110 - Ein Bulle hört zu
Ein Bulle hört zu - Aus der Notrufzentrale der Polizei | True Crime de luxe: Der Bestseller über Verbrechen und wahre Schicksale von einem Polizisten mit Hund, Herz und Schnauze
Cid Jonas Gutenrath ist Mitarbeiter der Berliner Polizei-Notrufzentrale - und schildert hier die aufwühlendsten Erlebnisse im Rahmen seines heiklen Jobs. Ob er eine Frau zum Weiterleben überredet oder einen kleinen Jungen tröstet: Der...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „110 - Ein Bulle hört zu “
Cid Jonas Gutenrath ist Mitarbeiter der Berliner Polizei-Notrufzentrale - und schildert hier die aufwühlendsten Erlebnisse im Rahmen seines heiklen Jobs. Ob er eine Frau zum Weiterleben überredet oder einen kleinen Jungen tröstet: Der Polizist begegnet ihnen allen auf seine ganz persönliche Art.
Klappentext zu „110 - Ein Bulle hört zu “
Ein Freigänger erschlägt seine Frau mit einer Axt, eine verzweifelte Mutter sucht Rat in Erziehungsfragen, ein Yacht-Besitzer empört sich, weil er auf dem Landwehrkanal "geblitzt" wurde: Wenn Cid Jonas Gutenrath Notrufe entgegennimmt, kommt er den Menschen sehr nahe. Ob er eine Frau zum Weiterleben überredet oder einen kleinen Jungen tröstet - Gutenrath begegnet ihnen allen auf seine ganz persönliche, faszinierende Art. Beim Lesen seiner authentischen Geschichten lacht man Tränen oder es stockt einem der Atem. Dieses Buch lässt keinen Leser kalt.Lese-Probe zu „110 - Ein Bulle hört zu “
110 - Ein Bulle hört zu von Cid J. GutenrathVorwort
Ein weiteres Buch aus der Reihe »Bücher, die die Welt nicht braucht«? Schon wieder ein Bulle, Marke »außen hart, innen weich«, der sich in Selbstbeweihräucherung und Selbstmitleid ergießt und an der Realität zu zerbrechen droht? Oder, noch schlimmer, einer, der alles richtig macht, uns mit seinen Moralvorstellungen nervt und zu allem Überfluss auch noch den Hemingway in sich entdeckt?
Falsch. Alles falsch.
Es geht nicht um mich. Es geht um uns. Um uns alle.
Es geht um die Art, wie wir miteinander umgehen, was wir uns gegenseitig antun oder auch nicht. Es geht darum, was wir bereit sind, von uns preiszugeben. Darum, wie weit wir gehen. Wie weit wir gehen, um zu helfen oder um zu schaden. Und genau darin liegt die Faszination, das eigentlich Unbeschreibliche.
Kurz: Es geht um die Wirklichkeit.
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Dieses Buch hat vielen anderen etwas voraus: Es ist nicht frei erfunden. Die künstlerische Freiheit hält sich stark in Grenzen und setzt spätestens dort ein, wo der Datenschutz es notwendig macht. Die unterschiedlichsten Menschen werden darin finden, was sie finden wollen: Für den notorischen »Bullenhasser«, der sich darüber freuen wird, wie vortrefflich man die Idioten in Grün am Telefon verarschen kann, wird etwas dabei sein, genauso wie für die Trümmerfrau oder Polizistenwitwe, die in einsamen Nachtstunden anruft, um, wenn auch nur kurz, mit jemandem zu reden, der sie nicht auslacht oder an ihr Geld will. Ebenso für den Akademiker, der in juristisch unanfechtbaren Verbalattacken sein Mütchen kühlt an dem vermeintlich einfach gestrickten Vertreter der Exekutive am anderen Ende der Leitung. Aber auch für die alleinerziehende Mutter, die von ihrem fünfzehnjährigen Sohn geschlagen wird und dankbar ist für jeden Rat und einen Augenblick des Zuhörens. Selbst der Kreuzberger Deutschtürke, der sich sicher ist, dass die Grünen jeden Einsatz mit Migrationshintergrund aus rassistischer Motivation verzögern, hat am Ende vielleicht seinen Spaß daran, sein Klischee bestätigt zu sehen oder sich zu wundern, dass der Bulle am Telefon weiß, was »Freund« auf Türkisch heißt. Letztlich wird der Alt68er, dem wir zu rechts sind, ebenso wie der Neonazi, dem wir zu links sind, genau das in diesen Zeilen entdecken, was er will. Oder eben auch nicht ...
