Am Anfang war die Nacht Musik
Roman. Ausgezeichnet mit dem Hertha-Koenig-Literaturpreis 2011
Wien, 1777. Franz Anton Mesmer ist der wohl berühmteste Arzt seiner Zeit, als man ihm einen scheinbar hoffnungslosen Fall überträgt: Er soll das Wunderkind Maria Theresia heilen, eine blinde Pianistin und Sängerin. Als Franz Anton Mesmer...
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Produktinformationen zu „Am Anfang war die Nacht Musik “
Klappentext zu „Am Anfang war die Nacht Musik “
Wien, 1777. Franz Anton Mesmer ist der wohl berühmteste Arzt seiner Zeit, als man ihm einen scheinbar hoffnungslosen Fall überträgt: Er soll das Wunderkind Maria Theresia heilen, eine blinde Pianistin und Sängerin. Als Franz Anton Mesmer das blinde Mädchen in sein magnetisches Spital aufnimmt, ist sie zuvor von unzähligen Ärzten beinahe zu Tode kuriert worden. Mesmer ist überzeugt, ihr endlich helfen zu können, und hofft insgeheim, durch diesen spektakulären Fall die ersehnte Anerkennung der akademischen Gesellschaften zu erlangen. Auch über ihre gemeinsame tiefe Liebe zur Musik lernen Arzt und Patientin einander verstehen, und bald gibt es erste Heilerfolge ... In ihrer hochmusikalischen Sprache nimmt Alissa Walser uns mit auf eine einzigartige literarische Reise. Ein Roman von bestrickender Schönheit über Krankheit und Gesundheit, über Musik und Wissenschaft, über die fünf Sinne, über Männer und Frauen oder ganz einfach über das Menschsein.
Lese-Probe zu „Am Anfang war die Nacht Musik “
Am Anfang war die Nacht Musik von Alissa Walser Roman Erstes Kapitel
20. Januar 1777
An diesem Wintermorgen geht der bekannteste Arzt der Stadt, verfolgt von seinem Hund, die Treppe vom Schlaftrakt zu seinen Praxisräumen hinab. Die honigbraunen Stufen erlauben bequeme Schritte und den Hundepfoten einen mühelos rhythmischen Trab. In diesem Haus gibt es keine steilen, schmalen Stiegen. Wie früher, im Haus seiner Eltern. Wo er stets durch eine Luke in den Dielen wie auf einer Leiter in den unteren Stock hinunterkletterte wenn er nicht fiel und sich dabei blaue Flecken holte. Natürlich wäre er lieber im Bett geblieben. Draußen ist es stockdunkel und kalt. Doch steht ein wichtiger Krankenbesuch an, vielleicht der wichtigste seiner Laufbahn: Er soll die blinde Tochter des kaiserlich-königlichen Hofbeamten Paradis untersuchen.
... mehr
Frau Hofsekretär hat um einen Hausbesuch gebeten. Des Aufstiegs wegen ist er so früh auf den Beinen. Und steigt diese Treppe hinab, die zu keinem Frühaufsteher passt. Die üppige Breite, die nur angedeutete Spirale ein nicht ganz zu Ende gedachtes Schneckenhaus erinnern an eine Harmonie, die höchstens der Ausgeschlafene empfindet. Ist er nicht. Und dass Kaline, das Hausmädchen, Lampen und Ofen angezündet hat, ist nur ein schwacher Trost, solange sie selbst sich nicht blicken lässt. Wenn er wenigstens musizieren dürfte. Da wohnt er nun seit seiner Heirat in diesem prächtigsten aller Häuser, mit so vielen Zimmern, dass selbst sein Instrument ein eigenes hat, und darf jetzt trotzdem nicht spielen. Dabei fängt ein guter Tag immer mit Musik an. Fünf Minuten auf seiner Glasharmonika genügen. Mozart, Haydn oder Gluck oder einfach die Finger laufen lassen, bis sie selbst eine Melodie finden und leicht über die Tastatur fegen wie eine Katze, die im Schnee spielt. So leicht läuft dann auch der Tag.
