Der Kelch des Zorns
Ein Roman über Dietrich Bonhoeffer
Mehr als zehn Jahre lang sammelte Mary Glazener mit enormem Fleiß Daten, Ereignisse und kleinste Einzelheiten über Dietrich Bonhoeffer. Unter anderem hatte sie viele Kontakte mit überlebenden Zeitgenossen Bonhoeffers und ihm nahestehenden...
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Produktinformationen zu „Der Kelch des Zorns “
Mehr als zehn Jahre lang sammelte Mary Glazener mit enormem Fleiß Daten, Ereignisse und kleinste Einzelheiten über Dietrich Bonhoeffer. Unter anderem hatte sie viele Kontakte mit überlebenden Zeitgenossen Bonhoeffers und ihm nahestehenden Menschen, wie z. B. seiner Nichte Renate und seinem engen Freund und Vertrauten Eberhard Bethge. Die Autorin formte aus ihrem Material diesen außergewöhnlichen Roman.
Klappentext zu „Der Kelch des Zorns “
Der fesselnde, sich eng an den historischen Tatsachen orientierende biografische Roman über Bonhoeffers Leben und seine bedeutende Rolle im Widerstand gegen das NS-Regime. Mehr als zehn Jahre lang sammelte die Autorin mit enormem Fleiß Daten, Ereignisse und kleinste Einzelheiten und formte daraus einen außergewöhnlichen Roman über den großen Theologen.
Taschenbuch
Lese-Probe zu „Der Kelch des Zorns “
Der Kelch des Zorns von Mary Glazener... mehr
DER KELCH DES ZORNS
Anders als im historischen Roman üblich, wo fiktive Gestalten ihre Rollen vor einem historischen Hintergrund spielen, haben nahezu alle Handelnden dieser Geschichte tatsächlich gelebt, sind Menschen aus Fleisch und Blut, und das Geschehen dieses Romans gibt wieder, was in ihrem Leben geschehen ist. Nichts mußte erst erdacht werden, die Ereignisse waren bereits da. Alle Personen tragen ihre echten Namen, mit zwei Ausnahmen - Ele¬nore Nichol und Hugo von der Lutz. Fiktiv ist lediglich die Gestalt des Jorg Mühlhausen und seiner Familie, deren Geschichte für die Verstrickung vieler Deutscher mit dem Nazi-Regime steht.
Mit fiktiven Gestalten kann ein Romanautor beliebig umgehen. Handelt es sich dagegen um reale Gestalten, um tatsächliches Geschehen, so ist dem Autor eine Beschränkung zwingend aufer¬legt. Die Schilderung der Männer und Frauen, die in einer solchen Geschichte eine Rolle spielen, wird notwendigerweise zu einer Interpretation all dessen, was der Autor über sie in Erfahrung gebracht hat. Deswegen kann - und will - ich nicht den Anspruch erheben, daß Sie in diesem Roman Dietrich Bonhoeffer begegnen, wie er wirklich war. Ich kann nur sagen, daß Sie auf diesen Seiten Dietrich Bonhoeffer finden werden, wie er mir im Laufe der Jahre wirklich geworden ist.
Bei dieser Arbeit war ich von der Hilfe vieler Menschen abhän¬gig. Zuerst und vor allem von der meines Mannes. Ohne seine Hilfe und Unterstützung wäre es ungleich schwerer gewesen, die¬ses Werk zu vollenden. Die jeweils abgeschlossenen Kapitel schickte ich nach Deutschland an Professor Eberhard Bethge, Bonhoeffers Freund und Biographen, und an dessen Frau Renate, Bonhoeffers Nichte. Mit bemerkenswerter, ja großherziger Hilfs¬bereitschaft lasen sie die Probekapitel und ließen mir ihre wert¬volle Kritik zukommen. Ein weiterer enger Freund Bonhoeffers, Franz Hildebrandt in Edinburgh, prüfte die erste Hälfte des Manuskripts und schickte mir seine Kommentare, bis er z984 ver¬starb.
Eine Dankesschuld trage ich auch gegenüber vielen anderen aus dem Umfeld Bonhoeffers, die ich während meiner beiden Reisen nach Deutschland 1977 und 1979 traf: Bonhoeffers drei Schwe¬stern Ursula Schleicher, Sabine Leibholz und Susanne Dress; seine Schwägerin Emmi Bonhoeffer; seine ehemaligen Studenten Jochen Kanitz, Winfried Mächler, Otto Dudzus, Albrecht Schönherr, Reinhold Rutenik, Karl Stefan und Werner Koch; sowie seine Freunde Martin Niemöller, Elisabeth Bornkamm, Julius Rieger und Anneliese Schnurmann in London. Bonhoeffers Verlobte Maria von Wedemeyer-Weller hatte ich bereits in Boston besucht. In Deutschland konnte ich mich mit ihrer Mutter Ruth von Wede¬meyer, ihrem Bruder Hans-Werner von Wedemeyer und ihrer Schwester Ruth-Alice von Bismarck unterhalten, während ich Marias jüngere Schwester Christine Beshar in New York traf. Einige Stunden verbrachte ich mit Harold Deutsch, dem Verfasser von Hitler and His Generals und The Conspiracy Against Hitler.
Dr. Deutsch ist einer der führenden Historiker für den Bereich des deutschen Widerstandes. Als Nachrichtendienstoffizier der US-Armee in Deutschland hat er nach dem Krieg viele der han¬delnden Personen dieser Erzählung vernommen.
Irgend jemand hat mir einmal gesagt: »Am wichtigsten für einen Schriftsteller ist es, einen guten Verleger zu haben.« In dieser Hinsicht war ich mit Mary Ann Bowman Beil reich beschenkt. Ihre Unerschütterlichkeit, ihre ungewöhnliche Sachkenntnis und ihr mitreißendes Engagement bei der Herausgabe dieses Buches wurden nur noch durch ihre unermüdliche Bereitschaft übertrof¬fen, sich alle meine Argumente anzuhören, auf sie einzugehen - selbst wenn das häufig mit einem erheblichen Arbeitsaufwand für sie verbunden war. Ich bin ihr sehr dankbar.
In einer Anfangsphase meiner Arbeit hatte ich das Glück, George Core, Redakteur der Sewanee Review, zu begegnen. Er hat mir mit konstruktiver Kritik geholfen, hat mich aber auch immer wieder ermutigt. Er stand mir während all der Jahre zur Seite, in denen ich versuchte, das Manuskript auf ein vertretbares Maß zu kürzen. Leser, die mir halfen, waren mein Mann 0. W., meine Tochter Joy, ebenso Bob Hill, Patrick Murphy, Roger Lovette, Aida White und Randall Greene von Greene Communications. Hinzufügen muß ich noch ein Dankeschön an meine Computer¬spezialistin Elaine Pearsall von der Clemson University, die immer dann zur Stelle war, wenn irgendein Computer verrücktspielte und ich dann jedesmal in Panik geraten war. Danke auch ihr. Danke allen!
