hatte die Polizei dann kurzen Prozess mit Mrs Roadknight gemacht und den Gasthof an der Jerusalem Road geschlossen. Und so war Rachel, damals acht, in dem neuen Waisenhaus in Richmond gelandet. Hier wurde sie nicht mehr wie eine kleine Prinzessin behandelt, sondern war nur noch eines von vielen im Stich gelassenen Mädchen.
Rachel schluckte und hob wieder den Kopf. Wie immer hatte sich ihre Frisur gelöst, sodass ihr das Haar wie eine dicke schwarze Wolke über den Rücken fiel. Die Regentropfen darin glitzerten silbrig. Sie liebte es, wie das Gewicht ihres Haars an ihrem Hals zog. Im Waisenhaus galt die Vorschrift, das Haar stets mit einer Haube zu bedecken. Aber hier sah sie ja niemand.
»Schwarz wie bei einer Zigeunerin«, hatte Pa immer gesagt. Bei Kerzenschein schimmerte es bläulich. Rachels Gesicht war blass und würde eines Tages makellos oval sein. Nun aber war es zu mager und ein wenig zu kantig, um als schön zu gelten. Ihre Nase war gerade, wenn auch vielleicht ein bisschen zu lang, und sie hatte dunkle, geheimnisvoll dreinblickende Augen mit leicht nach oben gebogenen Augenwinkeln. Sie waren so schwarz wie ihr Haar.
»Wir haben spanisches Blut«, hatte ihr Pa ihr erklärt. »Einer unserer Vorfahren hat zur Zeit von Sir Francis Drake mit der Armada Schiffbruch erlitten und ist irgendwie in Devon gestrandet. « Das klang romantischer, als wenn man sie, wie so häufig auf ihren Reisen durch Van Diemen's Land, als »Zigeunerbrut« oder »Schwarze« bezeichnete. Denn wenn Pa sich nicht als Gentlemanräuber betätigte, verdiente er sein Geld als fahrender Händler, der seine Waren an die einsamen Frauen in den Siedlungen auf der Insel verkaufte. Pa wirkte auf Frauen. Das hatte sogar Rachel bemerkt. Sie wusste auch, das einige gern das Bett mit ihm teilten. Doch mehr wurde nie daraus. Sie, Rachel, war sein Ein und Alles, seine Freundin und sein Lehrling.
Es wurde rasch dunkel. Bald würde man sie im Waisenhaus vermissen. Schließlich hatte sie Pflichten zu erledigen und musste kochen, putzen und den jüngeren Mädchen helfen ... denn inzwischen war Rachel dreizehn. Obwohl seit Pas Tod acht Jahre vergangen waren, spürte sie immer noch seine Nähe, wenn sie nachts die Augen schloss. Wieder stiegen Tränen in ihr auf. Für gewöhnlich unterdrückte sie sie, doch weil sie nun allein in der Dämmerung saß, ließ sie ihnen freien Lauf.
Sie weinte eine lange Zeit. Es war so ungerecht ! Außer Pa hatte sie niemanden auf der Welt gehabt. Auch wenn es manchmal ein hartes und von Ungewissheit geprägtes Leben war, war sie wenigstens nicht allein gewesen. Das Wissen, zu jemandem zu gehören, war es, was ihr am meisten fehlte. Im Waisenhaus war die Stimmung kühl. Sie bekamen zwar Essen und Kleidung und wurden nicht nur körperlich, sondern auch spirituell versorgt, denn sonntags ging es im Gänsemarsch in die Kirche - aber was die Gefühle betraf ... Rachel hatte den Eindruck, dass sie innerlich so leer und karg war wie die hohen, schroffen Berge im Westen. Und das war für einen warmherzigen und liebesfähigen Menschen wie sie, der sich nach Zuneigung sehnte, manchmal so unerträglich, dass sie einfach flüchten musste.
So wie jetzt.
Nur, um mit ihren Erinnerungen und Gedanken allein zu sein und wieder Kraft zu sammeln. Und um sich vor Augen zu halten, wer sie war, nämlich ein eigenständiger Mensch, nicht nur eine Nummer in Waisenhaustracht.
Plötzlich knackte hinter ihr ein Zweig. Ängstlich fuhr Rachel herum und konnte zunächst nichts erkennen, denn es war in den Momenten, in denen sie ihrer Vergangenheit nachgetrauert hatte, merklich dunkler geworden. Dann bewegte sich ein Schatten. Es war eine Gestalt auf einem Pferd. Das Tier wieherte leise und fi ng an, das lange Gras abzuweiden. Rachel bekam vor Furcht Herzklopfen. Es war gefährlich, allein hier draußen zu sein. Schließlich wimmelte es von Halunken, Dieben und Mördern, die, anders als ihr Vater, keine Gentlemen waren. Sie schickte sich zur Flucht an.
»Alles in Ordnung«, sagte da eine leise, dunkle Stimme. Der Akzent war gedehnt und erinnerte sie ein wenig an den von Pa. »Ich wollte nur mein Pferd tränken und habe jemanden weinen gehört. Bist du verletzt ?«
Mit großen Augen beobachtete Rachel, wie der Mann sein Pferd näher an sie heranlenkte. Er war nur ein dunkler Schatten in der Dämmerung, sodass sie seine Gesichtszüge anfangs nicht erkennen konnte. Erst als er abstieg, konnte sie ihn besser sehen, allerdings noch immer nicht feststellen, welche Farbe sein Haar hatte, das ihm über die Augen fiel. Seine breiten Schultern ließen darauf schließen, dass er körperlich schwer arbeitete, und sein Mund und sein Kiefer wirkten hart und kantig, was so gar nicht zu seinem besorgten Tonfall passen wollte.