Aber Anna, seine Frau, schläft, die Patienten schlafen, alle schlafen noch, das ganze Haus. Wahrscheinlich ist auch Kaline wieder eingeschlafen. Das sieht ihr ähnlich. Kaum lässt sie sich nieder, auf der Küchenbank neben dem Herd oder auf dem Hocker im Waschraum, sinkt sie in einen tiefen Schlaf. Vor zwei Tagen erst hat er sie in diesem Zustand sogar im Salon ertappt. Zurückgelehnt in eines der Kissen glich sie einem zierlichen Tier mit geschlossenen Augen. Oder einer schlanken Pflanze. Einer vom Schlaf überraschten Blüte. Gern hätte er länger auf ihre leicht gewölbten Lider geblickt. Geschlossene Augen haben etwas so Unschuldiges, Wehrloses. Doch er musste sie wecken. Seine Frau wurde in solchen Fällen schnell laut, viel zu laut für ein arglos schlafendes Mädchen. Er sagte ihren Namen, aber Kaline wachte nicht auf.
Hinfassen wollte er nicht, also blieb er stehen und fing an, ihr ins Gesicht zu blasen, bis sie die Augen aufschlug. Eher erstaunt als erschrocken, Entschuldigung murmelnd. Unbemerkt stand Anna in der Tür, und so wurde es doch noch sehr schnell sehr laut, so laut, dass an Schlafen überhaupt nicht mehr zu denken war. Das Schimpfen vertrieb jeglichen Schlaf in die hintersten Winkel des Hauses. Hinab in die dunklen Kellergewölbe. Und hoch hinauf, höher noch als die Zimmer der Bediensteten, in diese winzige Kammer direkt unterm Dach. Ein Stübchen wie von Spinnweben eingesponnen, wo die Fenster, der Tauben wegen, vernagelt blieben. Dort war der Schlaf noch Schlaf, dieser natürlichste Zustand des Menschen. Und der ihm am meisten entsprechende. Schließlich beginnt des Menschen Dasein im Schlaf. Und wozu hat die Natur ihn vorgesehen, wenn nicht dazu, ihr Dasein fortzuführen. Und welcher Zustand wäre hierfür geeigneter als der des Schlafs?
Mesmers eigene These: Man wacht, um zu essen und zu trinken, damit man ohne zu verhungern schlafen kann. Der Mensch wacht, um zu schlafen. Nur er nicht. Er schläft, um zu arbeiten. Er muss mit den Vögeln raus, nein, weit vor ihnen. Sein Tag beginnt, da träumt noch kein Vogel von noch keiner Sonne. Und was heißt hier Sonne, was Vogel. Wien im Januar. Weder Sonne noch Vögel. Krähen ja, Rabenvögel. Große schwarz-graue russische Krähen, in der Wiener Nebelsuppe kaum zu unterscheiden vom Steingrau der Häuser. Und wie sie ewig um Futter streiten. Was den Schlaf angeht, ist seine Frau überraschenderweise ganz und gar seiner Meinung. Anna behauptet sogar, Aufstehen vor zehn schädige die Gesundheit. Und ein Mensch mit geschädigter Gesundheit sei nicht nach Gottes Geschmack.
Und das in einem Ton, dass nicht einmal der Leibarzt der Kaiserin, Störck, wagen würde, ihrem Blick zu begegnen. Herr Prof. Dr. Anton von Störck. Der seine Studenten stets warnt vor dem Schlaf, vor dem Müßiggang. Und hatte sich der Student Mesmer nicht besonders angesprochen gefühlt von diesem Thema? Er, ein Student und über dreißig Jahre alt. Die Doktorarbeit erst mit dreiunddreißig. Der ewige Student, eine Gattung, über die seine Eltern oft gespottet hatten. Zu der sie auch ihn gerechnet hatten. Angenehm war das nicht. Er hatte tatsächlich eine Ewigkeit studiert. Erst Theologie und Mathematik, dann Jura und Philosophie, dann Medizin. Die bewährte Kombination. Mustergültig. Faulheit konnte ihm keiner vorwerfen. Auch wenn er immer gut geschlafen hat. Aber Professor Störck macht keinen Unterschied zwischen Schlafen und Faulenzen. So wie er keinen Unterschied macht zwischen Mesmers neuer Methode und dem, was irgendwelche Okkultisten, Astrologen und Scharlatane sich ausdenken.