Wir werden all diesen Menschen auf den folgenden Seiten begegnen. Diesen und noch ganz anderen Zeitgenossen, deren Geschichten und Sichtweisen uns die Falten auf die Stirn treiben werden. Falten des Zornes und des Mitgefühls, ich bin sicher.
Was das Ganze bringen soll? Nun, im untersten Ansatz soll es einfach bereichern. Wenn der eine oder andere Leser unwillkürlich ein Lächeln aufsetzt - über wen oder was auch immer -, hat es sich schon fast gelohnt. Wenn darüber hinaus manch einer, und sei es auch nur für Minuten, zum Nachdenken verführt wird, würde mich das sehr freuen.
Eines steht jedoch fest: Ganz sicher bin ich kein EnthüllungsJournalist à la Wallraff, der vorgibt zu sein, was er nicht ist, sich in Systeme schleicht und unter Menschen mischt, um diese dann medienwirksam bloßzustellen. Chorknabe oder gar Weltverbesserer bin ich aber leider auch nicht, sondern eigentlich nur jemand, dessen Alltag und Kopf angefüllt sind mit Geschichten, die er teilen möchte und irgendwie auch muss.
Machen Sie etwas daraus.
Willkommen in der Anstalt
»Hell's Kitchen« - okay, kein Amtsdeutsch. Aber ein Begriff, der die Atmosphäre an diesem Ort recht treffend beschreibt. Mein Arbeitsplatz, korrekt »Dienststelle«, ließe sich als Mischung zwischen Operationszentrale eines Kriegsschiffes und Bahnhofshalle bezeichnen. Offiziell trägt er das schlichte Kürzel »PELZ«, was für den Zungenbrecher Polizeieinsatzleitzentrale steht.
Stellen Sie sich einen Raum vor, der in etwa halb so groß wie ein Fußballfeld ist und ansonsten den Charme eines Arztpraxiswartezimmers aus den achtziger Jahren versprüht. Inklusive Holztäfelung und Bepflanzung - Gummibäume natürlich. Besagte Holztäfelung, habe ich gehört, sei eigentlich eine Schall und Temperatur absorbierende Spezialbeschichtung. Muss ein Gerücht sein. Obwohl, wir wollen fair sein: Man darf insgesamt schon von einem gewissen Maß an »Hightech« sprechen, wenngleich beispielsweise die ständig verwirrte Klimaanlage (weil einer der grünen Deppen wieder mal ein Fenster geöffnet hat) ausschließlich dafür da ist, dass sich die Computer wohl fühlen.
Der Saal hat zwei einander gegenüber angeordnete Sektionen, die man grob als Notrufannahmeplätze (ANP = Annahmeplatz) und Funkplätze (ELP = Einsatzleitplatz) bezeichnen kann. Intern gern »Bäckerei« und »Konditorei« genannt, wobei die Meinungen darüber, was was ist, stark auseinandergehen. Insgesamt gibt es knapp vierzig Tische, gespickt mit Elektronik, quäkenden Lautsprechern und altmodischen schwenkbaren Schirmlampen. Jeder dieser Plätze ist mit einem Grünling besetzt, der am Einsatzleitplatz seine Schwierigkeiten hat, Funk, Telefon und Computer gleichzeitig zu bedienen, es aber meist irgendwie trotzdem schafft.
An einem solchen Arbeitsplatz sieht man sich vier Computermonitoren, drei getrennten Telefonanlagen, diversen Tastaturen, einer Raumgegensprechanlage sowie etwa hundert verschiedenfarbig blinkenden Tasten ausgeliefert. Um ein Maximum an Verwirrung zu stiften, ist alles komplett vernetzt. Das Highlight der Ausstattung ist ein ergonomisch geformter, rollbarer Bürostuhl, der, genau genommen, niemals richtig kalt wird. Denn hier herrscht Dauerbetrieb, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.
Die Menschen an diesen Tischen, die bei all der Technik fast deplatziert wirken, lassen sich je nach Gemüt und Auftragslage in panischer Betriebsamkeit oder souveräner Gelassenheit beobachten. Es gibt viele Raucher, einige Herzattacken pro Jahr - und doch ist dies für Adrenalinfreunde, Computerfreaks und Strategiefans ein schöner Platz. Wir haben übrigens auch einen Defibrillator an der Wand hängen ...