PROLOG
Dietrich gab der Telefonistin die Nummer seiner Schwester und wartete. Es läutete viermal, doch niemand hob ab. Seltsam! Schließlich hatte Christel immer pünktlich um halb zwei das Mit¬tagessen auf dem Tisch. Er schaute zur großen Uhr in der Diele - ein Uhr fünfunddreißig. Warum nahmen sie nicht ab? Er mußte sofort mit seine Schwager sprechen. Aufmerksam betrachtete Dietrich den Einberufungsbefehl in seiner Hand. Keine Frage! Es war so etwas wie eine Verzweiflungstat, daß Hitler jetzt such nach den Regierungsstellen - einschließlich der militärischen Abwehr - griff, um sich sein Kanonenfutter zu beschaffen.
Endlich klickte es in der Leitung. Eine Männerstimme, die er nicht kannte, meldete barsch und geschäftsmäßig: »Bei Dohnanyi!«
Dietrich begriff. Die Gestapo hatte Hans festgenommen und durchsuchte das Haus. Und das bedeutete: Er würde der nächste sein.
Reglos blieb Dietrich im ersten Stock stehen. Seine Eltern machten gerade ihren Mittagsschlaf. Sollte er ihnen etwas sagen? Nein, auf keinen Fall! Ihre Ruhe würde ohnehin bald gestört werden.
Lautlos hängte Dietrich den Heber zurück und ging zur Treppe. Natürlich, es hätte ihn eigentlich nicht überraschen dürfen. Hatte Admiral Canaris Dietrich und Hans nicht schon einen Monat lang vor einer möglichen Verhaftung gewarnt? Heinrich Himmler hoffte, ihnen Geständnisse und ausreichende Beweise zu entloc¬ken, um Canaris endlich die Abwehr zu entreißen und den militä¬rischen Nachrichtendienst seiner Geheimpolizei eingliedern zu können. Der kleine Admiral hatte immerhin seit 1938 versucht, ihnen Himmler vom Leib zu halten - und bisher war es ihm gelun¬gen. Doch nun, nach zwei gescheiterten Attentatsversuchen, hatte Himmler seine Anstrengungen verstärkt, obwohl es den Wider-ständlern gottlob in beiden Fällen gelungen war, ihre Spuren zu verwischen. Oder doch nicht?
Während Dietrich die Treppe hinaufhastete, fielen ihm alle die niederschmetternden Nachrichten des vergangenen Monats ein.
März 1943. Schlabrendorff schmuggelt eine Bombe an Bord von Hitlers Flugzeug. Doch aus irgendeinem Grund explodiert sie nicht. Am nächsten Tag gelingt es Schlabrendorff, die Bombe zurückzuholen und zu entschärfen. Aber noch immer weiß nie¬mand, weshalb die Bombe versagte. Dann, erst vor zwei Wochen, am Heldengedenktag, trifft Oberst Freiherr von Gersdorff Hitler hier in Berlin in der Messehalle. In seinen Manteltaschen zwei Bomben. Gersdorff soll Hitler durch eine Ausstellung mit erbeute¬tem Kriegsmaterial führen. Weil die Sicherheitskräfte um Hitler im vergangenen Jahr verdoppelt wurden, kommt es entscheidend auf den richtigen Zeitpunkt an, denn die Führung ist auf nur drei¬ßig Minuten angesetzt. Gersdorff hat bereits die Zander einge¬stellt und versucht, Hitler für dieses oder jenes Exponat zu interessieren, ihn aufzuhalten. Aber Hitler stürmt durch die Aus¬stellung, wirft kaum einen Blick auf die Exponate und ist nach drei Minuten wieder draußen. In der nächsten Toilette entschärft Gersdorff die Bomben. Sowohl Schlabrendorff als auch Gersdorff sind davon überzeugt, daß niemand Verdacht geschöpft hat.
In seinem Zimmer im dritten Stock durchsuchte Dietrich hastig alles, was auf seinem Schreibtisch lag. Versuchte, sich zu beruhi¬gen, indem er sich einredete, daß er noch viel, viel Zeit hatte. Schließlich war Sakrow, wo Hans und Christel wohnen, minde¬stens eine halbe Stunde entfernt. Angestrengt blickte er auf seinen Schreibtisch. Er durfte nichts übersehen! Seit Wochen schon hatte er alle möglicherweise belastenden Schriftstücke in einem beson¬deren Ordner gesammelt. Ihn legte er als erstes beiseite. Die Seiten seines Ethikbuches, an dem er gerade arbeitete, ließ er auf dem Schreibtisch liegen. Sie würden seine Behauptung stützen, er sei
nichts als ein junger lutherischer Pfarrer, der alles tat, was in sei¬nen Kräften stand, um seinem Vaterland zu dienen.
Aus einer Schublade nahm er die Kopien zweier gefälschter Berichte der Abwehr über frühere Reisen in die Schweiz. Reisen, die er angeblich als Agent der Abwehr unternommen hatte. Tat¬sächlich war er im Auftrag der Widerstandsbewegung gereist, um Kontakte mit den Alliierten herzustellen. Diese Papiere legte er für jedermann gut sichtbar hin, ebenso den Entwurf eines sorgfältig gefälschten Briefes, adressiert an Hans. Gemeinsam hatten sie sich diesen Brief vor kurzem ausgedacht, um die Blut¬hunde der Gestapo von ihrer Spur abzulenken. Der Brief, vor¬datiert auf den 6. November 194o, enthielt ein Scheinangebot Dietrichs, seine Kontakte zu führenden Männern der Ökumene zu nutzen, um der Abwehr Informationen zu beschaffen. In einer der Schreibtischschubladen lag der Essay »Nach zehn Jahren«, den er als Weihnachtsgeschenk für Hans von Dohnanyi, seinen Freund Eberhard Bethge und ein paar andere Widerstandskämp¬fer geschrieben hatte. Diese Blätter versteckte er sorgfältig zwi¬schen Dachbalken und Decke, über dem Schrank; da, wo das Dach schräg abfiel.
Könnte die Gestapo noch etwas anderes gefunden haben? Die Papiere der Widerstandsbewegung in Zossen? Diese Dokumente enthielten freilich ausreichende Beweise, um sie alle an den Gal¬gen zu bringen.
Noch ein letzter prüfender Blick! Dietrich griff nach dem bela¬stenden Ordner und ging so leise wie möglich die Treppe hinun¬ter. In einem Winkel des Gartens, hinter den leuchtend gelben Forsythiensträuchern, verbrannte er die gefährlichen Dokumente und verstreute die Asche. Dann lief er an den hohen Kiefern vor¬bei zum Haus seiner älteren Schwester Ursula Schleicher. Ursel würde ihm mit Sicherheit eine schöne heiße Mahlzeit servieren. Wer weiß, wann er wieder eine bekommen würde.
Es war 16.00 Uhr und Dietrich gerade mit dem Essen fertig, als sein Vater, Dr. Karl Bonhoeffer, an die Tür kam und seinen Sohn nach draußen rief.
fürchte, du kannst jetzt nicht länger hierbleiben«, sagte er mit sorgenvoller Miene. »Oben in deinem Zimmer sind zwei Beamte in Zivil. Sie wollen dich sprechen.«
»Überrascht mich nicht«, bemerkte Dietrich ruhig und berich¬tete seinem Vater von der seltsamen Stimme an Christels Telefon.
»Dann sind die also da, um dich abzuholen. Ich habe es befürchtet!«
Ganz offensichtlich hatten die Nazis seinen Vater direkt von einer Untersuchung geholt, denn er trug noch seinen weißen Kit¬tel.