Seine Doktorarbeit hatte Störck noch akzeptiert. Auch wenn er geschluckt hatte, als er den Titel las. De planetarum influxu in corpus humanum. Über den Einfluss der Planeten auf den menschlichen Körper. Bis Mesmer ihm erklärt hatte, dass es ihm nicht um Horoskope gehe, sondern um eine wissenschaftliche Untersuchung darüber, wie die Gestirne sich auf die Erde auswirkten. Am Ende hatte er den Baron halbwegs überzeugt. Zumindest setzte der seine Signatur unter die Arbeit. Seither durfte Mesmer sich Doktor der Medizin nennen.
Aber am frühen Morgen an Herrn von Störck denken! Miserabler kann ein Tag nicht beginnen, als mit dem Gedanken an seinen ehemaligen Professor. Dem er einst so sehr vertraute, dass er ihn, auf Wunsch Annas, sogar zum Trauzeugen machte. Jetzt wird er ihn nie wieder los. Und auch dieser Gedanke bleibt selten allein: Wie im wahren Leben vermehren sich das Unangenehme und das Unangenehme zu Unangenehmem. Was so früh am Morgen besonders unangenehm auf den Magen schlägt. Prof. Ingenhouse, der berühmte PockenImpfer aus London, fällt ihm ein, Mitglied der Königlichen Akademie. Zu Mesmers Entdeckung äußerte er öffentlich: Nur das Genie eines Engländers sei imstande, eine solche Entdeckung zu machen. Es könne sich also um nichts Wesentliches handeln. Und jetzt impft Mr. Ingeniös die Wiener gegen die Pocken! Ohne sich um die Folgen zu scheren.
Und Dr. Barth, der berühmte Starstecher, und wie sie alle heißen. Die ganze Mediziner-Mischpoke, die ihn nicht gelten lässt und seine neue Heilmethode schon gar nicht. Die ihn vernichten wollen. Jetzt, an diesem frühen Morgen an sie denken, denkt er, ist Selbstvergiftung. Gedanken, denkt er, sind wie Arznei. Falsch dosiert, und man geht zugrunde daran. Er trabt los, durch den großen Behandlungssaal. Der Hund, vor Freude über den Tempowechsel, springt an ihm hoch. Mit einer Hand wehrt er ihn ab, während die andere in der Tasche des Hausrocks nach dem Schlüssel zum Laboratorium tastet. Und ein Ledersäckchen findet es ist leer. Das Mädchen wüsste, wo der Schlüssel ist, aber wo ist das Mädchen. Ruft er sie, ruft er das ganze Haus wach. Leise fluchend gelangt er in den hinteren Flur: die Tür zum Laboratorium. Steht offen! Der Schlüssel zum geheimsten, zum wichtigsten Raum im Haus steckt im Schloss! Von innen. Weiß Gott, wer das verbrochen hat. Glück für Kaline, dass der Schlaf sie verschluckt hat.
Der Hund, wie immer vornweg, steht schon beim Fernrohr. Und wie er sich freut. Dieses mächtige Wedeln. Wie er lächelt. Sein lächelnder Hund. Wie lächerlich, denkt er und sieht Hundehaare durch die Luft schweben, Richtung Mikroskop! So gern er dieses freundliche Hundegesicht hat, er scheucht ihn hinaus. Dann wandert sein Blick die bekannten Geräte ab, das Fernrohr, die Elektrisiermaschine bis hin zu der Wand, an der, wie die Jagdtrophäen in der Försterstube seines Vaters früher, die Magnete hängen. Längliche, ovale, runde, nieren- und herzförmige. Ein Stück neben dem anderen füllen sie das Feld, lückenlos. Will heißen: Alle sind da, keiner fehlt. Er holt tief Luft. Nimmt einen frischen Arztkittel aus dem Schrank, dem Anlass entsprechend den hechtgrauen aus Seide. Den mit den goldenen Tressen. Dazu weiße Strümpfe. Er tauscht den Morgenrock gegen frische Sachen und tupft sich Blütenwasser auf die Stirn. Pflückt zwei ovale und den herzförmigen Magneten von der Wand, trägt sie zum Holztisch vor dem Fenster, reibt sie mit einem Seidentuch.
