Spieltrieb
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Spieltrieb von Juli Zeh
LESEPROBE
Exordium.
Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren
Was, wenn die Urenkel der Nihilisten längst ausgezogen wärenaus dem staubigen Devotionalienladen, den wir unsere Weltanschauung nennen?Wenn sie die halb leergeräumten Lagerhallen der Wertigkeiten und Wichtigkeiten,des Nützlichen und Notwendigen, Echten und Rechten verlassen hätten, um aufWildwechseln in den Dschungel zurückzukehren, dorthin, wo wir sie nicht mehrsehen, geschweige denn erreichen können? Was, wenn ihnen Bibel, Grundgesetz undStrafrecht nie mehr gegolten hätten als Anleitung und Regelbuch zu einemGesellschaftsspiel? Wenn sie Politik, Liebe und Ökonomie als Wettkampfbegriffen? Wenn das Gute für sie maximierte Effizienz bei minimiertemVerlustrisiko wäre, das Schlechte hingegen nichts als ein suboptimales Resultat?Wenn wir ihre Gründe nicht mehr verstünden, weil es keine gibt? Woher nähmenwir dann noch das Recht zu beurteilen, zu verurteilen, und vor allem - wen? DenVerlierer des Spiels - oder den Sieger? Der Richter müsste zum Schiedsrichter werden.Mit jedem Versuch, Erlerntes anzuwenden und Recht in Gerechtigkeit zuübersetzen, würde er sich der letztverbliebenen Todsünde schuldig machen: DerHeuchelei. Alles das habe ich in die Entscheidungsgründe eines Urteils geschrieben.Es wurde der Geschäftsstelle übergeben, es wurde den Parteien förmlichzugestellt. Ich kann die Gerichtsferien nutzen, um meine Gedanken zu ordnen.Ich kann den Tatbestand aufschreiben, nicht in der verkürzten Form, die einUrteil verlangt, sondern so, wie er sich wirklich zugetragen haben muss. Wennich mich aber entscheide, von Geschehnissen zu sprechen, an denen ich selbstnicht beteiligt war, deren Protagonisten ich kaum kenne und über die ich nuraus beruflichen Gründen Bescheid wissen muss, komme ich um die Frage nichtherum, wer die Geschichte erzählen soll. Ein Ich, der Weltgeist, dieGerechtigkeit, das multiple Wir aus phantasierendem Autor und seinen Figuren,das der Realität des Erzählens am nächsten kommt? Nichts davon gefällt mir. Es wäreunnatürlich wie die erzwungene Erwiderung auf eine Frage, die sich schlichtwegnicht beantworten lässt. Wer ist schon Ich? Wer Wir? Das Problem beschäftigtdie Menschheit seit Tausenden von Jahren. Ein Computer, der es lösen wollte,sähe sich gezwungen, eine Gleichung zu bilden, die gegen unendlich geht. Werbist du?, bedeutet für ihn: Wie viele Anwendungen laufen in dieser Sekunde indeinem Innern? - Wenn er darauf antwortete mit der Zahl X, so fügte der Vorgangdes Antwortens der Summe einen weiteren Prozess hinzu, so dass sie lautenmüsste: X plus eins, und seine Antwort wäre falsch. Würde er dies erkennen undversuchen, sich zu korrigieren, und sagte: X plus eins, so wäre die Summebereits X plus zwei, und so ginge es weiter, und der Computer stürzte ab,zerschellend an der liegenden Acht, unfähig zu sagen, wer er sei. Der Menschunterscheidet sich vom Rechner durch die Fähigkeit zur Schlamperei, durch seineBegabung, ein Problem zu übergehen, wenn er instinktiv erkennt, dass er es mitder Unendlichkeit aufzunehmen hätte. Während der Computer abstürzt, schütteltder Mensch den Kopf, lacht oder weint und geht weiter seines Weges. Mal wiederein Problem, das man am saubersten löst, indem man es vergisst. Ich lasseoffen, wer ich bin. Ich bitte um Verständnis und entschuldige mich fürentstandene Unannehmlichkeiten. Wenigstens das Wetter erfüllt die Erwartungen.Es ist für die Jahreszeit weder zu warm noch zu kalt, was im Monat August indieser Stadt nur eins bedeuten kann: Es ist heiß und feucht. Väterchen Rheinschwitzt seine flusshaften Sekrete aus, die Köln-Bonner-Bucht sammelt sie undkocht sie ein zu schwerem Mus, das auf Häusern, Autodächern, Rücken