So unbeschwert wie nur möglich verabschiedete sich Dietrich von seiner Schwester. Dann gingen er und sein Vater zurück. Bis¬her war noch keine Bombe der Alliierten in der Mitte ihres Hauses in der Marienburger Allee eingeschlagen. Die beiden Häuser der Bonhoeffers und der Schleichers sahen fast noch so frisch und neu aus wie vor acht Jahren, als sie gebaut worden waren.
»Sie beobachten uns von deinem Fenster aus«, flüsterte der Vater, ohne hinaufzusehen. »Wir dürfen auf keinen Fall lang¬samer gehen.«
Dietrich sah seinen Vater an, der aufgerichtet, ja würdevoll, neben ihm ging. Sein glattes Haar schneeweiß und etwas langer, als es die meisten Deutschen trugen, aber sorgfältig gepflegt. Der Vater war etwas kleiner als Dietrich, aber seine aufrechte Haltung und sein fester Schritt ließen niemanden seine fünfundsiebzig Jahre vermuten.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte der Vater leise und sehr bestimmt. »Aber ich habe mir eine Möglichkeit ausgedacht, wie wir miteinander in Verbindung bleiben Carmen. Wenn sie zulas¬sen, daß wir dir Bücher schicken - und das werden sie wohl kaum verhindern können dann suche auf jeder zweiten Seite nach einem Punkt unter einem Buchstaben, von hinten angefangen.« Er sah Dietrich an. »Es könnte funktionieren, aber wir müssen dar¬auf achten, daß die Markierungen nicht auffallen.
Dietrich überlegte fieberhaft. »Ja! Es wird funktionieren.« Ihm war nicht entgangen, daß sein Vater alle seine Ängste beiseitege¬schoben hatte und nur daran dachte, wie einem Gefangenen der Nazis geholfen werden könnte.
»Und immer dann, wenn du nach einer Nachricht suchen sollst, werde ich deinen Namen auf der ersten Seite unterstreichen.«
» Ja, natürlich. Danke, Papal«
An der Hintertür erwartete ihn mit angstvollem Gesicht seine Mutter. Dietrich ergriff ihre Hände. »Mama, du darfst dir keine Sorgen machen. Mir wird nichts passieren.«
Ihre Lippen zitterten.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie uns etwas nachweisen wollen«, beruhigte Dietrich seine Mutter. Sie blickte auf. »Aber ich habe schreckliche Angst. Hans haben sie auch geholt.«
Er erzählte ihr rasch von seinem Anruf bei Christel und davon, daß er sein Zimmer inzwischen gründlich »aufgeräumt« hatte. »Sie können nichts Belastendes finden. Wirklich, Mama.« Dabei lächelte er so aufmunternd, wie es ihm in dieser Situation nur möglich war.
Doch in ihren Augen war dieselbe Furcht wie vor zwei Wochen, als sie von Gersdorffs Mißerfolg erfahren hatte. Damals hatte sie gesagt: »Geh zu deinen Freunden nach Pommern. Es muß doch dort irgendwo ein Fischerboot geben, das dich nach Schweden bringen könnte.« Und er hatte geantwortet: »Das kann ich nicht tun, Mama.« Sie hatte ihn davon zu überzeugen versucht, daß die Gestapo so alte Leute wie sie schon nicht behelligen würde - aber Dietrich hatte es besser gewußt.
Dann hatte sich Hans verplappert und gesagt: »Wenn sie uns schnappen, kommt es vor allem darauf an, daß die Sache bei den Militärgerichten bleibt und nicht in die Hände der Gestapo gerät. Wenn die den Fall in die Hände bekommen, also . . . Keiner von uns weiß, wie lange er der Folter standhalten kann. Und die wer¬den wohl zum äußersten Mittel greifen.« Achtlose Worte - aber die Angst in den Augen seiner Mutter hatten sie vertieft.
»Ich glaube, ich muß jetzt gehen.« Hastig, beinahe flüsternd sagte er: »Vergiß nicht, ich bin ein guter Schauspieler! Und Hans und ich haben unsere Rollen gut gelernt. Hans wird die volle Ver¬antwortung für alle unsere Aktivitäten übernehmen. Er ist ein Spitzenanwalt. Er kommt damit klar, keine Sorge. Und Admiral Canaris wird alles bestätigen, was Hans sagt. Er wird sagen, er habe alles als Gegenspionage im Interesse des Reiches angeordnet. Ich werde die Rolle des schlichten, weltfremden Pfarrers spielen, unfähig zu eigener Initiative, auf Anweisungen von außen ange¬wiesen.« Er lächelte. »Es wird klappen! Da bin ich mir ganz sicher.« Dietrich verließ sie und ging die Treppe hinauf zu seinem Zimmer.
Die Tür zu Dietrichs Zimmer stand offen. Am Türrahmen lehnte ein Schakal im grauen Anzug, dessen Gesichtsausdruck ver¬riet, daß er sich seiner Beute sicher war. Dietrich blieb auf dem Treppenabsatz stehen und sah den Eindringling an, ohne ein Wort zu sagen.
»Sind Sie Dietrich Bonhoeffer?«
Ja, der bin ich.«
»Ich bin Oberstkriegsgerichtsrat Manfred Roeder.« Er wandte sich einem schmalgesichtigen Mann zu, der mitten im Zimmer stand. ',Mein Kollege hier ist Herr Kommissar Sonderegger von der Gestapo. Sicherlich wissen Sie, weshalb wir hier sind.«
»Ich habe keine Ahnung!« bemerkte Dietrich kühl. Doch das Wort »Gestapo« bohrte sich in sein Hirn.
Roeder entblößte die Zähne zu einem freudlosen Lächeln. »Dann werden wir es sehr bald feststellen.«
Dietrich überlegte angestrengt. Woher kannte er den Namen »Roeder« ? Richtig! Roeder war der Mann von der Rechtsabtei¬lung der Luftwaffe. Einen »Bluthund« hatte ihn Hans genannt. Erst kürzlich hatte seine Anklageführung den führenden Leuten der Roten Kapelle, dieser kommunistischen Widerstandsgruppe, die Todesstrafe eingebracht.
Roeder nickte dem Gestapomann zu, der mit einem Paar Hand¬schellen ankam.
Ist das wirklich notwendig?< fragte Dietrich. »Meine Eltern sind alt, und ich möchte nicht, daß sie sich ängstigen. Wenn ich weglaufen wollte, hätte ich es eben noch tun können.«
»Ihre Sprüche werden Ihnen nichts einbringen, Herr Bonhoef¬fer 0, wies ihn Sonderegger zurecht, die brennende Zigarette im Mund. Dietrich erkannte die rauhe Stimme, die er an Christels Telefon gehört hatte. Als Sonderegger die Handschellen um
Dietrichs Handgelenke legte, funkelten seine dunklen, tiefliegen¬den Augen triumphierend.
Roeder schob Dietrich einen Stuhl hin. »Setzen Sie sich! Dann können wir unsere Arbeit hier abschließen!«
Und jetzt begannen die beiden Männer wieder, das Zimmer zu durchsuchen. Dietrich sah vom Lehnstuhl aus zu und hoffte inständig, sie würden nichts finden. Eine Schublade stand auf dem Schreibtisch, und Roeder begann mit unverhülltem Vergnügen, darin herumzuwühlen. Er blätterte alle Papiere langsam durch und hielt dann eines von ihnen hoch. Nach einem argwöhnischen Blick in Dietrichs Richtung begann er, es zu lesen. Dietrich konnte von seinem Platz aus nicht erkennen, was für ein Papier es war. Ob er irgendetwas Belastendes übersehen hatte? Nachdem Roeder die Seite etwa zur Hälfte durchgelesen hatte, warf er es mit einer verächtlichen Handbewegung beiseite, schien darauf zu spucken.