Die ganze Nacht hat es gestürmt und geschneit. Im Schein der Hoflampe sieht er, dass noch immer Schnee fällt. Vereinzelte winzige Flöckchen im Lichtkreis, als wollten sie nie zu Boden, ewig nur in der Luft tanzen. Wie Jungfer Ossine, von ihren Ängsten umhergewirbelt wie ein Flöckchen vom Wind. Bestimmt hat sie wieder so eine teuflische Nacht gehabt. Nachts war ich einsam. Und die Einsamkeit gewährte dem Teufel Einlass. Das sind ihre Worte. So drückt Jungfer Ossine aus, dass sie nicht besser sprechen kann als denken und nicht besser denken als ihre eigne Großmutter. Aber er, warum hat er ihre flockigen Formulierungen im Kopf. Es müsste umgekehrt sein. Sie müsste die seinen in sich herumtragen. Nichts ist, wie es sein soll an diesem frühen Morgen. Wörter von irgendwoher ziehen ihm wie selbstständig durch den Kopf. Er traut ihnen nicht. Wörter wie ohne Bodenhaftung. Aus alter, uralter Luft gegriffen. Ungenau. Unwahr. Wörter, die er übersetzen muss, um sich wiederzuerkennen. Wenn Jungfer Ossine vom Teufel erzählt, heißt das: Sie hat nicht schlafen können. Hat sich in ihrem Bett gewälzt
Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.deISBN 978-3-492-05361-7
2. Auflage 2010
© Piper Verlag GmbH, München 2010
Gesetzt aus der Dante und der Bureau Agency
Satz: Fagott, Ffm
Druck und Bindung: CPI Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
Aber Anna, seine Frau, schläft, die Patienten schlafen, alle schlafen noch, das ganze Haus. Wahrscheinlich ist auch Kaline wieder eingeschlafen. Das sieht ihr ähnlich. Kaum lässt sie sich nieder, auf der Küchenbank neben dem Herd oder auf dem Hocker im Waschraum, sinkt sie in einen tiefen Schlaf. Vor zwei Tagen erst hat er sie in diesem Zustand sogar im Salon ertappt. Zurückgelehnt in eines der Kissen glich sie einem zierlichen Tier mit geschlossenen Augen. Oder einer schlanken Pflanze. Einer vom Schlaf überraschten Blüte. Gern hätte er länger auf ihre leicht gewölbten Lider geblickt. Geschlossene Augen haben etwas so Unschuldiges, Wehrloses. Doch er musste sie wecken. Seine Frau wurde in solchen Fällen schnell laut, viel zu laut für ein arglos schlafendes Mädchen. Er sagte ihren Namen, aber Kaline wachte nicht auf.
Hinfassen wollte er nicht, also blieb er stehen und fing an, ihr ins Gesicht zu blasen, bis sie die Augen aufschlug. Eher erstaunt als erschrocken, Entschuldigung murmelnd. Unbemerkt stand Anna in der Tür, und so wurde es doch noch sehr schnell sehr laut, so laut, dass an Schlafen überhaupt nicht mehr zu denken war. Das Schimpfen vertrieb jeglichen Schlaf in die hintersten Winkel des Hauses. Hinab in die dunklen Kellergewölbe. Und hoch hinauf, höher noch als die Zimmer der Bediensteten, in diese winzige Kammer direkt unterm Dach. Ein Stübchen wie von Spinnweben eingesponnen, wo die Fenster, der Tauben wegen, vernagelt blieben. Dort war der Schlaf noch Schlaf, dieser natürlichste Zustand des Menschen. Und der ihm am meisten entsprechende. Schließlich beginnt des Menschen Dasein im Schlaf. Und wozu hat die Natur ihn vorgesehen, wenn nicht dazu, ihr Dasein fortzuführen. Und welcher Zustand wäre hierfür geeigneter als der des Schlafs?
Mesmers eigene These: Man wacht, um zu essen und zu trinken, damit man ohne zu verhungern schlafen kann. Der Mensch wacht, um zu schlafen. Nur er nicht. Er schläft, um zu arbeiten. Er muss mit den Vögeln raus, nein, weit vor ihnen. Sein Tag beginnt, da träumt noch kein Vogel von noch keiner Sonne. Und was heißt hier Sonne, was Vogel. Wien im Januar. Weder Sonne noch Vögel. Krähen ja, Rabenvögel. Große schwarz-graue russische Krähen, in der Wiener Nebelsuppe kaum zu unterscheiden vom Steingrau der Häuser. Und wie sie ewig um Futter streiten. Was den Schlaf angeht, ist seine Frau überraschenderweise ganz und gar seiner Meinung. Anna behauptet sogar, Aufstehen vor zehn schädige die Gesundheit. Und ein Mensch mit geschädigter Gesundheit sei nicht nach Gottes Geschmack.