»Bist du wirklich nicht verletzt ?«
Sie schüttelte den Kopf und rieb sich heftig mit dem Ärmel übers Gesicht, um alle Spuren ihrer Schwäche zu beseitigen. »Ich habe nur an etwas Trauriges gedacht«, erwiderte sie zögernd.
Wieder betrachtete er sie, und kurz spielte ein Lächeln um seine schmalen Lippen. »Und was macht dich so traurig, Kleines ?«
»Ich habe an meinen Pa gedacht.« Sie musterte ihn, um festzustellen, welche Wirkung diese Worte auf ihn hatten. »Er ist tot. Ich bin eine Waise.« Offenbar hatte er verstanden. »Dann kommst du aus dem Waisenhaus«, stellte er fest. »Solltest du denn allein hier draußen herumlaufen?«
Rachel zuckte gleichmütig die Achseln, obwohl sich die Angst wieder meldete. Ein wenig nervös blickte sie zu den Rauchwolken aus den Kaminen der Stadt hinüber, die inzwischen nur noch als graue Schmierer am dunklen Himmel auszumachen waren. Sie würde Schwierigkeiten bekommen. Sicher würde man sie ohne Abendessen ins Bett schicken. Und außerdem stand ihr eine Gardinenpredigt von Mrs Hewett bevor, die das Heim leitete und sie ohnehin schon auf dem Kieker hatte. Andererseits hatte sie so selten Gelegenheit, mit einem Mann zu sprechen. Im Waisenhaus
lebten nur Mädchen, und es wurde ausschließlich von Frauen geführt. Ihr fehlte die Aufmerksamkeit von Männern, die sie in Mrs Roadknights Gasthof genossen hatte, und sie vermisste ihren Pa. Dieser Mann klang ein bisschen wie er. Sie wollte sich einfach noch nicht von ihm verabschieden.
Er stand so reglos da, als sei er selbst in Gedanken versunken. Sie betrachtete ihn neugierig. »Wohnen Sie auch in der Stadt ? Habe ich Sie schon einmal in der Kirche gesehen ?«
Er schmunzelte. »Nun, da gehe ich nicht sehr oft hin. Lebst du schon immer hier ?«, wechselte er das Thema.
»Pa und ich sind durchs ganze Land gefahren«, antwortete sie leise. »Er war mit Matthew Brady befreundet, das hat wenigstens Mrs Roadknight gesagt.«
Sie bemerkte, dass der Mann zusammenzuckte. »Meinst du Brady, den Straßenräuber ?«
»Ja.« Sie seufzte. »Aber mein Pa war ein Gentleman und hat niemandem etwas zuleide getan. Er hat sich nur genommen, was er brauchte, und war dabei immer freundlich und höflich zu den Damen. Doch eines Tages haben ihn die Polizei und ein bezahlter Auftragsmörder erwischt und erschossen. Also bin ich eine Weile bei Mrs Roadknight im Gasthof zum Ende der Welt geblieben. Nachdem die Polizei ihr das Lokal geschlossen hat, ist sie zu ihrer Schwester nach Hobart Town gezogen. Für mich war dort kein Platz, und seitdem bin ich im Waisenhaus.«
Er schwieg eine Weile, und sie fragte sich, was er wohl dachte. Wenn sie sonst Pa und Matthew Brady erwähnte, erntete sie aufgeregtes Getuschel und Anerkennung. Doch als der Fremde wieder das Wort ergriff, meinte er nur : »Hast du denn keine anderen Verwandten, bei denen du wohnen kannst ?« Seine Stimme war nur ein Murmeln in der Dunkelheit, so als wäre er selbst ein Teil davon, wie sie mit einem wohligen Schauder dachte.
»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte sie geradeheraus. »Pa hat nie welche erwähnt.« Als eine Brise in den Blättern rauschte, hob sie den Kopf, um ihr Gesicht zu kühlen. Inzwischen standen einige blasse Sterne am Himmel. »Meine Mutter ist gestorben, als ich noch ein Baby war«, fügte sie hinzu. Vergeblich versuchte sie, so etwas wie Trauer zu empfinden. Doch da sie ihre Mutter nie gekannt hatte, vermisste sie sie auch nicht. »Pa hat mir erzählt, sie sei bereits verheiratet gewesen, als er sie kennengelernt hat. Sie haben sieben Nächte zusammen verbracht, und dann kam ihr Ehemann zurück. Doch als ich geboren wurde, hat meine Mutter ihm kurz vor ihrem Tod die Wahrheit gesagt. Daraufhin ist er zu Pa gegangen und hat mich ihm in die Hand gedrückt wie ein Bündel Lumpen. So hat er es wenigstens ausgedrückt.« Sie lachte auf, denn bei Pa hatte es wie eine lustige Anekdote geklungen. »Also habe ich keine Ma und keinen Pa mehr und bin eine Waise. Und deshalb habe ich geweint.«
»Das kann ich verstehen«, antwortete er. »Es ist nicht leicht, allein zu sein.« Inzwischen schwang Bitterkeit in seinem Tonfall mit.
Vielleicht war er ja ein verbannter Sträfl ing und hatte sein Zuhause und seine Angehörigen verlassen müssen, um unter der Knute und bei Zwangsarbeit seine Strafe zu verbüßen. Oder er war ein Siedler, der um die halbe Welt gereist war und sein Glück gesucht, aber nur Elend gefunden hatte.
»Haben Sie denn Familie ?«, erkundigte Rachel sich mitfühlend.
»Nicht mehr«, entgegnete er in einem trostlosen Tonfall, der ihr ans Herz ging. Ohne nachzudenken legte sie die Hand auf seine, die auf einem Ast ruhte.
»Dann sind wir beide in derselben Lage«, verkündete sie, um ihn aufzumuntern.
Er schien überrascht. Sie spürte, wie seine Hand zuckte und sich dann wieder entspannte. »Vielleicht sind wir das ja«, sagte er leicht belustigt.