Anzuführen wären noch diverse angeschlossene Alarmsysteme, auf die ich aber nicht näher eingehen kann. Erstens sind sie schrecklich geheim, und zweitens bin ich schlicht zu dämlich und kenne mich damit kaum aus. Es gibt auch ein an der Decke montiertes Blaulicht von der Sorte, die wir sonst auf den Einsatzwagen spazieren fahren. Legt immer genau dann los, wenn eine der in Berlin zahlreichen mobilen Einheiten einen speziellen Alarmknopf drückt, was so viel heißt wie: »HILFE - HILFE - HILFE! Ich kann nicht mehr sprechen und mich auch nicht verteidigen.« Hat in der Regel eine massive Polizeischau zur Folge, wird aber nicht selten bloß durch zu dicke Finger ausgelöst.
Das Ganze hat etwas von einer geschlossenen Anstalt. Wir Schutzpolizisten werden nämlich beschützt von speziellem Wachpersonal. Rein kommt man nur durch eine der zahlreichen Sicherheitsschleusen mit codiertem Chip. Argwöhnisch belinst durch neugierige Kameras. Der Saal an sich, die »Käseglocke«, ist eingefasst mit Panzerglas. Manche behaupten hartnäckig, all der Aufwand wird nur getrieben, damit wir hier nicht abhauen können ...
Im Zentrum befindet sich die sogenannte »Mittelinsel«. Dort thront die Führung, inklusive Hofstaat. Regiert wird dieser Bienenstock von einer Frau. Zumindest die Schicht, in der ich mich befinde. Sie ist der lebendige Beweis dafür, dass eine Frau in diesem Land alles erreichen kann. Sie benimmt sich wie John Wayne, sieht allerdings mehr aus wie Kirk Douglas. Rote Haare, vorgeschobenes, energisches Kinn und wache, gefährliche Augen. Typ Raubvogel halt. Sie führt mit eiserner Hand circa sechzig Männer, von denen einige regelrecht Angst vor ihr haben. Herrlich! Man mag über sie sagen, was man will, aber: Sie ist in der Lage, unangenehme Entscheidungen zu treffen. Eine Eigenschaft, die heutzutage selten ist. Außerdem fährt sie dieses Schiff »Berlin« recht souverän. Zwar gibt es, auch in den Abendund Nachtstunden, Instanzen über ihr; zunächst aber ist sie - egal ob Bombendrohung, Massenschlägerei oder Amoklauf - der organisatorische Boss.
Und doch, ich mag sie nicht. Obwohl ich ihr das, gleich zu Anfang ihrer Dienstaufnahme in meiner Schicht, ins Gesicht gesagt habe, bin ich immer noch hier. Das sagt eigentlich sehr viel über die Frau aus. Wäre es doch zumindest theoretisch im Bereich ihrer Möglichkeiten, mich als Streifenpolizist in das schöne Kreuzberg versetzen zu lassen. Fakt ist: Sie verdient Respekt. Egal, ob man auf Kirk Douglas mit Ohrringen steht oder nicht.
Vielleicht noch ein paar Eckdaten: Aus circa 3000 Notrufen pro Tag in Berlin werden durchschnittlich 1500 Polizeieinsätze gebacken, die dann mit mehr oder weniger Erfolg serviert werden. Glaubt man den Medien, kommen ausschließlich Heldentaten oder Mist dabei heraus. Meistens Mist natürlich.
Und doch haben all die vielen kleinen, vermeintlich belanglosen Fälle dazwischen nicht nur ihren Unterhaltungswert, sondern gehen auch mal ans Herz. Wenn man denn eins hat.
Der geschilderten Szenerie entsprechend geht es in dieser Höhle nicht gerade wie in einem Meditationsraum zu. Der normale Lärmpegel dürfte locker bei 70 Dezibel liegen, wobei wir ja leider nicht von einem konstanten Geräusch sprechen. Außerdem schreit eigentlich fast immer gerade irgendjemand. Damit meine ich nicht nur die Anrufer, die aus Angst, Aufregung oder Wut nicht selten ins Telefon brüllen. Nein, auch der »grüne Mülleimer« ist nach dem zehnten »Arschficker« oder »Nazischwein« gelegentlich mal voll und steigt mit ein. Meist vortrefflich in dieser Art der Kommunikation trainiert. Sind doch mehrere Jahre Schutzmannerfahrung auf der Straße sowie Fremdsprachenkenntnisse für den Job hier gefordert.