Und das in einem Ton, dass nicht einmal der Leibarzt der Kaiserin, Störck, wagen würde, ihrem Blick zu begegnen. Herr Prof. Dr. Anton von Störck. Der seine Studenten stets warnt vor dem Schlaf, vor dem Müßiggang. Und hatte sich der Student Mesmer nicht besonders angesprochen gefühlt von diesem Thema? Er, ein Student und über dreißig Jahre alt. Die Doktorarbeit erst mit dreiunddreißig. Der ewige Student, eine Gattung, über die seine Eltern oft gespottet hatten. Zu der sie auch ihn gerechnet hatten. Angenehm war das nicht. Er hatte tatsächlich eine Ewigkeit studiert. Erst Theologie und Mathematik, dann Jura und Philosophie, dann Medizin. Die bewährte Kombination. Mustergültig. Faulheit konnte ihm keiner vorwerfen. Auch wenn er immer gut geschlafen hat. Aber Professor Störck macht keinen Unterschied zwischen Schlafen und Faulenzen. So wie er keinen Unterschied macht zwischen Mesmers neuer Methode und dem, was irgendwelche Okkultisten, Astrologen und Scharlatane sich ausdenken.
Seine Doktorarbeit hatte Störck noch akzeptiert. Auch wenn er geschluckt hatte, als er den Titel las. De planetarum influxu in corpus humanum. Über den Einfluss der Planeten auf den menschlichen Körper. Bis Mesmer ihm erklärt hatte, dass es ihm nicht um Horoskope gehe, sondern um eine wissenschaftliche Untersuchung darüber, wie die Gestirne sich auf die Erde auswirkten. Am Ende hatte er den Baron halbwegs überzeugt. Zumindest setzte der seine Signatur unter die Arbeit. Seither durfte Mesmer sich Doktor der Medizin nennen.
Aber am frühen Morgen an Herrn von Störck denken! Miserabler kann ein Tag nicht beginnen, als mit dem Gedanken an seinen ehemaligen Professor. Dem er einst so sehr vertraute, dass er ihn, auf Wunsch Annas, sogar zum Trauzeugen machte. Jetzt wird er ihn nie wieder los. Und auch dieser Gedanke bleibt selten allein: Wie im wahren Leben vermehren sich das Unangenehme und das Unangenehme zu Unangenehmem. Was so früh am Morgen besonders unangenehm auf den Magen schlägt. Prof. Ingenhouse, der berühmte PockenImpfer aus London, fällt ihm ein, Mitglied der Königlichen Akademie. Zu Mesmers Entdeckung äußerte er öffentlich: Nur das Genie eines Engländers sei imstande, eine solche Entdeckung zu machen. Es könne sich also um nichts Wesentliches handeln. Und jetzt impft Mr. Ingeniös die Wiener gegen die Pocken! Ohne sich um die Folgen zu scheren.
Und Dr. Barth, der berühmte Starstecher, und wie sie alle heißen. Die ganze Mediziner-Mischpoke, die ihn nicht gelten lässt und seine neue Heilmethode schon gar nicht. Die ihn vernichten wollen. Jetzt, an diesem frühen Morgen an sie denken, denkt er, ist Selbstvergiftung. Gedanken, denkt er, sind wie Arznei. Falsch dosiert, und man geht zugrunde daran. Er trabt los, durch den großen Behandlungssaal. Der Hund, vor Freude über den Tempowechsel, springt an ihm hoch. Mit einer Hand wehrt er ihn ab, während die andere in der Tasche des Hausrocks nach dem Schlüssel zum Laboratorium tastet. Und ein Ledersäckchen findet es ist leer. Das Mädchen wüsste, wo der Schlüssel ist, aber wo ist das Mädchen. Ruft er sie, ruft er das ganze Haus wach. Leise fluchend gelangt er in den hinteren Flur: die Tür zum Laboratorium. Steht offen! Der Schlüssel zum geheimsten, zum wichtigsten Raum im Haus steckt im Schloss! Von innen. Weiß Gott, wer das verbrochen hat. Glück für Kaline, dass der Schlaf sie verschluckt hat.