»Wir wissen genau, daß Sie hier etwas versteckt haben! Und das versichere ich Ihnen, wir werden es finden! << Und zu Sonderegger, der sich mit den Büchern im Regal befaßte, sagte er: »Lassen Sie nichts aus, Herr Kommissar!
Nachdem Sonderegger jedes Buch überprüft hatte, ging er zum Kleiderschrank. Er durchsuchte alle Jackentaschen, alle Schuhe, wühlte in den Hutschachteln, die oben auf dem Schrank lagen -ganz dicht unter den Dachbalken. Dietrich wandte sich ab. Er konnte nicht länger hinsehen. Verzweifelt versuchte er sich daran zu erinnern, was er in diesem Essay geschrieben hatte. Etwas offenkundig Staatsfeindliches stand nicht darin. Das wußte er genau. Aber zwischen den Zeilen gab es viel zu lesen, und Roeder war klug genug, das zu erkennen. Inzwischen stocherte Sonder¬egger an den Balken herum. Nur in einem der Balken war ein Spalt, der breit genug war, den Essay darin zu verbergen. Sonder¬egger legte seine Hand auf diesen Balken, klopfte darauf, als argwöhne er, der Balken könne kohl sein. Er prüfte auch die anderen Balken und wandte sich dann ab, nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie alle massiv waren.
Dietrich stützte sein Kinn auf die Hände; bemüht, seine Erleich¬terung nicht erkennen zu lassen.
Nachdem die Suche noch eine Weile ergebnislos weitergegan¬gen war, tobte Roeder enttäuscht: »Seien Sie sich Ihrer Sache nicht allzu sicher, Herr Bonhoeffer! Wir haben viele Wege, die Wahrheit herauszubekommen. Und wir werden sie nutzen!
Es war schon fast i8.00 Uhr, als Roeder Dietrich erlaubte, eine kleine Tasche mit Toilettenartikeln, einem sauberen Hemd, einer Garnitur Unterwäsche und seiner Bibel zu packen. Dann gingen die beiden Männer mit ihm hinunter. Dietrichs Eltern warteten mit bangen Gesichtern in der Diele. Stumm, ohne ein einziges Wort.
Dietrich blickte Lange in das Gesicht seiner Mutter und sah vol¬ler Erschütterung, wie sehr sie sich mühte, Liebe und Ermutigung über Furcht und Entsetzen siegen zu lassen. Sie küßte ihren Sohn -ohne Tränen. Aber er wußte, welch übermenschliche Anstrengung sie das kostete. Sein Vater, der sich immer in der Gewalt hatte, ver¬riet den Aufruhr seiner Gefühle nur durch seine angespannten Gesichtszüge.
Der schwarze Mercedes wendete. Dietrich hob seine gefesselten Hände, um den Eltern zum Abschied zuzuwinken. Und dann war ihr Sohn nicht mehr da.
Roeder saß am Steuer. Als er den alten Reichskanzler-Platz -inzwischen Adolf-Hitler-Platz - umrundete, lenkte er das Auto mit arroganter Rücksichtslosigkeit gegen alles, was ihm entgegen¬kam. Am Sophie-Charlotte-Platz bogen sie ab und steuerten nach Norden, weg vom Gestapo-Hauptquartier. Seit Roeder Sondereg¬ger vorgestellt hatte, war Dietrich von der Angst vor der Prinz¬Albrecht-Straße erfüllt gewesen. Sie fuhren jetzt an dem alten Käseladen vorbei, wo die Nazis vor zehn Jahren Dietrichs Jugend¬stube für Arbeitslose zerstört hatten. Zehn Jahre? War das wirk¬lich schon zehn Jahre her? Andererseits - wenn er daran dachte, was inzwischen alles passiert war . . . Reichten da zehn Jahre?
Jetzt hatten sie das Schloß Charlottenburg umrundet und fuh¬ren über die Spree auf den Tegeler Weg. Und nun wußte Dietrich, wohin sie ihn brachten - ins Zuchthaus Tegel, im äußersten Nord¬westen der Stadt. Schon ein paarmal hatte er im Vorbeifahren die trostlosen alten Gebäude hinter der hohen, dicken roten Ziegel¬steinmauer gesehen.
Sie jagten die wenig belebte Jungfernheide entlang, über den alten Schießübungsplatz, der jetzt ein Flugplatz war, auf dem Görings Kampfflugzeuge unter Tarnnetzen verborgen standen, und erreichten schließlich die Seidelstraße. Bald waren auf der rechten Seite die riesigen Borsig-Eisenwerke erkennbar, und dann, nach einem guten Kilometer, das Zuchthaus.
Es wurde bereits dunkel, als sie in die Toreinfahrt einbogen. Im Außenhof hielt der Wagen am Torhaus, die massive Eisentür öff¬nete sich, sie rollten durch die schmale Durchfahrt. Das Tor schloß sich hinter ihnen mit der Endgültigkeit einer Totenglocke.
Roeder brachte den Wagen zwischen zwei rechteckigen Gebäu¬den zum Stehen. Ein Beamter, der sie zu erwarten schien, kam aus einem der Gebäude heraus und nahm ein Dokument entgegen, das ihm Roeder durchs Wagenfenster reichte. Gleich darauf zerrten zwei kräftige Wachbeamte Dietrich aus dem Wagen und brachten ihn in das andere Gebäude.
In einem niedrigen Raum machten sich die Wärter daran, ihn zu durchsuchen. Dietrich blickte starr geradeaus, angestrengt darauf bedacht, sich durch diese demütigende Prozedur nicht verletzen zu lassen. Sie konfiszierten seine Uhr, sein Portemonnaie und das wenige Kleingeld, das er in der Tasche trug. Dann, nachdem seine Handschellen entfernt worden waren, nahm ein Beamter ihm die Fingerabdrücke ab. Mit betont gelangweilten und schleppenden Bewegungen stellte ihn der Beamte vor einen schwarzen Vorhang, schaltete einen Scheinwerfer ein und fotografierte Dietrich mit einer uralten Kamera. Dann forderte er ihn auf - in gleichgültig bösem Ton -, die kleine Tasche herauszugeben.
»Warum wurde mir denn erlaubt, sie mitzubringen, wenn ich sie jetzt nicht behalten darf? « protestierte Dietrich.
»Sie kriegen sie schon wieder, antwortete der Mann. Und dann zu den Wärtern: »Bringt ihn weg!«
»Los, hier entlang!« kommandierte einer von ihnen und stieß Dietrich in einen schmalen Gang.
»Welche Zelle haben die gesagt? < wollte der andere wissen. »Nummer sechs.
»Ist das der Letzte für heute?
»Das will ich hoffen.
