Agent 6 / Leo Demidow Bd.3
Thriller
Für sein Land würde Leo Demidow alles tun. Für seine Frau würde er sterben. Für ihren Tod muss es einen Schuldigen geben. Und Leo wird ihn finden ...
Moskau 1950. Der schwarze amerikanische Sänger Jesse...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Agent 6 / Leo Demidow Bd.3 “
Für sein Land würde Leo Demidow alles tun. Für seine Frau würde er sterben. Für ihren Tod muss es einen Schuldigen geben. Und Leo wird ihn finden ...
Moskau 1950. Der schwarze amerikanische Sänger Jesse Austin besucht die Sowjetunion, um sein idealistisches Bild des Kommunismus zu überprüfen. Damit Austin nicht hinter die Kulissen des für ihn inszenierten Alltags schauen kann, wird ihm Geheimdienstoffizier Leo Demidow an die Seite gestellt. Doch trotz Leos Einsatz kommt es fast zum Eklat. Fünfzehn Jahre später reist Demidows Frau Raisa mit ihren beiden Töchtern nach New York, wo ein Konzert sowjetischer und amerikanischer Schüler für Entspannung im Kalten Krieg sorgen soll. Auch Jesse Austin wurde eine Rolle in dem Spektakel zugewiesen. Der Abend endet mit mehreren Toten, und nur ein Mann weiß, was wirklich geschah: Agent 6. Und eines Tages wird Leo ihn finden.
Moskau 1950. Der schwarze amerikanische Sänger Jesse Austin besucht die Sowjetunion, um sein idealistisches Bild des Kommunismus zu überprüfen. Damit Austin nicht hinter die Kulissen des für ihn inszenierten Alltags schauen kann, wird ihm Geheimdienstoffizier Leo Demidow an die Seite gestellt. Doch trotz Leos Einsatz kommt es fast zum Eklat. Fünfzehn Jahre später reist Demidows Frau Raisa mit ihren beiden Töchtern nach New York, wo ein Konzert sowjetischer und amerikanischer Schüler für Entspannung im Kalten Krieg sorgen soll. Auch Jesse Austin wurde eine Rolle in dem Spektakel zugewiesen. Der Abend endet mit mehreren Toten, und nur ein Mann weiß, was wirklich geschah: Agent 6. Und eines Tages wird Leo ihn finden.
Klappentext zu „Agent 6 / Leo Demidow Bd.3 “
Moskau 1950: Ein Mann im Dienst von Stalins Terrorregime. Eine Frau, die von Liebe und Freiheit träumt. Und der Beginn eines Komplotts, das viele Jahre später in eine tödliche Tragödie mündet. Für den Geheimdienstagenten Leo Demidow beginnt im Winter des Jahres 1950 ein Spiel um Leben und Tod, das schreckliche Opfer fordert. Und es wird erst beendet sein, wenn er den einzigen Menschen findet, der die Wahrheit kennt: Agent 6.
Klappenbroschur
Lese-Probe zu „Agent 6 / Leo Demidow Bd.3 “
Agent 6 von Tom Rob Smith Aus dem Englischen von Eva Kemper
Moskau
Lubjanka-Platz
Lubjanka, Hauptquartier der Geheimpolizei
21. Januar 1950
Beim Tagebuchschreiben stellte man sich am besten vor, Stalin würde jedes Wort mitlesen. Das war am sichersten. Aber selbst bei so viel Vorsicht lief man immer noch Gefahr, etwas Unbedachtes zu schreiben, eine unbeabsichtigte Zweideutigkeit, einen missverständlichen Satz. Lob konnte als Spott missverstanden werden, aufrichtige Verherrlichung als Parodie. Weil sich auch der umsichtigste Tagebuchschreiber nicht gegen jede mögliche Interpretation wappnen konnte, blieb noch die Möglichkeit, das ganze Heft zu verstecken, und genau diese Methode hatte im vorliegenden Fall die Verdächtige gewählt, eine junge Künstlerin namens Polina Peschkowa. Ihr Tagebuch war in einem Kamin entdeckt worden, genauer gesagt im Rauchfang, eingewickelt in Wachspapier und zwischen zwei lockere Ziegel gestopft. Um es hervorzuholen, musste sie warten, bis das Feuer erloschen war, dann in den Rauchfang greifen und nach dem Rücken der Kladde tasten. Ironischerweise wurde Peschkowa gerade dieses raffinierte Versteck zum Verhängnis. Wegen eines einzigen rußigen Fingerabdrucks auf ihrer Schreibtischplatte hatte der mit der Untersuchung beauftragte Agent Verdacht geschöpft und daraufhin im Kamin nachgesehen - eine beispielhafte Ermittlungsleistung.
... mehr
Aus Sicht der Geheimpolizei war es schon ein Verbrechen, ein Tagebuch zu verstecken, ganz egal, was darin stand. Damit versuchte ein Bürger, sein privates Leben vom öffentlichen zu trennen. In Wirklichkeit bestand zwischen beidem kein Unterschied. Die Partei hatte das Recht, über alles, was man dachte und machte, Bescheid zu wissen. Deshalb war ein verstecktes Tagebuch oft der belastendste Beweis, den sich ein Agent erhoffen konnte. Weil es nicht dafür gedacht war, gelesen zu werden, schrieb der Verfasser offen, was er dachte; er wurde unvorsichtiger und brachte ungefragt nichts anderes als ein Geständnis zu Papier. Diese ungeschminkte Ehrlichkeit erlaubte es, sich nicht nur über den Schreiber ein Urteil zu bilden, sondern auch über dessen Freunde und Familie. Manchmal förderte ein Tagebuch bis zu fünfzehn weitere Verdächtige zutage, fünfzehn neue Hinweise, und damit oft mehr als die eindringlichste Befragung.
Diese Untersuchung wurde von Agent Leo Demidow geleitet, siebenundzwanzig Jahre alt und ein dekorierter Soldat, den die Geheimpolizei nach dem Großen Vaterländischen Krieg angeworben hatte. Innerhalb des MGB, des Ministeriums für Staatssicherheit, war er durch eine Kombination von schlichtem Gehorsam, Glauben an den Staat, dem er diente, und einem extrem wachen Blick für Details aufgestiegen. Sein Pflichteifer beruhte nicht auf Ehrgeiz, sondern auf der aufrichtigen Verehrung seines Heimatlandes, des Landes, das den Faschismus besiegt hatte. Gutaussehend und ernsthaft wie er war, besaß er das Gesicht und den Geist eines Propagandaplakats, ein kantiges Kinn und geschwungene Lippen, auf denen stets eine Parole lag.