Der Hund, wie immer vornweg, steht schon beim Fernrohr. Und wie er sich freut. Dieses mächtige Wedeln. Wie er lächelt. Sein lächelnder Hund. Wie lächerlich, denkt er und sieht Hundehaare durch die Luft schweben, Richtung Mikroskop! So gern er dieses freundliche Hundegesicht hat, er scheucht ihn hinaus. Dann wandert sein Blick die bekannten Geräte ab, das Fernrohr, die Elektrisiermaschine bis hin zu der Wand, an der, wie die Jagdtrophäen in der Försterstube seines Vaters früher, die Magnete hängen. Längliche, ovale, runde, nieren- und herzförmige. Ein Stück neben dem anderen füllen sie das Feld, lückenlos. Will heißen: Alle sind da, keiner fehlt. Er holt tief Luft. Nimmt einen frischen Arztkittel aus dem Schrank, dem Anlass entsprechend den hechtgrauen aus Seide. Den mit den goldenen Tressen. Dazu weiße Strümpfe. Er tauscht den Morgenrock gegen frische Sachen und tupft sich Blütenwasser auf die Stirn. Pflückt zwei ovale und den herzförmigen Magneten von der Wand, trägt sie zum Holztisch vor dem Fenster, reibt sie mit einem Seidentuch.
Die ganze Nacht hat es gestürmt und geschneit. Im Schein der Hoflampe sieht er, dass noch immer Schnee fällt. Vereinzelte winzige Flöckchen im Lichtkreis, als wollten sie nie zu Boden, ewig nur in der Luft tanzen. Wie Jungfer Ossine, von ihren Ängsten umhergewirbelt wie ein Flöckchen vom Wind. Bestimmt hat sie wieder so eine teuflische Nacht gehabt. Nachts war ich einsam. Und die Einsamkeit gewährte dem Teufel Einlass. Das sind ihre Worte. So drückt Jungfer Ossine aus, dass sie nicht besser sprechen kann als denken und nicht besser denken als ihre eigne Großmutter. Aber er, warum hat er ihre flockigen Formulierungen im Kopf. Es müsste umgekehrt sein. Sie müsste die seinen in sich herumtragen. Nichts ist, wie es sein soll an diesem frühen Morgen. Wörter von irgendwoher ziehen ihm wie selbstständig durch den Kopf. Er traut ihnen nicht. Wörter wie ohne Bodenhaftung. Aus alter, uralter Luft gegriffen. Ungenau. Unwahr. Wörter, die er übersetzen muss, um sich wiederzuerkennen. Wenn Jungfer Ossine vom Teufel erzählt, heißt das: Sie hat nicht schlafen können. Hat sich in ihrem Bett gewälzt
Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.deISBN 978-3-492-05361-7
2. Auflage 2010
© Piper Verlag GmbH, München 2010
Gesetzt aus der Dante und der Bureau Agency
Satz: Fagott, Ffm
Druck und Bindung: CPI Clausen & Bosse, Leck
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Autoren-Porträt von Alissa Walser
Alissa Walser, geboren 1961, studierte in New York und Wien Malerei. Seit 1987 lebt sie als Übersetzerin und Malerin in Frankfurt am Main. Für ihre Erzählung "Geschenkt" wurden ihr 1992 der Ingeborg-Bachmann-Preis und der Bettina-von-Arnim-Preis verliehen. Als Übersetzerin hat Alissa Walser die Tagebücher von Sylvia Plath sowie Theaterstücke u. a. von Joyce Carol Oates, Edward Albee, Marsha Norman und Christopher Hampton ins Deutsche übertragen. 2009 erhielt sie für Ihre Übersetzung der Gedichte Sylvia Plaths den Paul-Scheerbart-Preis. Ihre eigenen Erzählungen wurden in englischer Übersetzung u.a. in literarischen Zeitungen wie Open City und Grand Street veröffentlicht.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alissa Walser
- 2010, 252 Seiten, Maße: 12 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492053610
- ISBN-13: 9783492053617
Rezension zu „Am Anfang war die Nacht Musik “
"Walser erzählt eine zeitlose Geschichte von Krankheit und Gesundheit, von der Schönheit des Hörens, vom Klang der Musik und von der heilenden Kraft warmer, freundlicher und helfender Hände.", Mittelbayerische Zeitung, 09.09.2015
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