Sie durchquerten eine Sperre aus eisernen Gittern, die der Wärter hinter ihnen sorgfältig verschloß, und gingen durch einen langen Flur - Stahltüren auf beiden Seiten. Etwa auf halbem Wege blieben sie unvermittelt vor einer der Türen stehen. Der erste Mann suchte einen Schlüssel aus seinem Bund und schloß die Tür auf.
»Da hinein, du verdammtes Schwein!« Der Wärter stieß Diet¬rich mit solcher Gewalt in die Zelle, daß Dietrich stolperte. Noch bevor er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, fiel die schwere Tür krachend hinter ihm zu. Der Schlüssel wurde im Schloß herum¬gedreht - Stille.
Dietrich wußte nicht, wie lange er dort gestanden hatte, in sinn¬losem Zorn die Tür anstarrend. Die Tür hatte weder Knopf noch Klinke. In Augenhöhe ein Loch von vielleicht sieben Zentimetern Durchmesser, das sich nach außen auf die Größe einer Murmel ver¬engte.
Er ging näher heran und schaute hindurch, aber er konnte nichts als ein kleines Stück der gegenüberliegenden Wand erkennen. Nun widmete er sich seiner finsteren Zelle. Nirgendwo ein Lichtschal¬ter. Von oben fiel durch einen schmalen Fensterschlitz kaltes blaues Licht in den Raum. Der Schatten der Gitterstäbe zeichnete sich auf der Pritsche an der Wand ab. Auf der anderen Seite stand eine Bank mit einem niedrigen Hocker daneben, dazu ein entsetzlich nach Urin stinkender Eimer. Dietrich kletterte auf die Bank und sah hin¬aus auf einen kleinen Hof, der von allen Seiten von hohen Mauern umschlossen war. Ein anderes Gebäude versperrte ihm den Blick auf den Himmel. Die Aussicht, die ein Kerkerloch bot.
Zu erregt, um sich ruhig hinsetzen zu können, lief Dietrich lange Zeit in dem engen Raum auf und ab. Endlich setzte er sich auf die Bank, lehnte seinen Kopf gegen die Wand. Er spürte die Kälte der Steine. Eine Heizung gab es nicht, und in diesen Aprilnächten sank die Temperatur oft noch bis zum Gefrierpunkt. Hätte er doch nur einen Pullover unter seinen Mantel angezogen. Aber wer hätte in dieser Situation schon an ein unbeheiztes Zimmer gedacht!
Mit skeptischem Blick betrachtete Dietrich die Decke auf dem schmalen Bett. Sie fühlte sich genauso schmierig an, wie sie aussah.
Als er sie sich um die Schultern legen wollte, entströmte ihr ein so widerwärtiger Gestank, daß er sie angeekelt fallen ließ. Müde kauerte er sich in die Ecke des Bettes, zog die Knie an und schlang die Arme darum. Lange Zeit blieb er so bewegungslos sitzen.
Gedämpfte Geräusche von anderen Gefangenen drangen in seine Zelle, das Scharren von Füßen, ein gemurmelter Fluch, das Ächzen einer Pritsche und - weiter den Flur hinab - klirrende Ket¬ten. Irgendwo wurde eine Tür geöffnet. Schritte stampften den Flur entlang. An der Sperre dann Stille, Schlüssel rasselten,
wäh¬rend die Gittertür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Die Schritte näherten sich Dietrichs Tür und - entfernten sich wieder, ohne anzuhalten. Erst in diesem Moment bemerkte er, wie ange¬spannt jeder Muskel seines Körpers war. Die Schritte kamen wie¬der - und entfernten sich wieder. Es war nur der Wärter, der seine Runde machte. Bestürzt fragte sich Dietrich: Wenn ich schon dar¬auf so heftig reagiere, wie werde ich es dann verkraften, wenn sie tatsächlich kommen, um mich zum Verhör zu holen?
Dietrich versuchte zu beten. Irgendwie hatte er sich ja auf diese Situation vorbereitet; hatte tief in seinem Innern gewußt, daß es eines Tages soweit sein würde. Andere Männer hatten sich dieser Situation zweifellos mit größerem Gleichmut gestellt - Martin Niemöller zum Beispiel, der nun schon sechs Jahre im Konzentra¬tionslager saß.
Im Laufe der Nacht ließ allmählich die quälende Anspannung nach, und auch seine gehetzten Gedanken kamen allmählich zur Ruhe. Es tröstete ihn zu wissen, daß er nicht tatenlos geblieben war, nicht nur zugesehen hatte, nachdem ihm das Unrecht dieses Regimes klargeworden war.
Angefangen hatte alles - ihm selbst fast unbewußt - mit einem Vortrag im Berliner Rundfunk, zwei Tage nach Hitlers Machter¬greifung, am I. Februar 1933. Er war mit sich ziemlich zufrieden gewesen, und seine Studenten hatten sich stolz und begeistert gezeigt. Sein Thema, »Das Führerprinzip«, schien hervorragend in das Zeitgeschehen zu passen, obwohl der Vortrag schon vor Wochen geplant und erst ein paar Tage vor dem Machtwechsel geschrieben worden war.
Alles schien gutzugehen an jenem Tag, bis Dietrich zu dem Punkt kam, wo er seine Zuhörer vor einem Führer warnte, »der sich und sein Amt zum Götzen erhebt und so Gott verhöhnt«. Genau in diesem Augenblick hatte ihn der Sendeleiter unterbro¬chen und ihm gesagt, er sei nicht mehr auf Sendung.
Dietrich hatte nie erfahren, was tatsächlich geschehen war. Anfangs hatte er an einen technischen Fehler geglaubt, obwohl niemand im Studio diese Ansicht teilte. Dann gab es Überlegungen, ob Goebbels vielleicht schon zu diesem frühen Zeitpunkt die Rundfunksender unter seiner Kontrolle hatte.
Die Baumwollmatratze auf der Pritsche war dünn. Er wurde allmählich müde, versuchte, sich etwas bequemer hinzusetzen, denn um sich auszustrecken, war es zu kalt. Ein dünner Glockenschlag ertönte. Ein Uhr morgens.
Der Radiovortrag in jenem Jahr war nur der Anfang eines Jah¬res voller Aufruhr gewesen. Noch im selben Monat - ja, Ende Februar war es gewesen - hatten die Nazis Dietrichs Jugend¬stube für Arbeitslose zerstört. Eines Abends waren er und die Männer - durch lautes Rufen aufgeschreckt - auf die Straße hin¬untergelaufen. Und da hatten sie es gesehen - einer der Männer lag reglos da, den Kopf in einer Blutlache. Noch jetzt sah er das Blut im Schnee. Dietrich war sich ganz sicher gewesen, daß er tot sei. Der andere, Röpke, einer der beiden Kommunisten im Club, rappelte sich langsam Koch. Er hatte eine blutende Schnittwunde im Gesicht. Andere Mitglieder des Clubs standen erschreckt im Halbkreis um ihn herum.
>>Nazis! SA!« formulierte Röpke mühsam. »Sie wollten uns umbringen.
An der nächsten Straßennecke hatte Dietrich die SA-Männer unter einer Straßenlaterne entdeckt, fünf oder sechs in ihren braunen Uniformen. Mit seinem Taschentuch hatte er versucht, das Bluten an Röpkes Wange zum Stillstand zu bringen, und dann hatte er sich um den Mann im Schnee gekümmert. Die Wunde an dessen Kopf sah übel aus - ein Schädelbruch, kein Zweifel! Dazu ein mehr als schwacher Puls. Dietrich hatte seinen Mantel ausgezogen und ihn über den Mann gelegt. »Wir dürfen
ihn nicht bewegen. Ihr bleibt hier! Ich gehe rauf und rufe meinen Vater an.