In seiner kurzen Karriere beim MGB hatte Leo die Sichtung von vielen hundert Tagebüchern überwacht und war Tausende von Einträgen durchgegangen. Er hatte unermüdlich jeden verfolgt, dem antisowjetische Agitation vorgeworfen wurde. An das erste Tagebuch, das er untersucht hatte, dachte er wie an eine erste Liebe zurück. Sein Mentor Nikolai Borisow hatte es ihm gegeben, und es hatte sich als schwieriger Fall erwiesen. Leo hatte auf den Seiten nichts Belastendes gefunden. Danach hatte sein Mentor das Tagebuch gelesen und die scheinbar unschuldige Bemerkung unterstrichen:
6. Dezember 1936: Gestern wurde Stalins neue Verfassung angenommen. Ich empfinde das Gleiche wie das ganze Land, d.h. vollkommene, unendliche Freude. Borisow las aus diesem Satz keine glaubhafte Freude heraus. Dem Schreiber ging es eher darum, seine Gefühle denen des restlichen Landes anzugleichen. Das war rein strategisch gedacht und zynisch, eine hohle Erklärung, die nur die Zweifel des Autors verbergen sollte. Benutzt jemand zum Ausdruck echter Freude eine Abkürzung - d.h. -, bevor er seine Emotionen beschreibt? Genau diese Frage wurde dem Verdächtigen anschließend im Verhör gestellt.
VERNEHMUNGSBEAMTER BORISOW: Wie fühlen Sie sich im Moment?
VERDÄCHTIGER: Ich habe nichts Unrechtes gemacht.
VERNEHMUNGSBEAMTER BORISOW: Das habe ich nicht gefragt, sondern: Wie fühlen Sie sich? VERDÄCHTIGER: Ich bin beunruhigt.
VERNEHMUNGSBEAMTER BORISOW: Natürlich, das ist völlig normal. Aber sehen Sie, Sie haben nicht gesagt: »Ich fühle mich, wie sich jeder in meiner Lage fühlen würde, d.h. beunruhigt.«
Der Mann bekam fünfzehn Jahre. Und Leo lernte eine wertvolle Lektion - ein Geheimpolizist durfte sich nicht darauf beschränken, nach staatsfeindlichen Äußerungen zu suchen. Viel wichtiger war es, wachsam auf Beteuerungen von Liebe und Loyalität zu achten, die nicht überzeugend wirkten.
Mit den Erfahrungen der letzten drei Jahre im Hinterkopf blätterte Leo das Tagebuch von Polina Peschkowa durch und bemerkte dabei, dass die Verdächtige für eine Künstlerin eine wenig elegante Handschrift besaß. Den ganzen Text hatte sie mit einem fest aufgedrückten, stumpfen Bleistift geschrieben, ohne ihn je anzuspitzen. Auf den Rückseiten der Blätter fuhr er mit der Fingerspitze über Sätze, die wie Brailleschrift hervorstanden. Er hielt das Tagebuch an die Nase. Es roch nach Ruß. Wenn er mit dem Daumen über die Seiten strich, knisterten sie wie trockenes Herbstlaub. Er roch an dem Buch, sah es genau an und wog es in der Hand - er untersuchte es auf jede mögliche Art, ohne es tatsächlich zu lesen. Den Bericht über den Inhalt des Tagebuchs überließ er der Nachwuchskraft, die ihm zugeteilt war. Als Leo vor Kurzem befördert wurde, hatte er damit auch die Aufgabe übernommen, neue Agenten zu betreuen. Er war vom Schüler zum Mentor geworden. Die neuen Agenten begleiteten ihn während seines Arbeitstags und bei nächtlichen Verhaftungen, sammelten Erfahrung und lernten von ihm, bis sie eigene Fälle übernehmen konnten.
Grigori Semitschastny war dreiundzwanzig Jahre alt und der fünfte Agent, den Leo angelernt hatte. Von allen war er der vielleicht intelligenteste und ohne Zweifel der am wenigsten vielversprechende. Er stellte zu viele Fragen und hinterfragte zu viele Antworten. Er lächelte, wenn er etwas amüsant fand, und runzelte die Stirn, wenn ihn etwas ärgerte. Ein Blick auf sein Gesicht genügte, um zu wissen, was er dachte. Er war noch während des Studiums an der Moskauer Universität angeworben worden, ein herausragender junger Mann, der im Gegensatz zu seinem Mentor einen akademischen Hintergrund besaß. Leo war deswegen nicht eifersüchtig, er wusste nur zu gut, dass ihm ein ernsthaftes Studium nicht lag. Da er seine eigenen Schwächen so klar einschätzen konnte, begriff er umso weniger, warum sein Protegé einen Beruf gewählt hatte, der absolut nicht zu ihm passte. Grigori war für seine Arbeit so ungeeignet, dass Leo sogar erwogen hatte, ihm einen ganz anderen Job nahezulegen. Aber so ein abrupter Wechsel war immer verdächtig und würde den Mann in den Augen des Staates höchstwahrscheinlich unfähig erscheinen lassen. Für Grigori war der einzig gangbare Weg, sich weiter zu mühen, und Leo empfand es als seine Pflicht, ihm so gut wie möglich dabei zu helfen.
Grigori ging konzentriert das Tagebuch durch, er blätterte vor und zurück, als würde er nach etwas Bestimmtem suchen. Schließlich blickte er auf und sagte:
- Im Tagebuch steht nichts.
Leo wusste nur zu gut, wie es ihm als Neuling ergangen war, deshalb war er über diese Antwort nicht besonders überrascht, trotzdem enttäuschte ihn das Versagen seines Protegés. Er antwortete:
- Nichts?
Grigori nickte.
- Nichts Wichtiges.
Das war unwahrscheinlich. Vielleicht enthielt es keine offene Provokation, aber die Dinge, die in einem Tagebuch nicht erwähnt wurden, waren genauso wichtig wie das tatsächlich Niedergeschriebene. Leo beschloss, diese Weisheiten mit seinem Schützling zu teilen, und stand auf.
- Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte. Ein junger Mann hat einmal in sein Tagebuch geschrieben, er sei unerklärlich traurig. Der Eintrag stammte vom 23. August. Und zwar im Jahr 1949.Was schließt du daraus?
Grigori zuckte mit den Schultern.
- Nicht viel.
Leo stürzte sich sofort auf diese Schlussfolgerung:
- Wann wurde der Nichtangriffspakt zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion geschlossen?
- Im August 1939.
- Am 23. August 1939. Das heißt, dieser Mann war am zehnten Jahrestag dieses Vertrages unerklärlich traurig. Weil er außerdem mit keinem Wort die Soldaten geehrt hat, die den Faschismus besiegt haben, oder Stalins militärische Verdienste, wurde seine Traurigkeit als unangemessene Kritik an unserer Außenpolitik interpretiert. Warum über Fehler nachgrübeln, statt stolz zu sein? Verstehst du?
- Vielleicht hatte es gar nichts mit dem Vertrag zu tun. Wir fühlen uns alle mal traurig oder einsam oder melancholisch. Wir sehen nicht jedes Mal auf den historischen Kalender, wenn wir uns so fühlen.
Leo wurde ärgerlich.