»Woher kommen Sie denn ?«
Als er sich die Haare aus dem Gesicht schob, fielen sie ihm gleich wieder über die Stirn. »Ich habe drüben in Sorell gearbeitet und bin jetzt endlich wieder auf dem Nachhauseweg.« Sie verstand nicht, warum er spöttisch auflachte. Dennoch fühlte sie sich diesem fremden Mann so verbunden, dass ihre Angst sich legte. Er war aus Gründen, die sie nicht kannte, einsam und unglücklich, und sie spürte eine Nähe, als hätten sie wirklich das gleiche Schicksal erlitten.
Wieder blickte Rachel hinauf zu den Sternen. Im nächsten Moment erhellte sich ihre Stimmung. »Wissen Sie, was für eine Nacht wir heute haben ?«, flüsterte sie so aufgeregt, als sei sie im Begriff, ihm ein Geschenk zu machen.
Wortlos schüttelte er den Kopf.
»Ich habe Geburtstag«, fuhr sie fort. »Ich bin zur Mittsommersonnwende geboren. Mein Pa sagte immer, die Mittsommernacht hat etwas Magisches - Sie wissen schon, wie in uralten Zeiten. Wenn ich mir da etwas wünschen würde, würde es in Erfüllung gehen.«
»Und hast du es je getan ?«, fragte er. Sie stellte fest, dass er näher kam und sich neben sie kauerte.
»Manchmal«, antwortete sie stockend. »Aber nichts ist passiert. Vielleicht habe ich mir ja zu viel gewünscht.«
Als er lächelnd den Kopf senkte, warf sie ihren empört in den Nacken. Die Bewegung ließ ihn aufmerken, und sie stellte fest, dass seine Augen feucht schimmerten. Ob es Tränen waren ? War er womöglich ein Geist, eine verlorene Seele, unerwünscht und allein, die zurückgekehrt war, um am Flussufer umzugehen ? Es hieß, dass es hier einen Geist gab, doch sie hatte die Einzelheiten vergessen. Ihre Haut prickelte.
»Glauben Sie nicht an den Zauber der Mittsommernacht ?«, erkundigte sie sich leise und ängstlich.
Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Mein Vater hat mich immer einen Mondangler genannt, also vielleicht schon.«
Rachel neigte den Kopf zur Seite. Ihre Befürchtungen waren vergessen. »Was ist denn ein Mondangler, Sir ?«
Er lachte auf. Es war ein warmes Lachen, das Lachen eines Freundes. »Das ist ein Mensch, der das Spiegelbild des Mondes in einer Wasserfläche sieht, der denkt, dass der Mond selbst dort schwimmt, und versucht, ihn herauszuangeln.«
Rachel schnaubte. »Ein Dummkopf also ! Gut, ich wünsche mir aber trotzdem etwas.« Schweigen entstand, während sie es tat : Ich möchte diesen Mann wiedersehen. Warum hatte sie ihren Wunsch an so eine Albernheit verschwendet ?, fragte sie sich im nächsten Moment. Sie hätte sich besser einen Topf Gold oder ein liebevolles Zuhause und eine Familie wünschen sollen ...
»Was hast du dir gewünscht ?«, fragte er in bemüht ernsthaftem Tonfall.
Rachel biss sich auf die Lippe. Die Wahrheit konnte sie ihm unmöglich verraten, da er sie dann nur ausgelacht hätte. Stattdessen warf sie einen Blick auf das Pferd, das immer noch graste, und lächelte. »Ich habe mir gewünscht, dass Sie auf Ihrem Pferd einen Ausritt mit mir unternehmen«, flunkerte sie.
Er schien zu überlegen und stand dann auf. »Warum nicht ?«, erwiderte er spöttisch, als spräche er mit sich selbst. »Es passiert nicht oft, dass ich die Wünsche anderer Leute wahr werden lassen kann!«
Rachels Herz machte einen Satz. Er stieg auf und streckte die Hand nach ihr aus. Ohne nachzudenken, griff sie zu und spürte, wie seine Finger ihre fest umfassten, als er sie vor sich in den Sattel zog und seine starken Arme um sie legte. Sein Atem berührte ihr Haar, und sie drehte den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen. Sein Griff um die Zügel wurde fester, und seine Armmuskeln spannten sich an. »Wohin möchtest du galoppieren ?«, fragte er sie ruhig. »Nach Hobart Town und zurück oder ins Meer hinein ?«
Rachel lachte auf. Sie erkannte die Aufregung in seiner Stimme, die so groß wie ihre zu sein schien, sosehr er sie auch zu verbergen versuchte. »Ins Meer!«, rief sie.
Als er seinem Pferd heftig die Fersen in die Flanken stieß, preschte es die Straße entlang. Der Wind blies ihr ins Gesicht, wehte ihr Haar zurück und brachte Wangen und Augen zum Brennen. Sie sprachen beide kein Wort. Nach dem Regen war die Luft abgekühlt, sodass sie sich nun frisch und belebend anfühlte. Es war, als würden sie fliegen. In ihrem ganzen jungen Leben hatte Rachel noch nie so empfunden wie jetzt, als sie mit einem Fremden durch die Nacht ritt. Ihre aufgewühlten Gefühle sorgten dafür, dass sie laut auflachte. Er schloss die Arme fester um sie und drückte sie an sich. Das Pferd geriet ins Stolpern, doch irgendwie gelang es dem Fremden, einen Sturz zu verhindern, und sie stellte erstaunt fest, wie stark er war. Es war ein Gefühl, ganz klein und geborgen zu sein, so wie damals bei ihrem Vater, aber auch anders, und zwar auf eine Weise, die sie nicht verstand. Rachel schob sich das Haar aus dem Gesicht und lächelte in sich hinein. Nie werde ich diesen Moment vergessen, sagte sie sich. Nicht, solange ich lebe. Wenn ich einmal alt bin, werde ich immer noch daran denken.