Im Wartezimmer des Krankenhauses, in dem sein Vater arbei¬tete, hatte er dann mit Röpke gesessen, während sein Vater und ein Kollege Röpkes Freund operierten.
Dietrich erschauerte in der Kälte, zog seine Knie enger an die Brust. Ja, so hatte alles angefangen. Der Mann hatte die Opera¬tion überlebt, und Dietrich hatte sich immer wieder gefragt, ob es derselbe Trupp Nazis gewesen war, der eine Woche später die Jugendstube verwüstet hatte. Aber war das überhaupt wichtig? Nazi war Nazi.
Copyright © Brunnen Verlag, Gießen
DER KELCH DES ZORNS
Anders als im historischen Roman üblich, wo fiktive Gestalten ihre Rollen vor einem historischen Hintergrund spielen, haben nahezu alle Handelnden dieser Geschichte tatsächlich gelebt, sind Menschen aus Fleisch und Blut, und das Geschehen dieses Romans gibt wieder, was in ihrem Leben geschehen ist. Nichts mußte erst erdacht werden, die Ereignisse waren bereits da. Alle Personen tragen ihre echten Namen, mit zwei Ausnahmen - Ele¬nore Nichol und Hugo von der Lutz. Fiktiv ist lediglich die Gestalt des Jorg Mühlhausen und seiner Familie, deren Geschichte für die Verstrickung vieler Deutscher mit dem Nazi-Regime steht.
Mit fiktiven Gestalten kann ein Romanautor beliebig umgehen. Handelt es sich dagegen um reale Gestalten, um tatsächliches Geschehen, so ist dem Autor eine Beschränkung zwingend aufer¬legt. Die Schilderung der Männer und Frauen, die in einer solchen Geschichte eine Rolle spielen, wird notwendigerweise zu einer Interpretation all dessen, was der Autor über sie in Erfahrung gebracht hat. Deswegen kann - und will - ich nicht den Anspruch erheben, daß Sie in diesem Roman Dietrich Bonhoeffer begegnen, wie er wirklich war. Ich kann nur sagen, daß Sie auf diesen Seiten Dietrich Bonhoeffer finden werden, wie er mir im Laufe der Jahre wirklich geworden ist.
Bei dieser Arbeit war ich von der Hilfe vieler Menschen abhän¬gig. Zuerst und vor allem von der meines Mannes. Ohne seine Hilfe und Unterstützung wäre es ungleich schwerer gewesen, die¬ses Werk zu vollenden. Die jeweils abgeschlossenen Kapitel schickte ich nach Deutschland an Professor Eberhard Bethge, Bonhoeffers Freund und Biographen, und an dessen Frau Renate, Bonhoeffers Nichte. Mit bemerkenswerter, ja großherziger Hilfs¬bereitschaft lasen sie die Probekapitel und ließen mir ihre wert¬volle Kritik zukommen. Ein weiterer enger Freund Bonhoeffers, Franz Hildebrandt in Edinburgh, prüfte die erste Hälfte des Manuskripts und schickte mir seine Kommentare, bis er z984 ver¬starb.
Eine Dankesschuld trage ich auch gegenüber vielen anderen aus dem Umfeld Bonhoeffers, die ich während meiner beiden Reisen nach Deutschland 1977 und 1979 traf: Bonhoeffers drei Schwe¬stern Ursula Schleicher, Sabine Leibholz und Susanne Dress; seine Schwägerin Emmi Bonhoeffer; seine ehemaligen Studenten Jochen Kanitz, Winfried Mächler, Otto Dudzus, Albrecht Schönherr, Reinhold Rutenik, Karl Stefan und Werner Koch; sowie seine Freunde Martin Niemöller, Elisabeth Bornkamm, Julius Rieger und Anneliese Schnurmann in London. Bonhoeffers Verlobte Maria von Wedemeyer-Weller hatte ich bereits in Boston besucht. In Deutschland konnte ich mich mit ihrer Mutter Ruth von Wede¬meyer, ihrem Bruder Hans-Werner von Wedemeyer und ihrer Schwester Ruth-Alice von Bismarck unterhalten, während ich Marias jüngere Schwester Christine Beshar in New York traf. Einige Stunden verbrachte ich mit Harold Deutsch, dem Verfasser von Hitler and His Generals und The Conspiracy Against Hitler.
Dr. Deutsch ist einer der führenden Historiker für den Bereich des deutschen Widerstandes. Als Nachrichtendienstoffizier der US-Armee in Deutschland hat er nach dem Krieg viele der han¬delnden Personen dieser Erzählung vernommen.
Irgend jemand hat mir einmal gesagt: »Am wichtigsten für einen Schriftsteller ist es, einen guten Verleger zu haben.« In dieser Hinsicht war ich mit Mary Ann Bowman Beil reich beschenkt. Ihre Unerschütterlichkeit, ihre ungewöhnliche Sachkenntnis und ihr mitreißendes Engagement bei der Herausgabe dieses Buches wurden nur noch durch ihre unermüdliche Bereitschaft übertrof¬fen, sich alle meine Argumente anzuhören, auf sie einzugehen - selbst wenn das häufig mit einem erheblichen Arbeitsaufwand für sie verbunden war. Ich bin ihr sehr dankbar.
In einer Anfangsphase meiner Arbeit hatte ich das Glück, George Core, Redakteur der Sewanee Review, zu begegnen. Er hat mir mit konstruktiver Kritik geholfen, hat mich aber auch immer wieder ermutigt. Er stand mir während all der Jahre zur Seite, in denen ich versuchte, das Manuskript auf ein vertretbares Maß zu kürzen. Leser, die mir halfen, waren mein Mann 0. W., meine Tochter Joy, ebenso Bob Hill, Patrick Murphy, Roger Lovette, Aida White und Randall Greene von Greene Communications. Hinzufügen muß ich noch ein Dankeschön an meine Computer¬spezialistin Elaine Pearsall von der Clemson University, die immer dann zur Stelle war, wenn irgendein Computer verrücktspielte und ich dann jedesmal in Panik geraten war. Danke auch ihr. Danke allen!
PROLOG
Dietrich gab der Telefonistin die Nummer seiner Schwester und wartete. Es läutete viermal, doch niemand hob ab. Seltsam! Schließlich hatte Christel immer pünktlich um halb zwei das Mit¬tagessen auf dem Tisch. Er schaute zur großen Uhr in der Diele - ein Uhr fünfunddreißig. Warum nahmen sie nicht ab? Er mußte sofort mit seine Schwager sprechen. Aufmerksam betrachtete Dietrich den Einberufungsbefehl in seiner Hand. Keine Frage! Es war so etwas wie eine Verzweiflungstat, daß Hitler jetzt such nach den Regierungsstellen - einschließlich der militärischen Abwehr - griff, um sich sein Kanonenfutter zu beschaffen.
Endlich klickte es in der Leitung. Eine Männerstimme, die er nicht kannte, meldete barsch und geschäftsmäßig: »Bei Dohnanyi!«
Dietrich begriff. Die Gestapo hatte Hans festgenommen und durchsuchte das Haus. Und das bedeutete: Er würde der nächste sein.