- Vielleicht hatte es nichts mit dem Vertrag zu tun? Vielleicht gibt es gar keine Feinde? Vielleicht lieben alle Bürger unseren Staat? Vielleicht gibt es niemanden, der unsere Arbeit unterminieren will? Unsere Aufgabe ist es, Schuld zu beweisen, und nicht, naiv darauf zu vertrauen, dass keine vorliegt.
Grigori merkte, wie wütend Leo war, und dachte nach. Dann formulierte er seine Antwort ungewohnt diplomatisch um, so dass sie weniger provozierend klang, aber an seinen Schlussfolgerungen festhielt:
- Polinas Tagebuch enthält gewöhnliche Beobachtungen über ihren Alltag. Soweit meine Fähigkeiten es erlauben, sehe ich nichts, was gegen sie spricht. So lautet mein Ergebnis.
Die Künstlerin, die Grigori so formlos bei ihrem Vornamen nannte, wie Leo nicht entgangen war, sollte eine Reihe öffentlicher Wandgemälde entwerfen und ausführen. Weil bei Künstlern immer das Risiko bestand, dass sie etwas unterschwellig Subversives produzierten, ein Kunstwerk mit einer versteckten Bedeutung, führte das MGB Routinekontrollen durch. Die Überlegung war einfach. Wenn ihr Tagebuch nichts Subversives enthielt, würde ihre Kunst das wahrscheinlich auch nicht tun. Eine nebensächliche Aufgabe, genau richtig für einen Anfänger.
Der erste Tag war gut gelaufen: Grigori hatte das Tagebuch gefunden, während Peschkowa in ihrem Atelier arbeitete. Nach seiner Durchsuchung hatte er das Beweisstück zurück in sein Versteck im Kamin gelegt, damit Peschkowa nichts von ihrer Überwachung merkte. Als er Bericht erstattete, hatte Leo kurz überlegt, ob für den jungen Mann nicht doch noch Hoffnung bestand; einen rußigen Fingerabdruck als Hinweis zu erkennen war bewundernswert. In den nächsten vier Tagen hielt Grigori die Frau unter ständiger Bewachung und investierte viel mehr Zeit als nötig. Trotz der zusätzlichen Arbeit lieferte er keine Berichte mehr und teilte auch keine Beobachtungen mit. Jetzt behauptete er, das Tagebuch sei wertlos.
Leo nahm ihm das Tagebuch ab. Er spürte, wie ungern Grigori die Seiten aus der Hand gab. Zum ersten Mal las er selbst darin. Nach einem Blick gab er zu, dass der Inhalt schwerlich so provokativ war, wie das ausgeklügelte Versteck hinter dem Feuer es hatte vermuten lassen. Weil er daraus noch nicht schließen wollte, dass die Verdächtige unschuldig war, blätterte er weiter zum Ende und las die letzten Einträge aus den fünf Tagen, in denen Grigori sie beobachtet hatte. Die Verdächtigte beschrieb darin, wie sie zum ersten Mal mit einem Nachbarn ins Gespräch gekommen war, der in dem Haus auf der anderen Straßenseite wohnte. Sie hatte ihn noch nie gesehen, aber der Mann war auf sie zugekommen, und sie hatten sich auf der Straße unterhalten. Sie schrieb, der Mann habe Humor, und sie hoffte, sie würde ihn irgendwann wiedersehen, bevor sie verschämt hinzufügte, dass sie ihn attraktiv fand.
Hat er mir gesagt, wie er heißt? Ich weiß es nicht mehr. Er hat es bestimmt getan. Wieso bin ich nur so vergesslich? Ich war abgelenkt. Ich wünschte, ich könnte mich an seinen Namen erinnern. Jetzt ist er bestimmt beleidigt, wenn wir uns noch einmal sehen. Falls wir uns noch einmal sehen, was ich hoffe.
Leo blätterte die Seite um. Am nächsten Tag wurde ihr Wunsch erfüllt, sie lief dem Mann wieder über den Weg. Sie entschuldigte sich für ihr schlechtes Gedächtnis und bat ihn, ihr noch einmal seinen Namen zu nennen. Er sagte, er würde Isaac heißen, dann gingen sie zusammen weiter und unterhielten sich so ungezwungen, als wären sie schon seit Jahren befreundet. Durch einen glücklichen Zufall war Isaac in die gleiche Richtung unterwegs. Als sie ihr Atelier erreichte, verabschiedete sie sich nur widerwillig von ihm. Ihrem Eintrag zufolge sehnte sie sich schon nach ihrem nächsten Treffen, als er gerade gegangen war.
Ist das Liebe? Nein, natürlich nicht. Aber vielleicht fängt so die Liebe an?
Fängt so die Liebe an? - Das war sentimental und passte zum etwas überspannten Naturell einer Frau, die ein unbedenkliches Tagebuch führte, aber es so sorgfältig versteckte, als ginge es darin um Verrat und Intrigen. Was für ein albernes und gefährliches Vorgehen. Leo brauchte keine Beschreibung des freundlichen jungen Mannes, um zu wissen, wer er war. Er hob den Blick zu seinem Protegé und fragte:
- Isaac?
Grigori zögerte. Dann entschied er sich gegen eine Lüge und gab zu:
- Ich dachte, ein Gespräch könnte nützlich sein, um sie richtig einzuschätzen.
- Du solltest ihre Wohnung durchsuchen und sie observieren. Ohne direkten Kontakt. Vielleicht hat sie geahnt, dass du zum MGB gehörst. Dann hätte sie ihr Verhalten ändern können, um dich zu täuschen.
Grigori schüttelte den Kopf.
- Sie hat keinen Verdacht geschöpft.
Leo ärgerten diese Anfängerfehler:
- Das weißt du nur aus ihrem Tagebuch. Dabei könnte sie das Original vernichtet und es mit diesen belanglosen Beobachtungen ersetzt haben, weil sie wusste, dass sie überwacht wird.
Als Grigori das hörte, gab er den kurzen Versuch auf, diplomatisch zu sein; wie ein Schiff, das an Felsen zerschellte, war es mit seiner Zurückhaltung unvermittelt vorbei. Seine spöttische Antwort klang ungewöhnlich anmaßend:
- Sie soll das ganze Tagebuch gefälscht haben, nur um uns zu täuschen? So denkt sie nicht. Sie denkt nicht wie wir. Das ist unmöglich.
Widerspruch von einem jungen Untergebenen, einem Agenten, der seinen Aufgaben nicht gewachsen war - Leo war ein geduldiger Mann, toleranter als die meisten anderen Offiziere, aber Grigori stellte seine Geduld wirklich auf die Probe.
- Gerade die Menschen, die unschuldig wirken, sollten wir oft besonders genau beobachten. Grigori sah Leo beinahe mitleidig an. Ausnahmsweise passte sein Gesichtsausdruck nicht zu seiner Antwort.
