Beweise, daß es böse ist / Commissario Brunetti Bd.13
Als die ebenso reiche wie unfreundliche Signora Battestini ermordet wird, trauert niemand um sie. Rasch fällt der Verdacht auf ihre Haushälterin. Als diese bei einem Unfall ums Leben kommt und eine große Geldsumme sowie gefälschte...
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Als die ebenso reiche wie unfreundliche Signora Battestini ermordet wird, trauert niemand um sie. Rasch fällt der Verdacht auf ihre Haushälterin. Als diese bei einem Unfall ums Leben kommt und eine große Geldsumme sowie gefälschte Papiere bei ihr gefunden werden, ist für Brunettis Urlaubsvertretung der Fall geklärt. Doch dann kommt der Commissario zurück und sieht das ganz anders.
Donna Leon wurde 1942 in New Jersey geboren. Mit 23 Jahren verließ sie ihre Heimat und lebte und arbeitete in Rom, London, der Schweiz und Saudi-Arabien. Seit 1981 wohnt sie - wie ihr Commissario - in Venedig.
LESEPROBE
1
Sie war ein altes Ekel, und er haßte sie. Da er Arzt war und sie seine Patientin, drückte dieser Haß auf sein Gewissen, wenn auch nicht so schwer, daß er sie darum weniger gehaßt hätte. Wer so boshaft, habgierig und zänkisch war wie Maria Grazia Battestini – die zudem unentwegt über ihre Beschwerden klagte und über die wenigen Menschen, die ihre Gesellschaft noch ertrugen –, für den fand schließlich niemand, nicht einmal die großmütigste Seele, mehr ein gutes Wort. Der Pfarrer hatte sie schon lange aufgegeben, und ihre Nachbarn äußerten sich ablehnend, ja manchmal unverhohlen feindselig über sie. Ihre Familie blieb nur noch um der Erbschaft willen mit ihr in Kontakt. Er aber war Arzt und mithin zu seiner allwöchentlichen Visite verpflichtet, die sich freilich inzwischen auf eine flüchtige Erkundigung nach ihrem Befinden beschränkte und auf das rasche Messen von Puls und Blutdruck. In den fünf Jahren, die er nun schon zu ihr kam, war sie ihm so zuwider geworden, daß er es irgendwann aufgab, gegen seine Enttäuschung über das Ausbleiben jeglicher Krankheitssymptome anzukämpfen. Sie war mittlerweile über achtzig; nach Aussehen und Gebaren hätte man ihr gut und gern zehn Jahre mehr gegeben, und doch würde sie ihn, ja sie alle miteinander überleben.
Er hatte einen Schlüssel und war es gewohnt, sich selbst einzulassen. Das Haus, ein dreistöckiges Gebäude, gehörte ihr allein. Und obwohl nur mehr ein Teil der zweiten Etage bewohnt war, erhielt sie in ihrer Bosheit und Raffgier die Fiktion aufrecht, sie würde alle Räumlichkeiten nutzen, bloß um zu verhindern, daß die Tochter ihrer Schwester Santina im Stockwerk über oder unter ihr
Er drehte den Schlüssel nach rechts, und weil venezianische Türen die Eigenart haben, nicht gleich beim ersten Versuch nachzugeben, zog er unwillkürlich die Klinke an. Dann stieß er die Tür auf und betrat den schummrigen Hausflur. Kein Sonnenstrahl durchdrang die verkrustete Schmutz- und Fettschicht, die sich jahrzehntelang auf den beiden schmalen Fenstern über dem Eingang abgelagert hatte. Dem Doktor fiel die schlechte Beleuchtung schon gar nicht mehr auf, und da Signora Battestini es seit Jahren nicht mehr die Treppe hinunter schaffte, würden die Fenster wohl auf absehbare Zeit ungeputzt bleiben. Die Feuchtigkeit, die in den Mauern nistete, hatte die Stromleitungen angegriffen, aber sie weigerte sich, einen Elektriker zu bezahlen, und so hatte er es sich abgewöhnt, den Lichtschalter zu betätigen.
Beschwingten Schrittes machte er sich auf den Weg nach oben. Für den heutigen Vormittag war dies sein letzter Hausbesuch; sobald er die alte Schreckschraube versorgt hatte, würde er sich einen Aperitif genehmigen und anschließend zum Mittagessen gehen. Er mußte erst wieder um fünf zur Sprechstunde in seine Praxis und war froh, daß ihm die Klagen seiner Patienten und der Anblick ihrer verbrauchten, aufgedunsenen Körper solange erspart bleiben würden.