Aus Verzweiflung wird auch manch einer der Grünen zuweilen laut, weil der Anrufer im Alkoholdunst oder Todeskampf einfach seinen Standort nicht verständlich herausbringt. Dann gibt es noch jene Unsympathen in Uniform, die manchmal Menschen anbrüllen, die es weder verdient haben noch im Moment verkraften können. Solche Polizisten verschwinden aber glücklicherweise mittelfristig wieder, aufgrund natürlicher Auslese. Womit wir tief im Thema Qualifikation beziehungsweise Eignung stecken. Die Begriffe klingen ähnlich, umschreiben aber trotzdem nicht das Gleiche. Man kann durchaus qualifiziert sein und sich trotzdem nicht eignen, wie ich finde. Hat maßgeblich mit Emotion und Fingerspitzengefühl zu tun, was für den Job ja eigentlich Grundvoraussetzung ist.
Dennoch gibt es den einen oder anderen Lehrgang, der uns für den Job als PolizeiTelefonistin fit machen soll. Herausheben möchte ich eigentlich nur einen, den sogenannten »Erstsprecherlehrgang «. Dieser folgt dem Prinzip, dass derjenige, der den Bombendroher oder Selbstmörder als Erster am Telefon hat, auch bei ihm bleibt, bis die Sache ausgestanden ist. Mit welchem Ausgang auch immer. Selbst wenn das in letzter Konsequenz bedeutet, dass man unter dem Tisch in eine Flasche pullert oder, zivilisierter, auf ein Funkgeschirr umschaltet.
Allzu viel darf ich aus verständlichen Gründen nicht aus dem Nähkästchen plaudern, aber ein bisschen wird wohl erlaubt sein. Man bekommt vom Dozenten zum Beispiel gesagt: »Fixieren Sie einen beliebigen Punkt an der Wand, und halten Sie einen exakt dreiminütigen Monolog zu dem Thema Kopfsalat. Nicht länger, nicht kürzer, ohne sich zu wiederholen. Ansatz beliebig.« Da waren sie bei mir, dem dreifachen Vater und geübten Gutenachtgeschichtenerzähler, natürlich genau an der richtigen Adresse. Obwohl, den Kopfsalatkönig nach genau drei Minuten sein Reich zurückerobern zu lassen war dann doch nicht so leicht. Aber Sie verstehen schon, oder? Es geht um Lösungsansätze, um Kommunikation, um Manipulation, Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen. Allerdings rührend, wenn nicht gar naiv der Gedanke, dass solche Fähigkeiten Menschen einfach beizubringen sind.
Böse ausgedrückt, ist unser Ziel also, sich verbal in das Vertrauen eines Menschen zu schleichen, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen oder etwa einen Zugriff zu ermöglichen. Positiv ausgedrückt, ist unser Ziel, die Beweggründe und den Charakter eines Menschen auszuloten, um ihm zu helfen. Und sei es nur, indem man ihn daran hindert, etwas zu tun, was er nie wieder rückgängig machen kann, sosehr er es vielleicht auch möchte. Klingt gleich viel netter, was? Ob ich zum Erreichen dieses Zieles nun der Michael bin, der selbst seit drei Jahren trockener Alkoholiker ist, oder der Lars, dem aufgrund des Schichtdienstes die Frau abgehauen ist und sogar die Kinder mitgenommen hat, ist doch mit Verlaub gesagt scheißegal.
Für alle verschreckten Beamtenseelen: Diese Sicht der Dinge oder Berufsmoral ist natürlich auf meinem eigenen Mist gewachsen. Die Firma hält mich selbstredend nicht zum »Lügen« an. Aber ich lasse niemanden sterben, ohne alles versucht zu haben. Steht der Gesprächspartner unter Drogeneinfluss oder hat er große Angst oder Schmerzen, wird die Sache schwieriger, ist aber auch nicht aussichtslos. Aussichtslos ist sowieso überhaupt gar nichts. Zu Ende ist es erst, wenn es knallt.
Es geht bei den NotrufGesprächen also, salopp gesagt, ums Quatschen. Und dabei reicht es leider nicht, wenn wir den alten Psychiatertrick anwenden, der da lautet: immer den letzten Teilsatz des anderen wiederholen, um den Redefluss in Gang zu halten. Es sei denn, man spielt taktisch auf Zeit. Ein reiner Monolog bringt uns meistens nicht weiter. Nein, es ist ein Hin und Her. Schließlich willst du das Ganze in eine bestimmte Richtung lenken. Dazu muss man was können? Richtig! Gut quatschen. Und ich bin gut. Gelegentlich und bei Bedarf eine regelrechte Quasselstrippe. Fast so etwas wie ein Verkaufstalent. Ich bin ziemlich sicher, dass ich Ihnen einen Raumluftbefeuchter verkaufen könnte, obwohl Sie eigentlich eine Stereoanlage wollten. Idealerweise würden Sie mit beidem gehen. Die Frage, die sich irgendwann einmal jeder stellt, ist aber: Wie wollen wir unsere Talente nutzen? Wollen wir Immobilien verkaufen oder Leben retten? Kein Geld der Welt kann das Gefühl toppen, wenn jemand am anderen Ende der Leitung atemlos sagt: »Alles klar, wir haben das Baby. Sie hat es nicht von der Brücke geworfen ...«
Genau da sind wir am Punkt. Es muss Herz mitschwingen! Niemand ist ein so perfekter Lügner, dass das Tier Mensch nicht irgendwann instinktiv den Braten riecht. Eine Prise Ehrlichkeit muss hörbar, ja fast fühlbar sein. Sonst entgleiten sie einem.