- Du hast Recht, ich hätte nicht mit ihr reden sollen. Aber sie ist ein guter Mensch. Da bin ich mir sicher. In ihrer Wohnung und in allem, was sie tut, habe ich nichts gefunden, was darauf hinweisen würde, dass sie keine treue Bürgerin ist. Das Tagebuch ist unbedenklich. Es ist nicht nötig, Polina Peschkowa zu einer Befragung zu holen. Sie sollte ihre Arbeit als Künstlerin weiterführen dürfen, darin ist sie hervorragend. Ich kann das Tagebuch immer noch zurückbringen, bevor sie von der Arbeit kommt. Sie muss von dieser Untersuchung nichts erfahren. Leo warf einen Blick auf das Foto, das am Aktendeckel klemmte. Die Frau war schön. Grigori war in sie vernarrt. Hatte sie ihn bezirzt, um nicht verdächtigt zu werden? Hatte sie etwas über Liebe geschrieben, weil sie wusste, dass er diese Zeilen lesen würde? Wollte sie so seinen Beschützerinstinkt wecken? Leo musste diese Liebeserklärung gründlich prüfen. Er hatte keine andere Wahl, als das Tagebuch Zeile für Zeile zu lesen. Dem Wort seines Protegés konnte er nicht mehr vertrauen. Die Liebe hatte ihn fehlbar gemacht.
Die Einträge zogen sich über mehr als hundert Seiten. Polina Peschkowa schrieb über ihre Arbeit und ihr Leben. Dabei schlug ihr Charakter deutlich durch: Ihr Stil war unstet, voller Abschweifungen, plötzlicher Einfälle und Erklärungen. Die Einträge sprangen von einem Thema zum nächsten, Gedankengänge wurden oft einfach abgebrochen. Es gab keine politischen Anmerkungen, alles drehte sich um alltägliche Dinge und ums Malen. Nachdem er das ganze Tagebuch gelesen hatte, konnte Leo nicht abstreiten, dass die Frau etwas Anziehendes besaß. Sie lachte oft über ihre Fehler, die sie mit scharfsichtiger Ehrlichkeit beschrieb. Diese Offenheit mochte erklären, warum sie ihr Tagebuch so sorgfältig versteckte. Es war sehr unwahrscheinlich, dass sie es als Tarnung gefälscht hatte. Mit diesem Gedanken bedeutete Leo Grigori, er solle sich setzen. Während Leo gelesen hatte, war Grigori die ganze Zeit stehen geblieben, als würde er Wache halten. Er war nervös. Grigori setzte sich auf die Stuhlkante. Leo fragte:
- Warum hat sie das Tagebuch versteckt, wenn sie unschuldig ist?
Als Grigori zu spüren glaubte, dass Leo ein wenig milder gestimmt war, wurde er aufgeregt. Schnell rasselte er eine mögliche Erklärung herunter:
- Sie wohnt mit ihrer Mutter und zwei kleinen Brüdern zusammen. Sie will nicht, dass sie darin herumschnüffeln. Vielleicht würden sie sich über Polina lustig machen. Sie spricht von Liebe, vielleicht sind ihr solche Gedanken peinlich. Mehr ist es nicht. Wir müssen doch erkennen, wenn etwas nicht wichtig ist. Leos Gedanken schweiften ab. Er konnte sich vorstellen, wie Grigori die junge Frau angesprochen hatte, aber es fiel ihm schwer, sich auszumalen, dass sie auf die Fragen eines Fremden freundlich reagieren würde. Warum hatte sie ihm nicht gesagt, er solle sie in Ruhe lassen? Eine solche Offenheit wirkte extrem unvorsichtig von ihr. Er beugte sich vor und sprach mit leiser Stimme, nicht aus Angst, jemand könnte mithören, sondern um zu zeigen, dass er nicht offiziell sprach, nicht als Offizier der Geheimpolizei.
- Was ist zwischen euch vorgefallen? Bist du auf sie zugegangen und hast einfach etwas gesagt? Und sie ...
Leo zögerte. Er wusste nicht, wie er den Satz beenden sollte. Schließlich fragte er holprig:
- Und sie ist darauf eingegangen ...?
Grigori schien nicht genau zu wissen, ob ihm ein Freund oder ein vorgesetzter Offizier die Frage stellte. Als ihm klar wurde, dass Leo tatsächlich neugierig war, antwortete er:
- Wie lernt man schon jemanden kennen? Man stellt sich vor. Ich habe über ihre Kunstwerke gesprochen. Ich habe ihr erzählt, ich hätte ein paar Bilder von ihr gesehen - das stimmt auch. Darüber sind wir ins Gespräch gekommen. Man konnte gut mit ihr reden, sie war nett.
Leo fand das erstaunlich.
- War sie nicht misstrauisch?
- Nein.
- Das hätte sie aber sein sollen.
Einen Moment lang hatten sie als Freunde über Herzensangelegenheiten gesprochen, jetzt waren sie wieder Agenten. Grigori ließ den Kopf hängen.
- Du hast recht, das hätte sie sein sollen ...
Er war nicht böse auf Leo. Er war wütend auf sich selbst. Seine Beziehung zu der Künstlerin baute auf einer Lüge auf, seine Zuneigung beruhte auf List und Täuschung.
Leo war selbst überrascht, als er Grigori das Tagebuch entgegenstreckte.
- Hier, nimm.
Grigori rührte sich nicht, er begriff nicht, was gerade passierte. Leo lächelte.
- Nimm es. Sie darf weiter als Künstlerin arbeiten. Es gibt keinen Grund, die Sache weiter zu verfolgen.
- Bist du sicher?
- Ich habe im Tagebuch nichts gefunden.
Grigori begriff, dass sie in Sicherheit war, und lächelte. Er zog Leo das Tagebuch aus der Hand. Als die Seiten unter Leos Fingern hinwegglitten, spürte er einen Umriss auf dem Papier - keinen Buchstaben, auch kein Wort, sondern eine Form, die er nicht gesehen hatte.
- Warte.
Leo nahm das Tagebuch wieder an sich, schlug die Seite auf und begutachtete die rechte obere Ecke. Sie war leer. Aber auf der Rückseite konnte er eingedrückte Linien ertasten. Etwas war dort ausradiert worden.
Er nahm einen Bleistift, fuhr mit der Mine flach über das Papier und enthüllte den Geist einer kleinen Kritzelei. Die Zeichnung war kaum größer als sein Daumen. Sie zeigte eine Frau mit Fackel auf einem Sockel, eine Statue. Leo starrte verständnislos auf die Skizze, bis ihm klar wurde, was sie zeigte. Es war ein amerikanisches Denkmal. Die Freiheitsstatue. Leo sah Grigori an.
Der stolperte über seine eigenen Worte.
- Sie ist Künstlerin. Sie zeichnet ständig irgendwas.
- Warum wurde das ausradiert?
Darauf konnte er nichts sagen.
- Hast du Beweise manipuliert?
Grigoris Antwort klang panisch.