Nach einer Weile bemerkte sie, dass das Pferd nur noch trabte. Es keuchte und schnaubte, und seine Flanken bebten. Vermutlich war es ziemlich anstrengend, sie beide zu tragen, schoss es ihr durch den Kopf. Zu ihrer Enttäuschung konnte sie die Lichter von Richmond vor ihnen ausmachen und wusste, dass ihr Ausfl ug sich dem Ende zuneigte. Aber er trieb das Pferd wieder zum Galopp an. Seine Hufe ließen Schlamm und Gras am Ufer hochspritzen. Einige Wasservögel flogen, empört über die späte Störung, auf. Lachend drehte Rachel sich zu dem Fremden um.
Kurz hielt er zögernd inne. Im nächsten Augenblick beugte er sich vor, und seine Lippen streiften, warm und weich, die ihren. Rachel war so überrascht, dass sie sich nicht bewegen konnte, und sie spürte, dass er lächelte, ohne es zu sehen. »Du bist ein wunder volles Mädchen«, meinte er. »Ich bin froh, dass ich deinen Wunsch in Erfüllung gehen lassen konnte. Aber jetzt machst du dich besser auf den Weg, sonst bekommst du noch Schwierigkeiten.«
Widerstrebend rutschte Rachel aus dem Sattel. »Werde ich Sie wiedersehen ?«, fragte sie ihn. »Kommen Sie zurück ?«
Er lächelte. »Vielleicht bin ich nächste Mittsommernacht wieder hier, um dir einen Wunsch zu erfüllen, mein Liebling !«
Sie lachte, so wie er es beabsichtigt hatte, und entfernte sich rückwärts. Seine dunkle Silhouette, hoch zu Ross, hob sich vom Himmel ab, an dem inzwischen die Sterne funkelten.
»Wie heißt du ?«, fragte er sie plötzlich.
Sie lief bereits den Weg zurück, den sie gekommen war. »Rachel, ich heiße Rachel !«, rief sie, während ihre Stimme in der Dunkelheit verklang. Hüpfend und lachend rannte sie weiter, ohne sich darum zu kümmern, dass sie von zornigen Gesichtern erwartet und hungrig und mit Striemen zu Bett gehen würde. Nun hatte sie ein Geheimnis, das ganz allein ihr gehörte. Sie dachte oft daran und vergaß es nie. Aber obwohl sie sich in der nächsten Mittsommernacht wieder am Fluss einfand und mit wild klopfendem Herzen in der Dunkelheit wartete, erschien er nicht. Und sie fragte sich, ob er nicht doch nur ein Geist gewesen war.
1
Sind Sie sicher, dass sie sich eignet?«
Die junge Frau umrundete Rachel und musterte sie, bis sie sich fühlte wie eine Kuh auf dem Viehmarkt. Die Frau hatte ihr hellbraunes Haar zu einem Dutt aufgesteckt und ein blasses, eingefallenes und verkniffenes Gesicht. Als das Baby in ihren Armen schrie, wiegte sie es ungeduldig. Man hatte Rachel gesagt, dass sie Martha Potter hieß, dass ihr Mann eine Farm in der Nähe von Richmond besaß und dass sie Hilfe bei der Betreuung ihrer Kinder brauchte.
»Sie hat in fünf Jahren drei Kinder bekommen«, hatte Mrs Finn ihr auf dem Weg zum Salon zugeflüstert, wo Martha Potter wartete. »Und da sie die zweite Ehefrau ist, sind da vielleicht noch andere aus der ersten Ehe. Eine Freundin, die sehr zufrieden war, hat ihr von meinen Mädchen erzählt, also ...« Sie sah Rachel in die leuchtenden und neugierig dreinblickenden Augen. »Ich bin sicher, dass die Stelle genau das Richtige für dich ist, Rachel. Natürlich weiß ich deine Mitarbeit hier im Waisenhaus sehr zu schätzen. Wenn nur Emily nicht letzte Woche zu den Talbots gezogen und Suzanne nicht schon wieder krank wäre !«
Rachel lächelte. »Ja, Mrs Finn.«
Rachel war schon unter Mrs Hewetts Leitung im Waisenhaus gewesen, und jedermann wusste, was für eine Megäre sie gewesen war. Inzwischen hatte sich alles geändert, denn nun hatte Mrs Finn hier das Sagen. Mrs Finn war vernünftig, tüchtig und für diesen Posten ausgezeichnet geeignet. Außerdem war sie der Ansicht, dass jede Frau ein Recht auf Bildung hatte, weshalb alle »ihre« Mädchen lesen konnten. Mittlerweile war Rachel siebzehn, also die Älteste, was allerdings nicht ihre Schuld war. Mrs Finn hatte sie einfach nicht gehen lassen wollen. Bis zum heutigen Tag.
»Sei höflich, Rachel«, sagte sie nun, »und schau zu Boden. Du weißt ja, wie einschüchternd du wirken kannst, wenn du die Leute anstarrst. Das mögen sie nicht, mein Kind!«
Rachel lächelte wieder und senkte ihren anstößig herausfordernden Blick. Sie wusste, dass Mrs Finn sie mochte. Sie war fleißig und auch eine gute Lehrerin, und alle Kinder liebten sie. Mrs Finn bezeichnete sie als »ihren Goldschatz«, und Rachel war stolz darauf, dass sie das ernst meinte. Allerdings war ihr im Grunde ihres Herzens klar, dass es immer Mrs Finns Ziel gewesen war, Rachel in einem Haushalt unterzubringen, in der beruhigenden Gewissheit, dass wieder eines »ihrer« Mädchen ein Auskommen gefunden hatte.