Reglos blieb Dietrich im ersten Stock stehen. Seine Eltern machten gerade ihren Mittagsschlaf. Sollte er ihnen etwas sagen? Nein, auf keinen Fall! Ihre Ruhe würde ohnehin bald gestört werden.
Lautlos hängte Dietrich den Heber zurück und ging zur Treppe. Natürlich, es hätte ihn eigentlich nicht überraschen dürfen. Hatte Admiral Canaris Dietrich und Hans nicht schon einen Monat lang vor einer möglichen Verhaftung gewarnt? Heinrich Himmler hoffte, ihnen Geständnisse und ausreichende Beweise zu entloc¬ken, um Canaris endlich die Abwehr zu entreißen und den militä¬rischen Nachrichtendienst seiner Geheimpolizei eingliedern zu können. Der kleine Admiral hatte immerhin seit 1938 versucht, ihnen Himmler vom Leib zu halten - und bisher war es ihm gelun¬gen. Doch nun, nach zwei gescheiterten Attentatsversuchen, hatte Himmler seine Anstrengungen verstärkt, obwohl es den Wider-ständlern gottlob in beiden Fällen gelungen war, ihre Spuren zu verwischen. Oder doch nicht?
Während Dietrich die Treppe hinaufhastete, fielen ihm alle die niederschmetternden Nachrichten des vergangenen Monats ein.
März 1943. Schlabrendorff schmuggelt eine Bombe an Bord von Hitlers Flugzeug. Doch aus irgendeinem Grund explodiert sie nicht. Am nächsten Tag gelingt es Schlabrendorff, die Bombe zurückzuholen und zu entschärfen. Aber noch immer weiß nie¬mand, weshalb die Bombe versagte. Dann, erst vor zwei Wochen, am Heldengedenktag, trifft Oberst Freiherr von Gersdorff Hitler hier in Berlin in der Messehalle. In seinen Manteltaschen zwei Bomben. Gersdorff soll Hitler durch eine Ausstellung mit erbeute¬tem Kriegsmaterial führen. Weil die Sicherheitskräfte um Hitler im vergangenen Jahr verdoppelt wurden, kommt es entscheidend auf den richtigen Zeitpunkt an, denn die Führung ist auf nur drei¬ßig Minuten angesetzt. Gersdorff hat bereits die Zander einge¬stellt und versucht, Hitler für dieses oder jenes Exponat zu interessieren, ihn aufzuhalten. Aber Hitler stürmt durch die Aus¬stellung, wirft kaum einen Blick auf die Exponate und ist nach drei Minuten wieder draußen. In der nächsten Toilette entschärft Gersdorff die Bomben. Sowohl Schlabrendorff als auch Gersdorff sind davon überzeugt, daß niemand Verdacht geschöpft hat.
In seinem Zimmer im dritten Stock durchsuchte Dietrich hastig alles, was auf seinem Schreibtisch lag. Versuchte, sich zu beruhi¬gen, indem er sich einredete, daß er noch viel, viel Zeit hatte. Schließlich war Sakrow, wo Hans und Christel wohnen, minde¬stens eine halbe Stunde entfernt. Angestrengt blickte er auf seinen Schreibtisch. Er durfte nichts übersehen! Seit Wochen schon hatte er alle möglicherweise belastenden Schriftstücke in einem beson¬deren Ordner gesammelt. Ihn legte er als erstes beiseite. Die Seiten seines Ethikbuches, an dem er gerade arbeitete, ließ er auf dem Schreibtisch liegen. Sie würden seine Behauptung stützen, er sei
nichts als ein junger lutherischer Pfarrer, der alles tat, was in sei¬nen Kräften stand, um seinem Vaterland zu dienen.
Aus einer Schublade nahm er die Kopien zweier gefälschter Berichte der Abwehr über frühere Reisen in die Schweiz. Reisen, die er angeblich als Agent der Abwehr unternommen hatte. Tat¬sächlich war er im Auftrag der Widerstandsbewegung gereist, um Kontakte mit den Alliierten herzustellen. Diese Papiere legte er für jedermann gut sichtbar hin, ebenso den Entwurf eines sorgfältig gefälschten Briefes, adressiert an Hans. Gemeinsam hatten sie sich diesen Brief vor kurzem ausgedacht, um die Blut¬hunde der Gestapo von ihrer Spur abzulenken. Der Brief, vor¬datiert auf den 6. November 194o, enthielt ein Scheinangebot Dietrichs, seine Kontakte zu führenden Männern der Ökumene zu nutzen, um der Abwehr Informationen zu beschaffen. In einer der Schreibtischschubladen lag der Essay »Nach zehn Jahren«, den er als Weihnachtsgeschenk für Hans von Dohnanyi, seinen Freund Eberhard Bethge und ein paar andere Widerstandskämp¬fer geschrieben hatte. Diese Blätter versteckte er sorgfältig zwi¬schen Dachbalken und Decke, über dem Schrank; da, wo das Dach schräg abfiel.
Könnte die Gestapo noch etwas anderes gefunden haben? Die Papiere der Widerstandsbewegung in Zossen? Diese Dokumente enthielten freilich ausreichende Beweise, um sie alle an den Gal¬gen zu bringen.
Noch ein letzter prüfender Blick! Dietrich griff nach dem bela¬stenden Ordner und ging so leise wie möglich die Treppe hinun¬ter. In einem Winkel des Gartens, hinter den leuchtend gelben Forsythiensträuchern, verbrannte er die gefährlichen Dokumente und verstreute die Asche. Dann lief er an den hohen Kiefern vor¬bei zum Haus seiner älteren Schwester Ursula Schleicher. Ursel würde ihm mit Sicherheit eine schöne heiße Mahlzeit servieren. Wer weiß, wann er wieder eine bekommen würde.
Es war 16.00 Uhr und Dietrich gerade mit dem Essen fertig, als sein Vater, Dr. Karl Bonhoeffer, an die Tür kam und seinen Sohn nach draußen rief.
fürchte, du kannst jetzt nicht länger hierbleiben«, sagte er mit sorgenvoller Miene. »Oben in deinem Zimmer sind zwei Beamte in Zivil. Sie wollen dich sprechen.«
»Überrascht mich nicht«, bemerkte Dietrich ruhig und berich¬tete seinem Vater von der seltsamen Stimme an Christels Telefon.
»Dann sind die also da, um dich abzuholen. Ich habe es befürchtet!«
Ganz offensichtlich hatten die Nazis seinen Vater direkt von einer Untersuchung geholt, denn er trug noch seinen weißen Kit¬tel.
So unbeschwert wie nur möglich verabschiedete sich Dietrich von seiner Schwester. Dann gingen er und sein Vater zurück. Bis¬her war noch keine Bombe der Alliierten in der Mitte ihres Hauses in der Marienburger Allee eingeschlagen. Die beiden Häuser der Bonhoeffers und der Schleichers sahen fast noch so frisch und neu aus wie vor acht Jahren, als sie gebaut worden waren.