Auf dem zweiten Treppenabsatz fiel ihm unversehens die neue Haushaltshilfe ein – wohl eine Rumänin, so jedenfalls hatte er die Alte verstanden, und es blieb ja keine lange genug, als daß er sich ihren Namen hätte merken können –, aber nun hoffte er, die neue würde eine Ausnahme machen. Seit ihrer Ankunft war die alte Xanthippe zumindest immer gewaschen und stank nicht mehr nach Urin. Im Lauf der Jahre hatte er die Mädchen kommen und gehen sehen; kommen, weil die Aussicht auf Arbeit und Lohn sie anlockte, auch wenn sie dafür eine Signora Battestini sauber halten und füttern und ihre unablässigen Beschimpfungen ertragen mußten; gehen, weil eine jede irgendwann so ausgelaugt war, daß selbst die bitterste Not nicht so schwer wog wie die boshaften Attacken der Alten.
Als wohlerzogener Mensch klopfte er an der Wohnungstür; eine Artigkeit, die sich eigentlich erübrigte, da der plärrende Fernseher, der bis auf die Straße hinaus zu hören war, sein Pochen gewiß übertönte: Selbst die jüngeren Ohren der Rumänin – wie hieß sie doch gleich? – bemerkten sein Kommen nur selten.
Er nahm den zweiten Schlüssel, drehte ihn zweimal im Schloß und betrat die Wohnung. Wenigstens war es jetzt reinlich hier. Einmal, ungefähr ein Jahr nach dem Tod ihres Sohnes, hatte sich über eine Woche lang niemand blikken lassen, und die alte Frau war ganz auf sich allein gestellt. Er erinnerte sich bis heute an den Gestank, der ihm entgegenschlug, als er beim nächsten seiner damals vierzehntägigen Besuche die Tür aufgesperrt hatte und in der Küche einen Tisch voller Schüsseln und Teller mit verdorbenen Speisen fand, die in der brütenden Julihitze vor sich hin faulten. Und an den Anblick des von Fettwülsten gepanzerten Körpers der Alten, wie sie nackt und mit Essensresten besudelt in einem Sessel vor dem ewig plärrenden Fernseher hockte. Damals war sie, vollkommen dehydriert und geistig verwirrt, im Krankenhaus gelandet, wo man ihrer freilich schon nach drei Tagen überdrüssig wurde und sie, ihrem eigenen Wunsch gemäß, nur zu gern nach Hause entließ. Dann war die Ukrainerin gekommen, die einen knappen Monat später mitsamt einem silbernen Serviertablett verschwand, und seine Visiten wurden auf einmal pro Woche erhöht. Ansonsten hatte sich nichts verändert: Das Herz der Alten schlug weiter, ihre Lunge sog unverdrossen die stickige Wohnungsluft ein, und die Fettwülste wurden immer dicker.
Der Tisch am Eingang, auf dem er seine Tasche abstellte, war erfreulich sauber, ein sicheres Zeichen dafür, daß die Rumänin immer noch da war. Er nahm das Stethoskop, hakte es hinter die Ohren und ging ins Wohnzimmer.
Wäre der Fernseher nicht gelaufen, hätte er das Geräusch vermutlich schon vom Flur aus gehört. Aber auf dem Bildschirm verlas die mehrfach geliftete Blondine mit den Shirley-Temple-Locken gerade den Verkehrsbericht, warnte die Autofahrer im Veneto vor den zu erwartenden Behinderungen durch traffico intenso auf der A4 und übertönte das emsige Summen der Fliegen, die geschäftig den Kopf der Alten umschwirrten.
An den Anblick toter Greise war er gewöhnt, nur ging das Sterben im hohen Alter normalerweise gesitteter vonstatten als hier. Alte Menschen scheiden leise aus der Welt oder qualvoll, je nachdem, aber weil sie den Tod kaum noch als Bedrohung empfinden, widersetzen sich ihm die wenigsten mit Gewalt. Das hatte auch sie nicht getan.
Wer immer sie getötet hatte, mußte sie völlig überrumpelt haben, denn die leere Tasse und die Fernbedienung auf dem Tisch neben ihr waren unversehrt geblieben. Die Fliegen kreisten rastlos zwischen einer Schale mit frischen Feigen und Signora Battestinis Kopf. Die Arme der Toten waren nach vorne ausgestreckt, die linke Wange berührte den Boden. Die Wunde am Hinterkopf erinnerte ihn an einen Fußball, den der Hund seines Sohnes einmal so zerbissen hatte, daß zur Hälfte die Luft entwich. Im Gegensatz zum Kopf der Alten hatte die Hülle jedoch keinen Schaden genommen; nichts war ausgelaufen.
Er blieb in der Tür stehen und ließ den Blick suchend durch den Raum schweifen. Allein er war so benommen, daß er nicht recht wußte, wonach. Vielleicht nach dem Leichnam der Rumänin; vielleicht fürchtete er auch, daß plötzlich aus einem anderen Zimmer der Mörder auftauchen könnte. Doch nein, dem war, wie ihm die Fliegen verrieten, reichlich Zeit zur Flucht geblieben. Endlich drang der Klang einer menschlichen Stimme in sein Bewußtsein, und er schaute auf, aber alles, was er erfuhr, war, daß sich auf der A3 unweit von Cosenza ein Unfall mit einem Laster ereignet hatte.