© Ullstein extra (Verlag), Weltbild
Dieses Buch hat vielen anderen etwas voraus: Es ist nicht frei erfunden. Die künstlerische Freiheit hält sich stark in Grenzen und setzt spätestens dort ein, wo der Datenschutz es notwendig macht. Die unterschiedlichsten Menschen werden darin finden, was sie finden wollen: Für den notorischen »Bullenhasser«, der sich darüber freuen wird, wie vortrefflich man die Idioten in Grün am Telefon verarschen kann, wird etwas dabei sein, genauso wie für die Trümmerfrau oder Polizistenwitwe, die in einsamen Nachtstunden anruft, um, wenn auch nur kurz, mit jemandem zu reden, der sie nicht auslacht oder an ihr Geld will. Ebenso für den Akademiker, der in juristisch unanfechtbaren Verbalattacken sein Mütchen kühlt an dem vermeintlich einfach gestrickten Vertreter der Exekutive am anderen Ende der Leitung. Aber auch für die alleinerziehende Mutter, die von ihrem fünfzehnjährigen Sohn geschlagen wird und dankbar ist für jeden Rat und einen Augenblick des Zuhörens. Selbst der Kreuzberger Deutschtürke, der sich sicher ist, dass die Grünen jeden Einsatz mit Migrationshintergrund aus rassistischer Motivation verzögern, hat am Ende vielleicht seinen Spaß daran, sein Klischee bestätigt zu sehen oder sich zu wundern, dass der Bulle am Telefon weiß, was »Freund« auf Türkisch heißt. Letztlich wird der Alt68er, dem wir zu rechts sind, ebenso wie der Neonazi, dem wir zu links sind, genau das in diesen Zeilen entdecken, was er will. Oder eben auch nicht ...
Wir werden all diesen Menschen auf den folgenden Seiten begegnen. Diesen und noch ganz anderen Zeitgenossen, deren Geschichten und Sichtweisen uns die Falten auf die Stirn treiben werden. Falten des Zornes und des Mitgefühls, ich bin sicher.
Was das Ganze bringen soll? Nun, im untersten Ansatz soll es einfach bereichern. Wenn der eine oder andere Leser unwillkürlich ein Lächeln aufsetzt - über wen oder was auch immer -, hat es sich schon fast gelohnt. Wenn darüber hinaus manch einer, und sei es auch nur für Minuten, zum Nachdenken verführt wird, würde mich das sehr freuen.
Eines steht jedoch fest: Ganz sicher bin ich kein EnthüllungsJournalist à la Wallraff, der vorgibt zu sein, was er nicht ist, sich in Systeme schleicht und unter Menschen mischt, um diese dann medienwirksam bloßzustellen. Chorknabe oder gar Weltverbesserer bin ich aber leider auch nicht, sondern eigentlich nur jemand, dessen Alltag und Kopf angefüllt sind mit Geschichten, die er teilen möchte und irgendwie auch muss.
Machen Sie etwas daraus.
Willkommen in der Anstalt
»Hell's Kitchen« - okay, kein Amtsdeutsch. Aber ein Begriff, der die Atmosphäre an diesem Ort recht treffend beschreibt. Mein Arbeitsplatz, korrekt »Dienststelle«, ließe sich als Mischung zwischen Operationszentrale eines Kriegsschiffes und Bahnhofshalle bezeichnen. Offiziell trägt er das schlichte Kürzel »PELZ«, was für den Zungenbrecher Polizeieinsatzleitzentrale steht.
Stellen Sie sich einen Raum vor, der in etwa halb so groß wie ein Fußballfeld ist und ansonsten den Charme eines Arztpraxiswartezimmers aus den achtziger Jahren versprüht. Inklusive Holztäfelung und Bepflanzung - Gummibäume natürlich. Besagte Holztäfelung, habe ich gehört, sei eigentlich eine Schall und Temperatur absorbierende Spezialbeschichtung. Muss ein Gerücht sein. Obwohl, wir wollen fair sein: Man darf insgesamt schon von einem gewissen Maß an »Hightech« sprechen, wenngleich beispielsweise die ständig verwirrte Klimaanlage (weil einer der grünen Deppen wieder mal ein Fenster geöffnet hat) ausschließlich dafür da ist, dass sich die Computer wohl fühlen.