»Sie ist sehr ... dunkel«, meinte Mrs Potter. »Meine Kinder haben alle die blauen Augen und blonden Haare der Potters !« Als ob das etwas Besseres gewesen wäre als schwarzes Haar und dunkle Augen, dachte Rachel. Doch sie schaute weiter zu Boden und faltete die Hände vor dem Leib, um möglichst demütig und fügsam zu wirken.
»Rachel beherrscht sämtliche hauswirtschaftlichen Tätigkeiten«, fuhr Mrs Finn selbstbewusst fort. »Alle meine Mädchen kennen sich im Haushalt aus. Außerdem hat sie im Laufe der Jahre viele Kinder betreut. Sie kann lesen, schreiben und rechnen und näht ganz wunderbar. Sie werden es nicht bereuen, wenn Sie Rachel bei sich aufnehmen, Mrs Potter, das kann ich Ihnen versichern. Zwischen Rachel und den Sträflingsmädchen, die man uns aufzuhalsen versucht, besteht ein himmelweiter Unterschied.« Sie holte tief Luft und fügte, ein wenig zurückhaltender, hinzu: »Und wenn wir uns auf einen angemessenen Lohn einigen könnten ...?«
Mrs Potter wiegte wieder das Baby, vermutlich eher aus Gewohnheit als deshalb, weil es nötig gewesen wäre, wie Rachel fand. »Mein Mann ist bereit ...« Sie flüsterte einen Betrag, der nur für Mrs Finns Ohren bestimmt war. »Keinen Penny mehr !«, fügte sie patzig und in einem Tonfall hinzu, der keinen Widerspruch duldete.
Mrs Finn lächelte. »Natürlich, ich verstehe. Die Zeiten sind für uns alle nicht leicht. Wie ich gehört habe, hat schon wieder eine Bank in Hobart Town geschlossen, und was wird nun aus ihren Kunden ?« Sie nickte. »Ja, Mrs Potter, das ist ausgesprochen großzügig. « Es war zwar nicht sehr viel, jedoch mehr, als Mrs Finn sich erhofft hatte, denn sie hatte durch bittere Erfahrungen gelernt, keine zu hohen Erwartungen zu stellen. Außerdem stand Rachel ja noch die Möglichkeit offen, sich nach einer Weile etwas Besseres zu suchen. Oder - wie Mrs Finn es sich für alle ihre Mädchen erhoffte - eine gute und glückliche Ehe einzugehen.
»Wann kann sie anfangen ?«, fragte Mrs Potter fordernd.
»Morgen Vormittag. In aller Früh. Könnten Sie vielleicht einen Wagen schicken, Mrs Potter ? Wir haben hier im Waisenhaus keine Fahrgelegenheit, und soweit ich weiß, wohnen Sie ja in Greengage.«
Mrs Potter nickte. »Ja, auf der Down Farm. Ich schicke ihr morgen einen Wagen.« Als sie Rachel erwartungsvoll ansah, machte diese einen kleinen Knicks. Offenbar war Mrs Potter damit zufrieden, denn sie ging mit Mrs Finn hinaus. Das Baby fi ng wieder an zu schreien. Nach einer Weile kehrte Mrs Finn zurück und lächelte Rachel ruhig und gelassen an.
»Das wäre also abgemacht«, sagte sie. Sie wirkte ein wenig zweifelnd und hielt kurz inne, um Luft zu holen. Eigentlich hatte sie sich für Rachel etwas anderes gewünscht, doch es musste genügen. »Es könnte ein wenig dauern, Rachel, aber ich bin sicher, dass Mrs Potter erkennen wird, was sie an dir hat.«
Würde sie das? Rachel hoffte das sehr. Plötzlich wurde sie von Trauer ergriffen. Das Waisenhaus war nun schon seit neun Jahren ihr einziges Zuhause. Und nun würde sie wieder einmal Abschied nehmen müssen. Nur, dass sie diesmal in die Welt hinausging. Inzwischen war sie siebzehn, aufgeweckt und freundlich. Sie strahlte eine anziehende Wärme und Lebendigkeit aus, weshalb nur wenige bemerkten, dass sie eigentlich noch immer das verzweifelte und einsame kleine Mädchen war, das den Tod seines Vaters wie einen Verrat empfand und die Liebe suchte, die ihr so grausam entrissen worden war. Vielleicht kam sie deshalb so gut mit den kleineren Kindern zurecht. Sie verstand ihre Gefühle. Obwohl Rachel sie sehr vermissen würde, wusste sie im Grunde ihres Herzens, dass das Waisenhaus ihr nie die Heimat hatte ersetzen können. Für sie war ein Zuhause kein Gebäude mit vier Wänden und einem Dach, denn in ihrer Kindheit war sie mit ihrem Pa herumgereist und hatte so etwas deshalb ohnehin nicht gekannt und sich dennoch sicher und geborgen gefühlt. Nein, für Rachel war ein Zuhause gleichbedeutend mit dem warmen Arm eines Mannes um ihre Schultern, seinem zärtlichen Lächeln und der bedingungslosen Liebe, die ihr Vater ihr geschenkt hatte.
»Ich bin sicher, dass alles gut wird«, murmelte Rachel. Ihre Sprache war noch immer eine Mischung aus Pas Devon-Akzent und Mrs Finns sorgfältiger Ausbildung. »Und wenn nicht ... kann ich ja immer noch zurückkommen !« Sie lächelte schief, und ihre schwarzen Augen funkelten.