- Als ich beim MGB anfing, hat man mir an meinem ersten Tag eine Geschichte über Lenins Sekretärin Fotiewa erzählt. Sie hat gesagt, Lenin hätte Feliks Dserschinski, den Leiter der Staatssicherheit, gefragt, wie viele Konterrevolutionäre er unter Arrest hat. Dserschinski gab ihm ein Blatt Papier mit der Zahl 1500 darauf. Lenin zeichnete ein Kreuz und gab ihm das Blatt zurück. Laut seiner Sekretärin war das Kreuz für Lenin ein Zeichen, dass er ein Dokument gelesen hatte. Dserschinski hat ihn jedoch falsch verstanden und ließ alle hinrichten. Deshalb musste ich das ausradieren. Man hätte die Zeichnung falsch verstehen können.
Leo fand den Vergleich unpassend. Er hatte genug gehört.
- Dserschinski war der Vater dieser Behörde. Dein Dilemma mit seinem zu vergleichen ist lächerlich. Wir dürfen uns keine Interpretation erlauben. Wir sind keine Richter. Wir können nicht entscheiden, ob wir Beweise vorlegen oder vernichten. Wenn sie unschuldig ist, wie du behauptest, wird sich das bei weiteren Befragungen herausstellen. Mit deinem fehlgeleiteten Versuch, sie zu beschützen, hast du dich selbst belastet.
- Leo, sie ist ein guter Mensch.
- Du bist von ihr besessen. Du kannst nicht mehr klar urteilen.
Leos Stimme war plötzlich schroff geworden. Als er sich selbst hörte, sprach er sanfter weiter:
- Der Beweis existiert noch, deshalb sehe ich keinen Grund, deinen Fehler offiziell zu melden. Er würde mit Sicherheit das Ende deiner Karriere bedeuten. Schreib deinen Bericht, markiere die Zeichnung als Beweisstück, und überlass die Entscheidung denen, die mehr Erfahrung haben. Dann fügte er hinzu:
- Und, Grigori, ich kann dich nicht noch einmal beschützen.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Wilhelm Goldmann Verlag,münchen, in der Verlagsgruppe Random house Gmbh
Aus Sicht der Geheimpolizei war es schon ein Verbrechen, ein Tagebuch zu verstecken, ganz egal, was darin stand. Damit versuchte ein Bürger, sein privates Leben vom öffentlichen zu trennen. In Wirklichkeit bestand zwischen beidem kein Unterschied. Die Partei hatte das Recht, über alles, was man dachte und machte, Bescheid zu wissen. Deshalb war ein verstecktes Tagebuch oft der belastendste Beweis, den sich ein Agent erhoffen konnte. Weil es nicht dafür gedacht war, gelesen zu werden, schrieb der Verfasser offen, was er dachte; er wurde unvorsichtiger und brachte ungefragt nichts anderes als ein Geständnis zu Papier. Diese ungeschminkte Ehrlichkeit erlaubte es, sich nicht nur über den Schreiber ein Urteil zu bilden, sondern auch über dessen Freunde und Familie. Manchmal förderte ein Tagebuch bis zu fünfzehn weitere Verdächtige zutage, fünfzehn neue Hinweise, und damit oft mehr als die eindringlichste Befragung.
Diese Untersuchung wurde von Agent Leo Demidow geleitet, siebenundzwanzig Jahre alt und ein dekorierter Soldat, den die Geheimpolizei nach dem Großen Vaterländischen Krieg angeworben hatte. Innerhalb des MGB, des Ministeriums für Staatssicherheit, war er durch eine Kombination von schlichtem Gehorsam, Glauben an den Staat, dem er diente, und einem extrem wachen Blick für Details aufgestiegen. Sein Pflichteifer beruhte nicht auf Ehrgeiz, sondern auf der aufrichtigen Verehrung seines Heimatlandes, des Landes, das den Faschismus besiegt hatte. Gutaussehend und ernsthaft wie er war, besaß er das Gesicht und den Geist eines Propagandaplakats, ein kantiges Kinn und geschwungene Lippen, auf denen stets eine Parole lag.
In seiner kurzen Karriere beim MGB hatte Leo die Sichtung von vielen hundert Tagebüchern überwacht und war Tausende von Einträgen durchgegangen. Er hatte unermüdlich jeden verfolgt, dem antisowjetische Agitation vorgeworfen wurde. An das erste Tagebuch, das er untersucht hatte, dachte er wie an eine erste Liebe zurück. Sein Mentor Nikolai Borisow hatte es ihm gegeben, und es hatte sich als schwieriger Fall erwiesen. Leo hatte auf den Seiten nichts Belastendes gefunden. Danach hatte sein Mentor das Tagebuch gelesen und die scheinbar unschuldige Bemerkung unterstrichen:
6. Dezember 1936: Gestern wurde Stalins neue Verfassung angenommen. Ich empfinde das Gleiche wie das ganze Land, d.h. vollkommene, unendliche Freude. Borisow las aus diesem Satz keine glaubhafte Freude heraus. Dem Schreiber ging es eher darum, seine Gefühle denen des restlichen Landes anzugleichen. Das war rein strategisch gedacht und zynisch, eine hohle Erklärung, die nur die Zweifel des Autors verbergen sollte. Benutzt jemand zum Ausdruck echter Freude eine Abkürzung - d.h. -, bevor er seine Emotionen beschreibt? Genau diese Frage wurde dem Verdächtigen anschließend im Verhör gestellt.
VERNEHMUNGSBEAMTER BORISOW: Wie fühlen Sie sich im Moment?
VERDÄCHTIGER: Ich habe nichts Unrechtes gemacht.
VERNEHMUNGSBEAMTER BORISOW: Das habe ich nicht gefragt, sondern: Wie fühlen Sie sich? VERDÄCHTIGER: Ich bin beunruhigt.
VERNEHMUNGSBEAMTER BORISOW: Natürlich, das ist völlig normal. Aber sehen Sie, Sie haben nicht gesagt: »Ich fühle mich, wie sich jeder in meiner Lage fühlen würde, d.h. beunruhigt.«
Der Mann bekam fünfzehn Jahre. Und Leo lernte eine wertvolle Lektion - ein Geheimpolizist durfte sich nicht darauf beschränken, nach staatsfeindlichen Äußerungen zu suchen. Viel wichtiger war es, wachsam auf Beteuerungen von Liebe und Loyalität zu achten, die nicht überzeugend wirkten.
Mit den Erfahrungen der letzten drei Jahre im Hinterkopf blätterte Leo das Tagebuch von Polina Peschkowa durch und bemerkte dabei, dass die Verdächtige für eine Künstlerin eine wenig elegante Handschrift besaß. Den ganzen Text hatte sie mit einem fest aufgedrückten, stumpfen Bleistift geschrieben, ohne ihn je anzuspitzen. Auf den Rückseiten der Blätter fuhr er mit der Fingerspitze über Sätze, die wie Brailleschrift hervorstanden. Er hielt das Tagebuch an die Nase. Es roch nach Ruß. Wenn er mit dem Daumen über die Seiten strich, knisterten sie wie trockenes Herbstlaub. Er roch an dem Buch, sah es genau an und wog es in der Hand - er untersuchte es auf jede mögliche Art, ohne es tatsächlich zu lesen. Den Bericht über den Inhalt des Tagebuchs überließ er der Nachwuchskraft, die ihm zugeteilt war. Als Leo vor Kurzem befördert wurde, hatte er damit auch die Aufgabe übernommen, neue Agenten zu betreuen. Er war vom Schüler zum Mentor geworden. Die neuen Agenten begleiteten ihn während seines Arbeitstags und bei nächtlichen Verhaftungen, sammelten Erfahrung und lernten von ihm, bis sie eigene Fälle übernehmen konnten.