Der Saal hat zwei einander gegenüber angeordnete Sektionen, die man grob als Notrufannahmeplätze (ANP = Annahmeplatz) und Funkplätze (ELP = Einsatzleitplatz) bezeichnen kann. Intern gern »Bäckerei« und »Konditorei« genannt, wobei die Meinungen darüber, was was ist, stark auseinandergehen. Insgesamt gibt es knapp vierzig Tische, gespickt mit Elektronik, quäkenden Lautsprechern und altmodischen schwenkbaren Schirmlampen. Jeder dieser Plätze ist mit einem Grünling besetzt, der am Einsatzleitplatz seine Schwierigkeiten hat, Funk, Telefon und Computer gleichzeitig zu bedienen, es aber meist irgendwie trotzdem schafft.
An einem solchen Arbeitsplatz sieht man sich vier Computermonitoren, drei getrennten Telefonanlagen, diversen Tastaturen, einer Raumgegensprechanlage sowie etwa hundert verschiedenfarbig blinkenden Tasten ausgeliefert. Um ein Maximum an Verwirrung zu stiften, ist alles komplett vernetzt. Das Highlight der Ausstattung ist ein ergonomisch geformter, rollbarer Bürostuhl, der, genau genommen, niemals richtig kalt wird. Denn hier herrscht Dauerbetrieb, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.
Die Menschen an diesen Tischen, die bei all der Technik fast deplatziert wirken, lassen sich je nach Gemüt und Auftragslage in panischer Betriebsamkeit oder souveräner Gelassenheit beobachten. Es gibt viele Raucher, einige Herzattacken pro Jahr - und doch ist dies für Adrenalinfreunde, Computerfreaks und Strategiefans ein schöner Platz. Wir haben übrigens auch einen Defibrillator an der Wand hängen ...
Anzuführen wären noch diverse angeschlossene Alarmsysteme, auf die ich aber nicht näher eingehen kann. Erstens sind sie schrecklich geheim, und zweitens bin ich schlicht zu dämlich und kenne mich damit kaum aus. Es gibt auch ein an der Decke montiertes Blaulicht von der Sorte, die wir sonst auf den Einsatzwagen spazieren fahren. Legt immer genau dann los, wenn eine der in Berlin zahlreichen mobilen Einheiten einen speziellen Alarmknopf drückt, was so viel heißt wie: »HILFE - HILFE - HILFE! Ich kann nicht mehr sprechen und mich auch nicht verteidigen.« Hat in der Regel eine massive Polizeischau zur Folge, wird aber nicht selten bloß durch zu dicke Finger ausgelöst.
Das Ganze hat etwas von einer geschlossenen Anstalt. Wir Schutzpolizisten werden nämlich beschützt von speziellem Wachpersonal. Rein kommt man nur durch eine der zahlreichen Sicherheitsschleusen mit codiertem Chip. Argwöhnisch belinst durch neugierige Kameras. Der Saal an sich, die »Käseglocke«, ist eingefasst mit Panzerglas. Manche behaupten hartnäckig, all der Aufwand wird nur getrieben, damit wir hier nicht abhauen können ...
Im Zentrum befindet sich die sogenannte »Mittelinsel«. Dort thront die Führung, inklusive Hofstaat. Regiert wird dieser Bienenstock von einer Frau. Zumindest die Schicht, in der ich mich befinde. Sie ist der lebendige Beweis dafür, dass eine Frau in diesem Land alles erreichen kann. Sie benimmt sich wie John Wayne, sieht allerdings mehr aus wie Kirk Douglas. Rote Haare, vorgeschobenes, energisches Kinn und wache, gefährliche Augen. Typ Raubvogel halt. Sie führt mit eiserner Hand circa sechzig Männer, von denen einige regelrecht Angst vor ihr haben. Herrlich! Man mag über sie sagen, was man will, aber: Sie ist in der Lage, unangenehme Entscheidungen zu treffen. Eine Eigenschaft, die heutzutage selten ist. Außerdem fährt sie dieses Schiff »Berlin« recht souverän. Zwar gibt es, auch in den Abendund Nachtstunden, Instanzen über ihr; zunächst aber ist sie - egal ob Bombendrohung, Massenschlägerei oder Amoklauf - der organisatorische Boss.