Mrs Finn schnalzte mit der Zunge, aber sie konnte dem Mädchen nicht böse sein. Sie war einfach reizend. Manchmal machte sie sich Sorgen um sie. Sie war so offenherzig und hatte so ein einladendes Lächeln, dass andere Menschen sie möglicherweise ausnutzen und ihr wehtun würden. Und trotzdem musste Rachel diese Erfahrung selbst machen. Alle Vorträge der Welt konnten sie nicht aufs Leben vorbereiten. »Du weißt, Rachel«, entgegnete sie deshalb forsch, »dass du hier immer gern gesehen bist. Aber ich hoffe, dass es für dich ein Neuanfang sein wird. Ein neues Leben.«
Und Mrs Finn hatte recht! Selbst am Abend, als sie sich traurig von den Kleinen verabschiedete, ihnen versprach, sie zu besuchen, und sie dabei fest umarmte, wusste Rachel, dass sie noch nicht wirklich angefangen hatte zu leben. Die letzten neun Jahre waren nichts als Wartezeit gewesen, so als hätte sie beim Krippenspiel des Waisenhauses in der dunklen Kulisse gestanden, ausharrend, bis sie an der Reihe war, die hell erleuchtete Bühne zu betreten und ihre Rolle zu spielen. Und das schon seit sehr langer Zeit.
»Der Wagen ist da !«, rief eines der Mädchen die Treppe hinauf.
Hastig stopfte Rachel die letzten Gegenstände in ihren Koffer und knallte den Deckel zu. Sie trug ein ordentliches schwarzes Kleid und hatte das Haar unter der weißen Haube zu einem schweren Dutt aufgesteckt. Als sie in den Spiegel schaute, fand sie, dass sie sauber und gepflegt und wie der Inbegriff eines guten Dienstmädchens aussah. Was ihr jedoch entging, waren ihre rosigen Wangen, die leuchtenden Augen, das ansteckende Lächeln, das um ihre Lippen spielte, und ihre warme und lebendige Ausstrahlung.
»Ich helfe dir mit dem Ding«, meinte Betsy, krempelte die Ärmel hoch und streckte die Hand nach einem der Griffe aus. Nachdem sie und Rachel sich die schmale Treppe hinunter in die Vorhalle gequält hatten, wurden sie schon von Mrs Finn erwartet.
»Rachel, ich weiß, dass du meine guten Wünsche nicht nötig hast, weil du auch ohne sie zurechtkommen wirst. Aber ich gebe sie dir dennoch mit auf den Weg.« Sie umarmte Rachel fest und lächelte ihr zum Abschied zu.
Lachend drängte Rachel die Tränen zurück, blickte sich noch einmal um und ging dann mit Betsy, den Koffer zwischen ihnen, hinaus. Ich verlasse dieses Haus, sagte sie sich, konnte es aber noch nicht wirklich glauben.
Der Kutscher blieb sitzen und kehrte ihnen den Rücken zu. Rachel schnitt eine Grimasse in Betsys Richtung und wuchtete den Koffer auf die Ladefläche. »Auf Wiedersehen«, keuchte sie. »Ich besuche dich, sobald ich kann. Ehrenwort.«
Betsy umarmte sie unter Tränen und trat zurück. »Ich werde dich vermissen. Ohne dich ist es nicht mehr dasselbe«, erwiderte sie und wischte sich die Wangen ab. Rachel kletterte neben den Kutscher auf den Bock und drehte sich noch einmal winkend um, als der Wagen sich in Bewegung setzte. Sie winkte immer weiter, während das Waisenhaus hinter dem Gerichtsgebäude verschwand und die aufgeregten Gesichter der Kinder dort hinter einem Schleier aus Tränen in der Ferne versanken. Erst dann gestattete sie es sich, ein Taschentuch aus ihrem Ärmel zu ziehen und sich die Augen abzutupfen.
Doch die Tränen währten nicht lang. Rachel holte tief Luft. Da sie stets gewusst hatte, dass dieser Tag einmal kommen würde, hatte sie sich darauf vorbereitet. Denn so sehr Rachel die anderen Kinder auch geliebt hatte, war ihr klar gewesen, dass in einem Waisenhaus nichts von Dauer war. Neue Mädchen kamen und alte gingen. Einige schrieben frohe Briefe, andere traurige. Aber keine konnte für immer bleiben, ganz gleich, was das Schicksal auch für sie bereithielt.
Sie erschauderte und bemerkte erst jetzt, wie kalt es war. Der Winter hielt das Land in einem gnadenlos eisigen Griff. Der Himmel über Richmond war bleigrau, und nichts deutete darauf hin, dass der frische Wind nachlassen würde, der Rachel nun, und zwar nicht aus Trauer, die Tränen in die Augen trieb. Sie zog den Umhang enger um sich zusammen und war froh über die Handschuhe, die Mrs Finn ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Vielleicht würde es heute sogar noch schneien.
Der Kutscher ruckte an den Zügeln und trieb das vor sich hintrottende Pferd zur Eile an. Rachel warf ihm einen raschen Blick zu. Er war ein gedrungener, dunkelhaariger junger Mann mit verschlossener, nachdenklicher Miene und sie fand, dass er ihre Aufmerksamkeit nicht wert war. Also sah sie sich mit wachsender Aufregung um.
In Richmond kannte sie sich recht gut aus. Schließlich marschierten die Mädchen aus dem Waisenhaus jeden zweiten Sonntag zum Gottesdienst nach St. Luke, und außerdem mussten sie oft allein oder zu zweit verschiedenen Handwerkern oder Frauen in der Gemeinde Nachrichten von Mrs Finn überbringen. Rachel hatte beobachtet, wie Soldaten mit Ketten aneinander gefesselte Arbeitsbrigaden zum Gefängnis in der Batthurst Street führten, wo sie die Nacht verbringen sollten. Sie hatte die Postkutsche gesehen, die auf dem Weg von Jerusalem nach Risdon Ferry und Hobart Town durch die Stadt kam. Es gab eine Mühle, in der das Mehl gemahlen wurde, eine Bäckerei, eine Metzgerei, Rädermacher, Schmiede, Hotels, Gasthöfe und auch sonst alles, was in einer aufstrebenden Gemeinde benötigt wurde.