Grigori Semitschastny war dreiundzwanzig Jahre alt und der fünfte Agent, den Leo angelernt hatte. Von allen war er der vielleicht intelligenteste und ohne Zweifel der am wenigsten vielversprechende. Er stellte zu viele Fragen und hinterfragte zu viele Antworten. Er lächelte, wenn er etwas amüsant fand, und runzelte die Stirn, wenn ihn etwas ärgerte. Ein Blick auf sein Gesicht genügte, um zu wissen, was er dachte. Er war noch während des Studiums an der Moskauer Universität angeworben worden, ein herausragender junger Mann, der im Gegensatz zu seinem Mentor einen akademischen Hintergrund besaß. Leo war deswegen nicht eifersüchtig, er wusste nur zu gut, dass ihm ein ernsthaftes Studium nicht lag. Da er seine eigenen Schwächen so klar einschätzen konnte, begriff er umso weniger, warum sein Protegé einen Beruf gewählt hatte, der absolut nicht zu ihm passte. Grigori war für seine Arbeit so ungeeignet, dass Leo sogar erwogen hatte, ihm einen ganz anderen Job nahezulegen. Aber so ein abrupter Wechsel war immer verdächtig und würde den Mann in den Augen des Staates höchstwahrscheinlich unfähig erscheinen lassen. Für Grigori war der einzig gangbare Weg, sich weiter zu mühen, und Leo empfand es als seine Pflicht, ihm so gut wie möglich dabei zu helfen.
Grigori ging konzentriert das Tagebuch durch, er blätterte vor und zurück, als würde er nach etwas Bestimmtem suchen. Schließlich blickte er auf und sagte:
- Im Tagebuch steht nichts.
Leo wusste nur zu gut, wie es ihm als Neuling ergangen war, deshalb war er über diese Antwort nicht besonders überrascht, trotzdem enttäuschte ihn das Versagen seines Protegés. Er antwortete:
- Nichts?
Grigori nickte.
- Nichts Wichtiges.
Das war unwahrscheinlich. Vielleicht enthielt es keine offene Provokation, aber die Dinge, die in einem Tagebuch nicht erwähnt wurden, waren genauso wichtig wie das tatsächlich Niedergeschriebene. Leo beschloss, diese Weisheiten mit seinem Schützling zu teilen, und stand auf.
- Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte. Ein junger Mann hat einmal in sein Tagebuch geschrieben, er sei unerklärlich traurig. Der Eintrag stammte vom 23. August. Und zwar im Jahr 1949.Was schließt du daraus?
Grigori zuckte mit den Schultern.
- Nicht viel.
Leo stürzte sich sofort auf diese Schlussfolgerung:
- Wann wurde der Nichtangriffspakt zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion geschlossen?
- Im August 1939.
- Am 23. August 1939. Das heißt, dieser Mann war am zehnten Jahrestag dieses Vertrages unerklärlich traurig. Weil er außerdem mit keinem Wort die Soldaten geehrt hat, die den Faschismus besiegt haben, oder Stalins militärische Verdienste, wurde seine Traurigkeit als unangemessene Kritik an unserer Außenpolitik interpretiert. Warum über Fehler nachgrübeln, statt stolz zu sein? Verstehst du?
- Vielleicht hatte es gar nichts mit dem Vertrag zu tun. Wir fühlen uns alle mal traurig oder einsam oder melancholisch. Wir sehen nicht jedes Mal auf den historischen Kalender, wenn wir uns so fühlen.
Leo wurde ärgerlich.
- Vielleicht hatte es nichts mit dem Vertrag zu tun? Vielleicht gibt es gar keine Feinde? Vielleicht lieben alle Bürger unseren Staat? Vielleicht gibt es niemanden, der unsere Arbeit unterminieren will? Unsere Aufgabe ist es, Schuld zu beweisen, und nicht, naiv darauf zu vertrauen, dass keine vorliegt.
Grigori merkte, wie wütend Leo war, und dachte nach. Dann formulierte er seine Antwort ungewohnt diplomatisch um, so dass sie weniger provozierend klang, aber an seinen Schlussfolgerungen festhielt:
- Polinas Tagebuch enthält gewöhnliche Beobachtungen über ihren Alltag. Soweit meine Fähigkeiten es erlauben, sehe ich nichts, was gegen sie spricht. So lautet mein Ergebnis.
Die Künstlerin, die Grigori so formlos bei ihrem Vornamen nannte, wie Leo nicht entgangen war, sollte eine Reihe öffentlicher Wandgemälde entwerfen und ausführen. Weil bei Künstlern immer das Risiko bestand, dass sie etwas unterschwellig Subversives produzierten, ein Kunstwerk mit einer versteckten Bedeutung, führte das MGB Routinekontrollen durch. Die Überlegung war einfach. Wenn ihr Tagebuch nichts Subversives enthielt, würde ihre Kunst das wahrscheinlich auch nicht tun. Eine nebensächliche Aufgabe, genau richtig für einen Anfänger.
Der erste Tag war gut gelaufen: Grigori hatte das Tagebuch gefunden, während Peschkowa in ihrem Atelier arbeitete. Nach seiner Durchsuchung hatte er das Beweisstück zurück in sein Versteck im Kamin gelegt, damit Peschkowa nichts von ihrer Überwachung merkte. Als er Bericht erstattete, hatte Leo kurz überlegt, ob für den jungen Mann nicht doch noch Hoffnung bestand; einen rußigen Fingerabdruck als Hinweis zu erkennen war bewundernswert. In den nächsten vier Tagen hielt Grigori die Frau unter ständiger Bewachung und investierte viel mehr Zeit als nötig. Trotz der zusätzlichen Arbeit lieferte er keine Berichte mehr und teilte auch keine Beobachtungen mit. Jetzt behauptete er, das Tagebuch sei wertlos.
Leo nahm ihm das Tagebuch ab. Er spürte, wie ungern Grigori die Seiten aus der Hand gab. Zum ersten Mal las er selbst darin. Nach einem Blick gab er zu, dass der Inhalt schwerlich so provokativ war, wie das ausgeklügelte Versteck hinter dem Feuer es hatte vermuten lassen. Weil er daraus noch nicht schließen wollte, dass die Verdächtige unschuldig war, blätterte er weiter zum Ende und las die letzten Einträge aus den fünf Tagen, in denen Grigori sie beobachtet hatte. Die Verdächtigte beschrieb darin, wie sie zum ersten Mal mit einem Nachbarn ins Gespräch gekommen war, der in dem Haus auf der anderen Straßenseite wohnte. Sie hatte ihn noch nie gesehen, aber der Mann war auf sie zugekommen, und sie hatten sich auf der Straße unterhalten. Sie schrieb, der Mann habe Humor, und sie hoffte, sie würde ihn irgendwann wiedersehen, bevor sie verschämt hinzufügte, dass sie ihn attraktiv fand.