Und doch, ich mag sie nicht. Obwohl ich ihr das, gleich zu Anfang ihrer Dienstaufnahme in meiner Schicht, ins Gesicht gesagt habe, bin ich immer noch hier. Das sagt eigentlich sehr viel über die Frau aus. Wäre es doch zumindest theoretisch im Bereich ihrer Möglichkeiten, mich als Streifenpolizist in das schöne Kreuzberg versetzen zu lassen. Fakt ist: Sie verdient Respekt. Egal, ob man auf Kirk Douglas mit Ohrringen steht oder nicht.
Vielleicht noch ein paar Eckdaten: Aus circa 3000 Notrufen pro Tag in Berlin werden durchschnittlich 1500 Polizeieinsätze gebacken, die dann mit mehr oder weniger Erfolg serviert werden. Glaubt man den Medien, kommen ausschließlich Heldentaten oder Mist dabei heraus. Meistens Mist natürlich.
Und doch haben all die vielen kleinen, vermeintlich belanglosen Fälle dazwischen nicht nur ihren Unterhaltungswert, sondern gehen auch mal ans Herz. Wenn man denn eins hat.
Der geschilderten Szenerie entsprechend geht es in dieser Höhle nicht gerade wie in einem Meditationsraum zu. Der normale Lärmpegel dürfte locker bei 70 Dezibel liegen, wobei wir ja leider nicht von einem konstanten Geräusch sprechen. Außerdem schreit eigentlich fast immer gerade irgendjemand. Damit meine ich nicht nur die Anrufer, die aus Angst, Aufregung oder Wut nicht selten ins Telefon brüllen. Nein, auch der »grüne Mülleimer« ist nach dem zehnten »Arschficker« oder »Nazischwein« gelegentlich mal voll und steigt mit ein. Meist vortrefflich in dieser Art der Kommunikation trainiert. Sind doch mehrere Jahre Schutzmannerfahrung auf der Straße sowie Fremdsprachenkenntnisse für den Job hier gefordert.
Aus Verzweiflung wird auch manch einer der Grünen zuweilen laut, weil der Anrufer im Alkoholdunst oder Todeskampf einfach seinen Standort nicht verständlich herausbringt. Dann gibt es noch jene Unsympathen in Uniform, die manchmal Menschen anbrüllen, die es weder verdient haben noch im Moment verkraften können. Solche Polizisten verschwinden aber glücklicherweise mittelfristig wieder, aufgrund natürlicher Auslese. Womit wir tief im Thema Qualifikation beziehungsweise Eignung stecken. Die Begriffe klingen ähnlich, umschreiben aber trotzdem nicht das Gleiche. Man kann durchaus qualifiziert sein und sich trotzdem nicht eignen, wie ich finde. Hat maßgeblich mit Emotion und Fingerspitzengefühl zu tun, was für den Job ja eigentlich Grundvoraussetzung ist.
Dennoch gibt es den einen oder anderen Lehrgang, der uns für den Job als PolizeiTelefonistin fit machen soll. Herausheben möchte ich eigentlich nur einen, den sogenannten »Erstsprecherlehrgang «. Dieser folgt dem Prinzip, dass derjenige, der den Bombendroher oder Selbstmörder als Erster am Telefon hat, auch bei ihm bleibt, bis die Sache ausgestanden ist. Mit welchem Ausgang auch immer. Selbst wenn das in letzter Konsequenz bedeutet, dass man unter dem Tisch in eine Flasche pullert oder, zivilisierter, auf ein Funkgeschirr umschaltet.
Allzu viel darf ich aus verständlichen Gründen nicht aus dem Nähkästchen plaudern, aber ein bisschen wird wohl erlaubt sein. Man bekommt vom Dozenten zum Beispiel gesagt: »Fixieren Sie einen beliebigen Punkt an der Wand, und halten Sie einen exakt dreiminütigen Monolog zu dem Thema Kopfsalat. Nicht länger, nicht kürzer, ohne sich zu wiederholen. Ansatz beliebig.« Da waren sie bei mir, dem dreifachen Vater und geübten Gutenachtgeschichtenerzähler, natürlich genau an der richtigen Adresse. Obwohl, den Kopfsalatkönig nach genau drei Minuten sein Reich zurückerobern zu lassen war dann doch nicht so leicht. Aber Sie verstehen schon, oder? Es geht um Lösungsansätze, um Kommunikation, um Manipulation, Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen. Allerdings rührend, wenn nicht gar naiv der Gedanke, dass solche Fähigkeiten Menschen einfach beizubringen sind.