Um diese frühe Morgenstunde herrschte kaum Verkehr auf der Straße. Nur einige Karren und Wagen, die Farmern gehörten, rumpelten über die ungeteerten Wege und umrundeten die Schlaglöcher, über die sich jedermann beschwerte, die jedoch niemand flickte. Hin und wieder lüpfte der Kutscher den Hut, um einen Gruß zu erwidern. »George !«, riefen die Leute. Oder »Junger George !« Rachel hüpfte vor Aufregung beinahe auf und nieder, als sie den Stadtrand erreichten und am letzten Gasthof vorbeifuhren.
Bald waren sie auf dem flachen Land. Rachel versuchte, sich an das Schaukeln des Wagens zu gewöhnen, als sie die Straße nach Greengage entlangrollten. Falls man diese Buckelpiste überhaupt als Straße bezeichnen konnte ! Es war eher ein Viehpfad, wie sie höhnisch dachte. Sie passierten einige Hütten oder Kleinbauernhöfe, wo die Kinder, die am Straßenrand spielten, dem Wagen nachwinkten. Rachel winkte lachend zurück. Ihre Augen funkelten. Als sie bemerkte, dass der Fahrer sie belustigt grinsend ansah, hielt sie inne, verschränkte die Hände fest auf dem Schoß und beobachtete ihn durch gesenkte Wimpern. Vermutlich fand er sie albern.
»Warst du lange im Waisenhaus ?«
Rachel musterte ihn argwöhnisch, aber er schaute weiter geradeaus.
»Neun Jahre«, entgegnete sie steif und verdarb dann die förmliche Wirkung, indem sie hinzufügte : »Sechs Monate, zwei Wochen und vier Tage.«
Er schmunzelte.
Sie betrachtete ihn eine Weile. Er trug ein altes Hemd, das am Hals offen stand, und eine abgewetzte Hose. Seine Stiefel waren staubig und ebenfalls zerschrammt. Ein zur Zwangsarbeit verurteilter Sträfling vielleicht, oder ein Haftentlassener, der für einen staatlich festgesetzten Lohn beschäftigt war. Er hatte etwas Hartes und Abweisendes an sich, das in ihr den Verdacht weckte, dass er im Leben schon einiges mitgemacht hatte. Schließlich war sie in ihrer Kindheit schon vielen dieser Männer begegnet und fühlte sich ihnen deshalb verbunden.
Plötzlich erkannte sie vor sich die Uniform eines der Feldpolizisten von Richmond, die sich vom grauen Busch abhob. Rasch ritt der Mann auf sie zu. Die Hufe seines Pferdes trappelten auf dem hart gefrorenen Boden. Und dann war er fort. Der Kutscher drehte sich um und spuckte auf den Boden, ohne einen Hehl aus seiner Verachtung zu machen. Rachel betrachtete ihn neugierig. Mrs Roadknight hatte die Polizei gehasst, und obwohl Mrs Finn sich Mühe gegeben hatte, Rachel diese Ansichten auszutreiben, war sie machtlos dagegen, dass sie beim Anblick eines Polizisten erschauderte. »Alles ehemalige Sträfl inge«, pflegte Mrs Roadknight zu sagen. »Ich bin noch nie einem Polizisten begegnet, der nicht betrunken oder einem Bestechungsgeld abgeneigt gewesen wäre !« Doch noch schlimmer als die Polizei waren die Männer, die in ihrem Auftrag auf Menschenjagd gingen und töteten. Die Kopfgeldjäger. »Abschaum«, wie Mrs Roadknight befand. Dabei verzog sie die Lippen, als wäre ihr etwas sauer aufgestoßen. Einmal, in Richmond, war Rachel Zeugin geworden, wie Polizisten mit zwei Toten in ihrem Karren in die Stadt galoppiert waren, sodass die leblosen Körper hin und her geschleudert wurden. »Straßenräuber«, hatten die Leute getuschelt. Die beiden Männer waren schmutzig und ungepflegt gewesen, mit langen, struppigen Haaren und Bärten und in Lumpen und Känguruhleder gekleidet ... alles war voller Blut. Ein anderer Mann war neben den Polizisten hergeritten. Er hatte gelacht und gescherzt und sich im Sattel wie zu Hause gefühlt. »Kopfgeldjäger«, hatte einer der Umstehenden geraunt, als wäre es ein Schimpfwort. Und Rachel hatte den Mann mit Blicken durchbohrt, bis sie glaubte, dass er es spüren musste. Wie konnte ein Mensch jemanden jagen und töten wie ein Tier, nur um die Belohnung einzustreichen, die auf seinen Kopf stand ?, fragte sie sich. So jemand war doch sicher ein viel schlimmerer Verbrecher als diejenigen, die er zur Strecke brachte.
George hatte während der ganzen Fahrt kein weiteres Wort von sich gegeben. Der Wind wurde immer kälter. Eine Krähe flog, begleitet von scharfem Gekrächze, in die Bäume. Ihre schwarzen Flügel brachten Zweige zum Knacken und Blätter zum Rascheln, bis sie sich endlich niederließ. Rachels Augenlider fingen vor Erschöpfung an zu flattern, und sie begann wegzudämmern. Immerhin war sie heute Morgen schon sehr früh aufgestanden. Ihr Kopf sackte vornüber, und sie schreckte dann und wann hoch, wenn der Wagen über eine Bodenwelle holperte. Der Kutscher pfiff leise vor sich hin, als sei er das Alleinsein gewöhnt.