Hat er mir gesagt, wie er heißt? Ich weiß es nicht mehr. Er hat es bestimmt getan. Wieso bin ich nur so vergesslich? Ich war abgelenkt. Ich wünschte, ich könnte mich an seinen Namen erinnern. Jetzt ist er bestimmt beleidigt, wenn wir uns noch einmal sehen. Falls wir uns noch einmal sehen, was ich hoffe.
Leo blätterte die Seite um. Am nächsten Tag wurde ihr Wunsch erfüllt, sie lief dem Mann wieder über den Weg. Sie entschuldigte sich für ihr schlechtes Gedächtnis und bat ihn, ihr noch einmal seinen Namen zu nennen. Er sagte, er würde Isaac heißen, dann gingen sie zusammen weiter und unterhielten sich so ungezwungen, als wären sie schon seit Jahren befreundet. Durch einen glücklichen Zufall war Isaac in die gleiche Richtung unterwegs. Als sie ihr Atelier erreichte, verabschiedete sie sich nur widerwillig von ihm. Ihrem Eintrag zufolge sehnte sie sich schon nach ihrem nächsten Treffen, als er gerade gegangen war.
Ist das Liebe? Nein, natürlich nicht. Aber vielleicht fängt so die Liebe an?
Fängt so die Liebe an? - Das war sentimental und passte zum etwas überspannten Naturell einer Frau, die ein unbedenkliches Tagebuch führte, aber es so sorgfältig versteckte, als ginge es darin um Verrat und Intrigen. Was für ein albernes und gefährliches Vorgehen. Leo brauchte keine Beschreibung des freundlichen jungen Mannes, um zu wissen, wer er war. Er hob den Blick zu seinem Protegé und fragte:
- Isaac?
Grigori zögerte. Dann entschied er sich gegen eine Lüge und gab zu:
- Ich dachte, ein Gespräch könnte nützlich sein, um sie richtig einzuschätzen.
- Du solltest ihre Wohnung durchsuchen und sie observieren. Ohne direkten Kontakt. Vielleicht hat sie geahnt, dass du zum MGB gehörst. Dann hätte sie ihr Verhalten ändern können, um dich zu täuschen.
Grigori schüttelte den Kopf.
- Sie hat keinen Verdacht geschöpft.
Leo ärgerten diese Anfängerfehler:
- Das weißt du nur aus ihrem Tagebuch. Dabei könnte sie das Original vernichtet und es mit diesen belanglosen Beobachtungen ersetzt haben, weil sie wusste, dass sie überwacht wird.
Als Grigori das hörte, gab er den kurzen Versuch auf, diplomatisch zu sein; wie ein Schiff, das an Felsen zerschellte, war es mit seiner Zurückhaltung unvermittelt vorbei. Seine spöttische Antwort klang ungewöhnlich anmaßend:
- Sie soll das ganze Tagebuch gefälscht haben, nur um uns zu täuschen? So denkt sie nicht. Sie denkt nicht wie wir. Das ist unmöglich.
Widerspruch von einem jungen Untergebenen, einem Agenten, der seinen Aufgaben nicht gewachsen war - Leo war ein geduldiger Mann, toleranter als die meisten anderen Offiziere, aber Grigori stellte seine Geduld wirklich auf die Probe.
- Gerade die Menschen, die unschuldig wirken, sollten wir oft besonders genau beobachten. Grigori sah Leo beinahe mitleidig an. Ausnahmsweise passte sein Gesichtsausdruck nicht zu seiner Antwort.
- Du hast Recht, ich hätte nicht mit ihr reden sollen. Aber sie ist ein guter Mensch. Da bin ich mir sicher. In ihrer Wohnung und in allem, was sie tut, habe ich nichts gefunden, was darauf hinweisen würde, dass sie keine treue Bürgerin ist. Das Tagebuch ist unbedenklich. Es ist nicht nötig, Polina Peschkowa zu einer Befragung zu holen. Sie sollte ihre Arbeit als Künstlerin weiterführen dürfen, darin ist sie hervorragend. Ich kann das Tagebuch immer noch zurückbringen, bevor sie von der Arbeit kommt. Sie muss von dieser Untersuchung nichts erfahren. Leo warf einen Blick auf das Foto, das am Aktendeckel klemmte. Die Frau war schön. Grigori war in sie vernarrt. Hatte sie ihn bezirzt, um nicht verdächtigt zu werden? Hatte sie etwas über Liebe geschrieben, weil sie wusste, dass er diese Zeilen lesen würde? Wollte sie so seinen Beschützerinstinkt wecken? Leo musste diese Liebeserklärung gründlich prüfen. Er hatte keine andere Wahl, als das Tagebuch Zeile für Zeile zu lesen. Dem Wort seines Protegés konnte er nicht mehr vertrauen. Die Liebe hatte ihn fehlbar gemacht.
Die Einträge zogen sich über mehr als hundert Seiten. Polina Peschkowa schrieb über ihre Arbeit und ihr Leben. Dabei schlug ihr Charakter deutlich durch: Ihr Stil war unstet, voller Abschweifungen, plötzlicher Einfälle und Erklärungen. Die Einträge sprangen von einem Thema zum nächsten, Gedankengänge wurden oft einfach abgebrochen. Es gab keine politischen Anmerkungen, alles drehte sich um alltägliche Dinge und ums Malen. Nachdem er das ganze Tagebuch gelesen hatte, konnte Leo nicht abstreiten, dass die Frau etwas Anziehendes besaß. Sie lachte oft über ihre Fehler, die sie mit scharfsichtiger Ehrlichkeit beschrieb. Diese Offenheit mochte erklären, warum sie ihr Tagebuch so sorgfältig versteckte. Es war sehr unwahrscheinlich, dass sie es als Tarnung gefälscht hatte. Mit diesem Gedanken bedeutete Leo Grigori, er solle sich setzen. Während Leo gelesen hatte, war Grigori die ganze Zeit stehen geblieben, als würde er Wache halten. Er war nervös. Grigori setzte sich auf die Stuhlkante. Leo fragte:
- Warum hat sie das Tagebuch versteckt, wenn sie unschuldig ist?
