Der fliegende Berg
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Der fliegende Berg vonChristoph Ransmayr
LESEPROBE
1 Auferstehung in Kham. Östliches Tibet,21. Jahrhundert.
Ich starb
6840 Meter über dem Meeresspiegel
am vierten Mai im Jahr des Pferdes.
Der Ort meines Todes
lag am Fuß einer eisgepanzerten Felsnadel,
in deren Windschatten ich die Nacht überlebt hatte.
Die Lufttemperatur meiner Todesstunde
betrug minus 30 Grad Celsius,
und ich sah, wie die Feuchtigkeit
meiner letzten Atemzüge kristallisierte
und als Rauch in der Morgendämmerung zerstob.
Ich fror nicht. Ich hatte keine Schmerzen.
Das Pochen der Wunde an meiner linken Hand
war seltsam taub.
Durch die bodenlosen Abgründe zu meinen Füßen
trieben Wolkenfäuste aus Südost.
Der Grat, der von meiner Zuflucht
weiter und weiter
bis zur Pyramide des Gipfels emporführte,
verlor sich in jagenden Eisfahnen,
aber der Himmel über den höchsten Höhen
blieb von einem so dunklen Blau,
daß ich darin Sternbilder zu erkennen glaubte:
den Bärenhüter, die Schlange, den Skorpion.
Und die Sterne erloschen auch nicht,
als über den Eisfahnen die Sonne aufging
und mir die Augen schloß,
sondern erschienen in meiner Blendung
und noch im Rot meiner geschlossenen Lider
als weiß pulsierende Funken.
Selbst die Skalen des Höhenmessers,
der mir irgendwann aus dem Klumpen
meines Handschuhs gefallen
und in die Wolken hinabgesprungen war,
blieben wie eingebrannt in meine Netzhaut:
Luftdruck, Meereshöhe, Celsiusgrade . . .
jeder Meßwert des verlorenen Instruments
eine glühende Zahl.
Als zuerst diese Zahlen
und dann auch die Sterne verblaßten
und schließlich erloschen, hörte ich das Meer.
Ich starb hoch über den Wolken
und hörte die Brandung,
glaubte die Gischt zu spüren,
die aus der Tiefe zu mir emporschäumte
und mich noch einmal hochtrug zum Gipfel,
der nur ein schneeverwehter Strandfelsen war,
bevor er versank.
Das Krachen des Steinhagels,
der mir die Hand wundgeschlagen hatte,
das Fauchen der Böen, mein Herzschlag . . .
verhallten in der Flut.
War ich am Grund des Meeres?
Oder am Gipfel?
In einem schmerzlosen Frieden,
von dem ich heute weiß,
daß er tatsächlich das Ende war, mein Tod
und nicht bloß völlige Erschöpfung,
Höhenwahn, Bewußtlosigkeit,
hörte ich eine Stimme, ein Lachen:
Steh auf!
Es war die Stimme meines Bruders.
Wir hatten uns im Wettersturz
der vergangenen Nacht verloren.
Ich war gestorben.
Er hatte mich gefunden.
Ich öffnete die Augen. Er kniete neben mir.
Hielt mich in seinen Armen. Ich lebte.
Mein Puls tobte in der Steinschlagwunde
an meiner Hand; mein Herz.
Wenn ich heute
an jene Mondnacht zurückdenke,
in der ich mit meinem Bruder
aus der Gipfelregion jenes Berges,
den die Nomaden von Kham Phur-Ri nennen:
Der fliegende Berg,
in die Tiefe zurückgeklettert, zurückgetaumelt war,
einen vom Eis verglasten Grat hinab,
blankgewehte Felsrinnen, schwarze Eiskamine hinab
und dann durch den hüfthohen Schnee jenes Sattels,
auf dem wir uns verloren . . .
Wenn ich an diesen Irrweg durch ein Eislabyrinth
in die bewohnte Welt denke,
die irgendwo unter Wolkentürmen im Abgrund lag,
dann sehe ich immer auch Nyema,
höre ihre besänftigende Stimme,
das Klimpern der Korallen- und Muschelketten um ihrenHals
und spüre die Wärme ihrer Hände,
sehe Nyema,
als wären es ihre Arme
und nicht die meines Bruders gewesen,
die mich damals umfingen:
Niemand, höre ich Nyema sagen,
niemand stirbt auf seinem Weg nur ein einziges Mal.
Nyema Dolma:Wie beharrlich sie war,
wenn sie mir ein Wort ihrer Sprache
oder bloß einen Handgriff zu erklären versuchte.
Wie warm ihr Atem,
wenn sie den Namen einer Pflanze
an meinem Ohr buchstabierte.
Ihr geflochtenes Haar roch nach Yakwolle
und Rauch, und während sie sprach,
schrieb sie mit ihrem Zeigefinger
manchmal schnelle, fliegende Zeichen
auf meinen Arm, meinen Handrücken -
Spiralen,Wellenlinien, Kreise.
Steh auf!
Ich hatte die Spur meines Bruders
in einem Schneesturm verloren,
in dem der Mond wie unter einer Sturzwelle
schwarzen Wassers erloschen war.
Der Sturm hatte uns auseinandergerissen
und mich in einer Finsternis,
in der allein der von Eiskristallen zersiebte
Schein meiner Stirnlampe zu sehen war,
in den Windschatten einer Felsnadel gejagt.
Dort hatte ich bis zum Sonnenaufgang überlebt.
Steh auf!
Mein Bruder kniete neben mir.
Hielt mich in seinen Armen.
Erhob sich dann wie unter einer Zentnerlast
und versuchte auch mich hochzuziehen.
Lachte.
Fluchte vor Ratlosigkeit.
Sein Gesicht, seine Sturmmaske,
war eine Fratze aus Eis.
Wieviel Zeit war seit unserer Trennung vergangen?
Die Sonne stand nun hoch über dem Gipfelgrat.
Der Himmel:wolkenlos.
Und im Schatten der Felsnadel,
im Schatten meiner Zuflucht:Windstille.
Ich lebte.
Es schneite.
Schwarzer Schnee?
Schwarzer Schnee:
Ich hatte die Spur meines Bruders
in einem Schneesturm verloren,
in dem der Mond wie unter einer Sturzwelle
schwarzen Wassers erloschen war.
Der Sturm hatte uns auseinandergerissen
und mich in einer Finsternis,
in der allein der von Eiskristallen zersiebte
Schein meiner Stirnlampe zu sehen war,
in den Windschatten einer Felsnadel gejagt.
Dort hatte ich bis zum Sonnenaufgang überlebt.
Steh auf!
Mein Bruder kniete neben mir.
Hielt mich in seinen Armen.
Erhob sich dann wie unter einer Zentnerlast
und versuchte auch mich hochzuziehen.
Lachte.
Fluchte vor Ratlosigkeit.
Sein Gesicht, seine Sturmmaske,
war eine Fratze aus Eis.
Wieviel Zeit war seit unserer Trennung vergangen?
Die Sonne stand nun hoch über dem Gipfelgrat.
Der Himmel:wolkenlos.
Und im Schatten der Felsnadel,
im Schatten meiner Zuflucht:Windstille.
Ich lebte.
Es schneite.
Schwarzer Schnee?
(...)
ã S.Fischer Verlag
- Autor: Christoph Ransmayr
- 2006, 4. Aufl., 368 Seiten, Maße: 13 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100629361
- ISBN-13: 9783100629364
- Erscheinungsdatum: 22.09.2006
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