und Gedankenlastet. Was gäben wir für einen kleinen Wind, einen frischen Hauch, der denRhein hinaufgeklettert kommt, von Norden her, Erleichterung bringend, eineAhnung von Meer! Nichts wird kommen. Das Luftmus füllt den Menschen Lungen undKöpfe wie feuchter Sand. Abkühlung wird der einsetzende Nieselregen bringen,irgendwann im September, wenn ich zurück muss auf meine Dienststelle, um auszuprobieren,ob es nach dem letzten Urteil noch weitere geben kann. Mein Arbeitszimmer imersten Stock geht direkt auf die Straße. In einem Fußmarsch von dreißig Minutenkönnte ich die asphaltierte Rheinpromenade erreichen, um mich selbst dieUnterlegenheit eines einfachen Fußgängers gegenüber Radfahren, Joggern,Inline-Skatern und Hundebesitzern spüren zu lassen. Ich könnte zu denverlassenen Botschafterresidenzen hinaufsehen, die ihrerseits aus leerenFenstern über den Fluss schauen. Ich könnte die Villa Kahn besuchen, dieverspielt ein französisches Schloss kopiert, oder das Gelände einer derzahlreichen Bonner Internatsschulen umrunden, deren Grundstück, vollgestelltmit Gründerzeitbauten und ausgepolstert mit einem Park, bis fast ans Wasserreicht. Täglich könnte ich diese Orte ohne Mühe aufsuchen, und es gäbe dochnichts zu sehen. Stattdessen schaue ich aus dem Fenster. Haus und Straße werdendurch einen geräumigen Vorgarten voneinander getrennt, dessen schmiedeeisernesGitter ganz zugewachsen ist vom Rhododendron, der seine fleischigen Blätter wieGefangenenfinger durch die Stäbe streckt, um den Passanten bettelnd auf dieSchultern zu fassen. Über die Spitzen des Gitterzauns hinweg sehe ich auf dieFahrbahn und warte darauf, dass etwas aus der Reihe springen möge, seitwärtsrutschen, die Fahrtrichtung verlassen, sich drehen. Ein schwerer, abruptgebremster Lastwagen zum Beispiel, der dann mit schrägem Leib zum Stehen käme,ein Rad auf dem Bordstein, dicht vor einer Laterne, als wollte er das Hin- terbeinheben, während sich vor seiner Schnauze eine dunkle Wolke Fußgänger wie Fliegenversammelte. Etwas läge reglos und unförmig auf dem Asphalt. Ein Haufen alterMäntel vielleicht, die nicht mehr in den Altkleidercontainer gepasst haben? Auchohne genaues Hinsehen wüsste ich es besser. Das Herannahen der Rettungssirenemachte den Vorfall zu einem technischen Problem. Mit schnellen Stichen vernähtekreisendes Blaulicht das Loch in der Ordnung, aufgerissen durch dasaußerplanmäßige Versterben eines Artgenossen; ein Loch, über das dieaufgelaufene Menschenmenge sich beugte, um einen entsetzten Blick in dasdarunter liegende Chaos zu werfen. Die Menge würde zurückgedrängt. DieHeckklappe des Rettungswagens schlüge zu. Der Tag ruckte, stöhnte und setztesich von neuem in Bewegung. Ein Mensch würde fehlen, für immer. Vielleichteiner meiner Angeklagten. Vielleicht meine Zeugin. Einer meiner drei fastFreigesprochenen. Aber ich bin sicher, sie alle halten sich nicht in der Stadt auf,nicht einmal im Land. Zwischen den Instanzen unternimmt man gern einen Ausflug.Die Staatsanwaltschaft hat Rechtsmittel eingelegt. Mein Urteil wird aufsteigenzu den höheren Instanzen. Dieser Fall sollte es bis nach Karlsruhe schaffen. Erenthält die Aufforderung, das Versagen des Rechts offiziell zur Kenntnis zunehmen, weil die Würde des Menschen es verlangt. Über dem Bundesverfassungsgericht,sagen wir Juristen, sei nur noch der blaue Himmel. Der blaue Himmel ist zumfarbigen Pappdeckel einer Spielesammlung geworden. Wenn das alles ein Spielist, sind wir verloren. Wenn nicht - erst recht. (...)
© btb Verlag
- Autor: Juli Zeh
- 2006, 565 Seiten, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 11,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442733693
- ISBN-13: 9783442733699
- Erscheinungsdatum: 10.02.2006
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