Als Grigori zu spüren glaubte, dass Leo ein wenig milder gestimmt war, wurde er aufgeregt. Schnell rasselte er eine mögliche Erklärung herunter:
- Sie wohnt mit ihrer Mutter und zwei kleinen Brüdern zusammen. Sie will nicht, dass sie darin herumschnüffeln. Vielleicht würden sie sich über Polina lustig machen. Sie spricht von Liebe, vielleicht sind ihr solche Gedanken peinlich. Mehr ist es nicht. Wir müssen doch erkennen, wenn etwas nicht wichtig ist. Leos Gedanken schweiften ab. Er konnte sich vorstellen, wie Grigori die junge Frau angesprochen hatte, aber es fiel ihm schwer, sich auszumalen, dass sie auf die Fragen eines Fremden freundlich reagieren würde. Warum hatte sie ihm nicht gesagt, er solle sie in Ruhe lassen? Eine solche Offenheit wirkte extrem unvorsichtig von ihr. Er beugte sich vor und sprach mit leiser Stimme, nicht aus Angst, jemand könnte mithören, sondern um zu zeigen, dass er nicht offiziell sprach, nicht als Offizier der Geheimpolizei.
- Was ist zwischen euch vorgefallen? Bist du auf sie zugegangen und hast einfach etwas gesagt? Und sie ...
Leo zögerte. Er wusste nicht, wie er den Satz beenden sollte. Schließlich fragte er holprig:
- Und sie ist darauf eingegangen ...?
Grigori schien nicht genau zu wissen, ob ihm ein Freund oder ein vorgesetzter Offizier die Frage stellte. Als ihm klar wurde, dass Leo tatsächlich neugierig war, antwortete er:
- Wie lernt man schon jemanden kennen? Man stellt sich vor. Ich habe über ihre Kunstwerke gesprochen. Ich habe ihr erzählt, ich hätte ein paar Bilder von ihr gesehen - das stimmt auch. Darüber sind wir ins Gespräch gekommen. Man konnte gut mit ihr reden, sie war nett.
Leo fand das erstaunlich.
- War sie nicht misstrauisch?
- Nein.
- Das hätte sie aber sein sollen.
Einen Moment lang hatten sie als Freunde über Herzensangelegenheiten gesprochen, jetzt waren sie wieder Agenten. Grigori ließ den Kopf hängen.
- Du hast recht, das hätte sie sein sollen ...
Er war nicht böse auf Leo. Er war wütend auf sich selbst. Seine Beziehung zu der Künstlerin baute auf einer Lüge auf, seine Zuneigung beruhte auf List und Täuschung.
Leo war selbst überrascht, als er Grigori das Tagebuch entgegenstreckte.
- Hier, nimm.
Grigori rührte sich nicht, er begriff nicht, was gerade passierte. Leo lächelte.
- Nimm es. Sie darf weiter als Künstlerin arbeiten. Es gibt keinen Grund, die Sache weiter zu verfolgen.
- Bist du sicher?
- Ich habe im Tagebuch nichts gefunden.
Grigori begriff, dass sie in Sicherheit war, und lächelte. Er zog Leo das Tagebuch aus der Hand. Als die Seiten unter Leos Fingern hinwegglitten, spürte er einen Umriss auf dem Papier - keinen Buchstaben, auch kein Wort, sondern eine Form, die er nicht gesehen hatte.
- Warte.
Leo nahm das Tagebuch wieder an sich, schlug die Seite auf und begutachtete die rechte obere Ecke. Sie war leer. Aber auf der Rückseite konnte er eingedrückte Linien ertasten. Etwas war dort ausradiert worden.
Er nahm einen Bleistift, fuhr mit der Mine flach über das Papier und enthüllte den Geist einer kleinen Kritzelei. Die Zeichnung war kaum größer als sein Daumen. Sie zeigte eine Frau mit Fackel auf einem Sockel, eine Statue. Leo starrte verständnislos auf die Skizze, bis ihm klar wurde, was sie zeigte. Es war ein amerikanisches Denkmal. Die Freiheitsstatue. Leo sah Grigori an.
Der stolperte über seine eigenen Worte.
- Sie ist Künstlerin. Sie zeichnet ständig irgendwas.
- Warum wurde das ausradiert?
Darauf konnte er nichts sagen.
- Hast du Beweise manipuliert?
Grigoris Antwort klang panisch.
- Als ich beim MGB anfing, hat man mir an meinem ersten Tag eine Geschichte über Lenins Sekretärin Fotiewa erzählt. Sie hat gesagt, Lenin hätte Feliks Dserschinski, den Leiter der Staatssicherheit, gefragt, wie viele Konterrevolutionäre er unter Arrest hat. Dserschinski gab ihm ein Blatt Papier mit der Zahl 1500 darauf. Lenin zeichnete ein Kreuz und gab ihm das Blatt zurück. Laut seiner Sekretärin war das Kreuz für Lenin ein Zeichen, dass er ein Dokument gelesen hatte. Dserschinski hat ihn jedoch falsch verstanden und ließ alle hinrichten. Deshalb musste ich das ausradieren. Man hätte die Zeichnung falsch verstehen können.
Leo fand den Vergleich unpassend. Er hatte genug gehört.
- Dserschinski war der Vater dieser Behörde. Dein Dilemma mit seinem zu vergleichen ist lächerlich. Wir dürfen uns keine Interpretation erlauben. Wir sind keine Richter. Wir können nicht entscheiden, ob wir Beweise vorlegen oder vernichten. Wenn sie unschuldig ist, wie du behauptest, wird sich das bei weiteren Befragungen herausstellen. Mit deinem fehlgeleiteten Versuch, sie zu beschützen, hast du dich selbst belastet.
- Leo, sie ist ein guter Mensch.
- Du bist von ihr besessen. Du kannst nicht mehr klar urteilen.
Leos Stimme war plötzlich schroff geworden. Als er sich selbst hörte, sprach er sanfter weiter:
- Der Beweis existiert noch, deshalb sehe ich keinen Grund, deinen Fehler offiziell zu melden. Er würde mit Sicherheit das Ende deiner Karriere bedeuten. Schreib deinen Bericht, markiere die Zeichnung als Beweisstück, und überlass die Entscheidung denen, die mehr Erfahrung haben. Dann fügte er hinzu:
- Und, Grigori, ich kann dich nicht noch einmal beschützen.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Wilhelm Goldmann Verlag,münchen, in der Verlagsgruppe Random house Gmbh
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Autoren-Porträt von Tom Rob Smith
Tom Rob Smith wurde 1979 als Sohn einer schwedischen Mutter und eines englischen Vaters in London geboren, wo er auch heute noch lebt. Er studierte in Cambridge und Italien und arbeitete anschließend als Drehbuchautor. Mit seinem Debüt »Kind 44« gelang Tom Rob Smith auf Anhieb ein internationaler Bestseller. Der in der Stalin-Ära angesiedelte Thriller basiert auf dem wahren Fall des Serienkillers Andrej Chikatilo und wurde u. a. mit dem »Steel Dagger« ausgezeichnet, für den »Man Booker Prize« nominiert und bisher in dreißig Sprachen übersetzt. Nach »Kind 44« und »Kolyma« schloss der Autor seine Trilogie um den Geheimdienstoffizier Leo Demidow mit dem Roman "Agent 6" ab.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tom Rob Smith
- 2013, 544 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Eva Kemper
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442475031
- ISBN-13: 9783442475032
- Erscheinungsdatum: 12.02.2013
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