© Diogenes Verlag
Übersetzung: Christa E. Seibicke
Autoren-Porträtvon Donna Leon
Die Erfinderin des berühmten Commissario Brunetti wurde 1942in New Jersey geboren. Schon früh machte sich ihr Fernweh bemerkbar. Als sie1965 eine Freundin auf einer Italienreise begleitete, beschloss sie, Amerikaden Rücken zu kehren und in Perugia und Siena zu studieren. Donna Leon lebtseit dieser Zeit ständig im Ausland. Sie arbeitete unter anderem als Reiseleiterinin Rom und als Werbetexterin in London. Später unterrichtete sie anamerikanischen Schulen in der Schweiz, im Iran, in China und in Saudi-Arabien.1981 gab sie ihr Nomadenleben auf und ließ sich in Venedig nieder. Zur Zeit hatsie eine Professur für englische und amerikanische Literatur in Vicenza inne.
Leons erster Kriminalroman mit der Figur des CommissarioBrunetti erschien 1993 und wurde mit dem japanischen Suntory-Preisausgezeichnet. Inspiriert wurde Leon dazu in der Oper. Als sie mit einemBekannten eine Probe im venezianischen Opernhaus besuchte, meinte dieser: "Ich könnteden Dirigenten umbringen!" "Ich machs für dich", antwortete Leon, "aber ineinem Roman." So entstand "Venezianisches Finale". Seitdem hat Leon jedes Jahreinen Brunetti-Krimi geschrieben und den sympathischen Kommissar zu einer derbekanntesten Kriminalfiguren in der Literatur gemacht. Für die ARD wurdenbereits mehrere Folgen mit Joachim Król in der Rolle des Brunetti sehrerfolgreich verfilmt. "Sanft entschlafen", im November 2004 ausgestrahlt, hattebeispielsweise über sieben Millionen Zuschauer. Fortsetzung folgt, garantiert!
Interview mit DonnaLeon
Brunetti prangertpräzise und manchmal sarkastisch die politischen Verhältnisse in Italien an -die Korruption, den Filz und den Waffenhandel. Spricht aus ihm eigentlich auchein bisschen Donna Leon?
Wenn Sie glauben, dass ich mich hier über Italien äußere, dannsollten Sie mich mal über die Vereinigten Staaten reden hören. Es ist einegroße Freude und ein großes Glück für mich, in Italien leben zu dürfen. Wennich Geschichten aus anderen Ländern höre, dann ist da auch einiges dabei anKorruption, Filz und Waffenhandel.
In den letztenbeinahe anderthalb Jahrzehnten, in denen Sie Krimis schreiben, haben Sie immerauch staatliche und kirchliche Institutionen ins Visier genommen. Ist Ihnen daspersönlich übel genommen wurden? Wurden Sie jemals bedroht?
Bedroht? In Italien? Sie machen wohl Scherze! Anders als in meinemHeimatland können die Leute in Italien schreiben und sagen, was sie wollen.
Die "heile Welt"der Familie Brunetti steht in einem starken Kontrast zu den Verbrechen, die inund um Venedig herum passieren. Welchen Stellenwert hat das detailliertgeschilderte Familienleben für ihre Bücher?
Die Familie ist der Ruhepol im Leben von Brunetti. Ich glaube,jemand, der eine Arbeit wie Brunetti macht, braucht so etwas. Außerdem muss ichdoch dem Leser plausibel machen, warum Brunetti ein ehrenwerter Mann bleibt.Meiner Meinung nach trägt die Familie sehr viel dazu bei.
Ich lebe in Italien. Hier werden Verbrechen nie so richtigaufgeklärt, jedenfalls nicht in überzeugender Weise. Meine Bücher wollen diesenAspekt mit einfangen.
Sie sagteneinmal, Sie hätten keinen Fernseher zu Hause und würden auch nicht ins Kinogehen. Was halten Sie grundsätzlich von Romanverfilmungen?
Es stimmt, was ich gesagt habe. Ich habe keinen Fernseher, hatteauch nie einen. Und ich gehe höchst selten ins Kino. Deshalb kann ich IhreFrage leider auch nicht beantworten.
1992 hatCommissario Brunetti zum ersten Mal ermittelt, 14 Jahre später gibt es nun den14. Fall. Kommt im nächsten Jahr ein neues Buch in die Geschäfte?
Ja. Und im Jahr darauf wird es wieder einen Fall für Brunettigeben.
Die Fragenstellte Mathias Voigt, Literaturtest.
- Autor: Donna Leon
- 2006, 13. Aufl., 336 Seiten, Maße: 11,3 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Christa E. Seibicke
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 325723581X
- ISBN-13: 9783257235814
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