Rachel betrachtete ihn verstohlen. Anfangs hatte sie ihn für einen mürrischen Zeitgenossen gehalten, doch nun wurde ihr klar, dass das nur an seiner nachdenklichen Miene lag. Die braunen Augen blickten geradeaus, die Arme ruhten auf den Knien, die Zügel hingen locker zwischen seinen Fingern. Offenbar kannte das Pferd den Weg auswendig, denn es setzte einen bepelzten Huf vor den anderen.
»Bist du schon lange bei den Potters ?«, fragte sie, nachdem sie sich geräuspert hatte. Rachels Stimme war nach dem langen Schweigen ganz eingerostet, denn sie war selten lange still. Er
überlegte länger, als es bei so einer Frage angemessen war.
»Seit ein paar Jahren«, erwiderte er.
»Bekommst du also Lohn ?«, erkundigte sie sich kühn, um herauszufinden, welche gesellschaftliche Stellung er innehatte.
Er zog einen Mundwinkel hoch. »Ja.«
Würden die Potters angenehme Arbeitgeber sein ?, fragte sie sich. Sie hoffte sehr, dass es ihr auf Down Farm gefallen würde, denn ihre Briefe ans Waisenhaus sollten fröhliche werden. »Was ist denn aus meiner Vorgängerin geworden ?«, fragte sie unvermittelt.
George warf ihr einen Seitenblick zu. »Nichts. Sie ist noch dort. Aber es steht mir nicht zu, über sie zu sprechen.«
Rachel zog eine Grimasse. »Oh, bitte ! Ich würde gern mehr über sie wissen. Was hat sie falsch gemacht ?«
Er ließ sich erweichen. »Suzy und Mrs Potter sind nicht miteinander ausgekommen. Sie hat nichts falsch gemacht.« Wenn Rachel an Mrs Potter dachte, konnte sie sich das gut vorstellen. Doch seine Augen funkelten wieder belustigt. »Du fragst zu viel«, meinte er. »Das kann unklug sein.«
Rachel biss sich auf die Lippe. Er hatte recht. In Van Diemen's Land war Neugier nicht ratsam. Zu viele Menschen hatten Geheimnisse und eine Vergangenheit, die sie lieber nicht herumposaunen wollten. Als sie sich umsah, wurde ihr klar, wie allein sie auf dieser verlassenen Straße waren. Wer zu viel fragte, konnte leicht ermordet, ins Gebüsch geworfen und den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen werden. Sie erschauderte. Als er sie am Arm berührte, zuckte sie zusammen.
»Wenn wir auf der Down Farm sind, kannst du dich an Sarahs Feuer aufwärmen«, sagte er. »Und da wären wir auch schon.«
Rachel blickte erstaunt auf und stellte fest, dass sie in einen Weg eingebogen waren, an dessen Ende gerodete und eingezäunte Felder und Weiden lagen. Wie die meisten Farmer in Van Diemen's Land betrieben die Potters Mischwirtschaft. Nur einige wohlhabende Grundbesitzer hatten so viel Land, dass sie sich spezialisieren konnten. Der Weg führte zu einem Farmhaus, das ringsherum von einer Veranda umgeben war. Dahinter waren Fenster zu erkennen, und aus dem geneigten Dach ragten Gauben hervor. Im Hof liefen Hennen herum, und in der Koppel neben dem Haus tollten einige Pferde. Es gab auch eine Anzahl von Nebengebäuden - eine Scheune und einen kleinen Stall und außerdem einen Holzschuppen und verschiedene weitere windschiefe Bauten. Hinter der Farm erhob sich ein gedrungener, von einem dichten Wald gekrönter Hügel.
Rachel war so sehr damit beschäftigt, den Anblick auf sich wirken zu lassen, dass sie gar nicht bemerkte, dass der Wagen inzwischen das Ende des Wegs erreicht und dass er am Tor angehalten hatte. Sie wurden von zwei Männern, einer davon ein wenig älter, erwartet. Der ältere Mann grinste dem Kutscher zu. »Ein richtiges Schätzchen, was, George ?«, sagte er.
George erwiderte das Lächeln. »Na, offenbar haben wir uns diesmal Ärger eingehandelt.«
Rachel brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass die beiden über sie sprachen. Kochend vor Wut saß sie da, während der Wagen in den Hof rollte und anhielt. Ein Hahn stolzierte zwischen den Hennen hervor, als wolle er sich Rachel präsentieren.
»Da geht's rein«, sagte George und zeigte auf die Tür. »Ich kümmere mich um den Koffer.«
Rachel warf ihm einen finsteren Blick zu, kletterte vom Bock und wandte sich ab. Als sie über die Veranda zur Tür ging, hörte sie ihn lachen. Dann setzte sich der Wagen in Bewegung und ließ sie allein zurück. Während Rachel darauf wartete, dass jemand auf ihr Klopfen öffnete, sah sie sich um. Das Anwesen war recht gepflegt, auch wenn es keinen Vorgarten gab. Ihr Blick wanderte über die Koppeln zur Straße und hinauf zum grauen Himmel. Down Farm war eine eigene kleine Welt.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Kaye Dobbie
Kaye Dobbie schreibt schon seit ihrer Kindheit. Nachdem sie die Schule hinter sich gebracht hatte, veröffentlichte sie einige Kurzgeschichten in australischen Zeitschriften und trug auch zweimal den Sieg in nationalen Kurzgeschichten-Wettbewerben davon. Bevor sie sich endlich ganz dem Schreiben widmen konnte, arbeitete sie im Justizministerium in Brisbane und als Regierungsbeamtin. Inzwischen hat sie zahlreiche erfolgreiche Romane unter verschiedenen Pseudonymen geschrieben. Bei Weltbild erschien u.a. ihr Roman "Der Duft der roten Akazie". Kaye Dobbie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der australischen Goldrausch-Stadt Bendigo.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kaye Dobbie
- 2012, 1, 576 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386365031X
- ISBN-13: 9783863650315
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