Böse ausgedrückt, ist unser Ziel also, sich verbal in das Vertrauen eines Menschen zu schleichen, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen oder etwa einen Zugriff zu ermöglichen. Positiv ausgedrückt, ist unser Ziel, die Beweggründe und den Charakter eines Menschen auszuloten, um ihm zu helfen. Und sei es nur, indem man ihn daran hindert, etwas zu tun, was er nie wieder rückgängig machen kann, sosehr er es vielleicht auch möchte. Klingt gleich viel netter, was? Ob ich zum Erreichen dieses Zieles nun der Michael bin, der selbst seit drei Jahren trockener Alkoholiker ist, oder der Lars, dem aufgrund des Schichtdienstes die Frau abgehauen ist und sogar die Kinder mitgenommen hat, ist doch mit Verlaub gesagt scheißegal.
Für alle verschreckten Beamtenseelen: Diese Sicht der Dinge oder Berufsmoral ist natürlich auf meinem eigenen Mist gewachsen. Die Firma hält mich selbstredend nicht zum »Lügen« an. Aber ich lasse niemanden sterben, ohne alles versucht zu haben. Steht der Gesprächspartner unter Drogeneinfluss oder hat er große Angst oder Schmerzen, wird die Sache schwieriger, ist aber auch nicht aussichtslos. Aussichtslos ist sowieso überhaupt gar nichts. Zu Ende ist es erst, wenn es knallt.
Es geht bei den NotrufGesprächen also, salopp gesagt, ums Quatschen. Und dabei reicht es leider nicht, wenn wir den alten Psychiatertrick anwenden, der da lautet: immer den letzten Teilsatz des anderen wiederholen, um den Redefluss in Gang zu halten. Es sei denn, man spielt taktisch auf Zeit. Ein reiner Monolog bringt uns meistens nicht weiter. Nein, es ist ein Hin und Her. Schließlich willst du das Ganze in eine bestimmte Richtung lenken. Dazu muss man was können? Richtig! Gut quatschen. Und ich bin gut. Gelegentlich und bei Bedarf eine regelrechte Quasselstrippe. Fast so etwas wie ein Verkaufstalent. Ich bin ziemlich sicher, dass ich Ihnen einen Raumluftbefeuchter verkaufen könnte, obwohl Sie eigentlich eine Stereoanlage wollten. Idealerweise würden Sie mit beidem gehen. Die Frage, die sich irgendwann einmal jeder stellt, ist aber: Wie wollen wir unsere Talente nutzen? Wollen wir Immobilien verkaufen oder Leben retten? Kein Geld der Welt kann das Gefühl toppen, wenn jemand am anderen Ende der Leitung atemlos sagt: »Alles klar, wir haben das Baby. Sie hat es nicht von der Brücke geworfen ...«
Genau da sind wir am Punkt. Es muss Herz mitschwingen! Niemand ist ein so perfekter Lügner, dass das Tier Mensch nicht irgendwann instinktiv den Braten riecht. Eine Prise Ehrlichkeit muss hörbar, ja fast fühlbar sein. Sonst entgleiten sie einem.
© Ullstein extra (Verlag), Weltbild
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Autoren-Porträt von Cid J. Gutenrath
1966 in Paris als Produkt eines Seitensprungs gezeugt, im Hamburger Rotlichtmilieu aufgewachsen, waren Lebensstationen wie Kinderheim, Jugendarrestanstalt, Karate-Dojo und die Hamburger Türsteherszene der frühen achtziger Jahre prägend für Cid Jonas Gutenrath. Nach Dienst in Sondereinheiten von Bundesmarine und Bundesgrenzschutz führte ihn sein Weg zur Berliner Schutzpolizei, wo er sowohl als einfacher Streifenpolizist in sozialen Brennpunkten der Stadt wie auch als Zivilfahnder im Bereich Betäubungsmittel und Prostitution tätig war. Fast ein Jahrzehnt war er bei der Einsatzzentrale der Berline Polizei, dem "Schaltzentrum der Hauptstadtpolizei" eingesetzt. Vor kurzem hat er zur Hunde-Staffel gewechselt und bringt nun seinem "Wolf" bei, die Menschen zu hassen. Gutenrath lebt mit seiner Lebensgefährtin und den gemeinsamen drei Kindern vor den Toren Berlins.
Bibliographische Angaben
- Autor: Cid J. Gutenrath
- 2012, 5. Aufl., 400 Seiten, Maße: 13,5 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ullstein extra
- ISBN-10: 3864930014
- ISBN-13: 9783864930010
- Erscheinungsdatum: 09.03.2012
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