»Sie beobachten uns von deinem Fenster aus«, flüsterte der Vater, ohne hinaufzusehen. »Wir dürfen auf keinen Fall lang¬samer gehen.«
Dietrich sah seinen Vater an, der aufgerichtet, ja würdevoll, neben ihm ging. Sein glattes Haar schneeweiß und etwas langer, als es die meisten Deutschen trugen, aber sorgfältig gepflegt. Der Vater war etwas kleiner als Dietrich, aber seine aufrechte Haltung und sein fester Schritt ließen niemanden seine fünfundsiebzig Jahre vermuten.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte der Vater leise und sehr bestimmt. »Aber ich habe mir eine Möglichkeit ausgedacht, wie wir miteinander in Verbindung bleiben Carmen. Wenn sie zulas¬sen, daß wir dir Bücher schicken - und das werden sie wohl kaum verhindern können dann suche auf jeder zweiten Seite nach einem Punkt unter einem Buchstaben, von hinten angefangen.« Er sah Dietrich an. »Es könnte funktionieren, aber wir müssen dar¬auf achten, daß die Markierungen nicht auffallen.
Dietrich überlegte fieberhaft. »Ja! Es wird funktionieren.« Ihm war nicht entgangen, daß sein Vater alle seine Ängste beiseitege¬schoben hatte und nur daran dachte, wie einem Gefangenen der Nazis geholfen werden könnte.
»Und immer dann, wenn du nach einer Nachricht suchen sollst, werde ich deinen Namen auf der ersten Seite unterstreichen.«
» Ja, natürlich. Danke, Papal«
An der Hintertür erwartete ihn mit angstvollem Gesicht seine Mutter. Dietrich ergriff ihre Hände. »Mama, du darfst dir keine Sorgen machen. Mir wird nichts passieren.«
Ihre Lippen zitterten.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie uns etwas nachweisen wollen«, beruhigte Dietrich seine Mutter. Sie blickte auf. »Aber ich habe schreckliche Angst. Hans haben sie auch geholt.«
Er erzählte ihr rasch von seinem Anruf bei Christel und davon, daß er sein Zimmer inzwischen gründlich »aufgeräumt« hatte. »Sie können nichts Belastendes finden. Wirklich, Mama.« Dabei lächelte er so aufmunternd, wie es ihm in dieser Situation nur möglich war.
Doch in ihren Augen war dieselbe Furcht wie vor zwei Wochen, als sie von Gersdorffs Mißerfolg erfahren hatte. Damals hatte sie gesagt: »Geh zu deinen Freunden nach Pommern. Es muß doch dort irgendwo ein Fischerboot geben, das dich nach Schweden bringen könnte.« Und er hatte geantwortet: »Das kann ich nicht tun, Mama.« Sie hatte ihn davon zu überzeugen versucht, daß die Gestapo so alte Leute wie sie schon nicht behelligen würde - aber Dietrich hatte es besser gewußt.
Dann hatte sich Hans verplappert und gesagt: »Wenn sie uns schnappen, kommt es vor allem darauf an, daß die Sache bei den Militärgerichten bleibt und nicht in die Hände der Gestapo gerät. Wenn die den Fall in die Hände bekommen, also . . . Keiner von uns weiß, wie lange er der Folter standhalten kann. Und die wer¬den wohl zum äußersten Mittel greifen.« Achtlose Worte - aber die Angst in den Augen seiner Mutter hatten sie vertieft.
»Ich glaube, ich muß jetzt gehen.« Hastig, beinahe flüsternd sagte er: »Vergiß nicht, ich bin ein guter Schauspieler! Und Hans und ich haben unsere Rollen gut gelernt. Hans wird die volle Ver¬antwortung für alle unsere Aktivitäten übernehmen. Er ist ein Spitzenanwalt. Er kommt damit klar, keine Sorge. Und Admiral Canaris wird alles bestätigen, was Hans sagt. Er wird sagen, er habe alles als Gegenspionage im Interesse des Reiches angeordnet. Ich werde die Rolle des schlichten, weltfremden Pfarrers spielen, unfähig zu eigener Initiative, auf Anweisungen von außen ange¬wiesen.« Er lächelte. »Es wird klappen! Da bin ich mir ganz sicher.« Dietrich verließ sie und ging die Treppe hinauf zu seinem Zimmer.
Die Tür zu Dietrichs Zimmer stand offen. Am Türrahmen lehnte ein Schakal im grauen Anzug, dessen Gesichtsausdruck ver¬riet, daß er sich seiner Beute sicher war. Dietrich blieb auf dem Treppenabsatz stehen und sah den Eindringling an, ohne ein Wort zu sagen.
»Sind Sie Dietrich Bonhoeffer?«
Ja, der bin ich.«
»Ich bin Oberstkriegsgerichtsrat Manfred Roeder.« Er wandte sich einem schmalgesichtigen Mann zu, der mitten im Zimmer stand. ',Mein Kollege hier ist Herr Kommissar Sonderegger von der Gestapo. Sicherlich wissen Sie, weshalb wir hier sind.«
»Ich habe keine Ahnung!« bemerkte Dietrich kühl. Doch das Wort »Gestapo« bohrte sich in sein Hirn.
Roeder entblößte die Zähne zu einem freudlosen Lächeln. »Dann werden wir es sehr bald feststellen.«
Dietrich überlegte angestrengt. Woher kannte er den Namen »Roeder« ? Richtig! Roeder war der Mann von der Rechtsabtei¬lung der Luftwaffe. Einen »Bluthund« hatte ihn Hans genannt. Erst kürzlich hatte seine Anklageführung den führenden Leuten der Roten Kapelle, dieser kommunistischen Widerstandsgruppe, die Todesstrafe eingebracht.
Roeder nickte dem Gestapomann zu, der mit einem Paar Hand¬schellen ankam.
Ist das wirklich notwendig?< fragte Dietrich. »Meine Eltern sind alt, und ich möchte nicht, daß sie sich ängstigen. Wenn ich weglaufen wollte, hätte ich es eben noch tun können.«
»Ihre Sprüche werden Ihnen nichts einbringen, Herr Bonhoef¬fer 0, wies ihn Sonderegger zurecht, die brennende Zigarette im Mund. Dietrich erkannte die rauhe Stimme, die er an Christels Telefon gehört hatte. Als Sonderegger die Handschellen um
Dietrichs Handgelenke legte, funkelten seine dunklen, tiefliegen¬den Augen triumphierend.
Roeder schob Dietrich einen Stuhl hin. »Setzen Sie sich! Dann können wir unsere Arbeit hier abschließen!«
Und jetzt begannen die beiden Männer wieder, das Zimmer zu durchsuchen. Dietrich sah vom Lehnstuhl aus zu und hoffte inständig, sie würden nichts finden. Eine Schublade stand auf dem Schreibtisch, und Roeder begann mit unverhülltem Vergnügen, darin herumzuwühlen. Er blätterte alle Papiere langsam durch und hielt dann eines von ihnen hoch. Nach einem argwöhnischen Blick in Dietrichs Richtung begann er, es zu lesen. Dietrich konnte von seinem Platz aus nicht erkennen, was für ein Papier es war. Ob er irgendetwas Belastendes übersehen hatte? Nachdem Roeder die Seite etwa zur Hälfte durchgelesen hatte, warf er es mit einer verächtlichen Handbewegung beiseite, schien darauf zu spucken.
»Wir wissen genau, daß Sie hier etwas versteckt haben! Und das versichere ich Ihnen, wir werden es finden! << Und zu Sonderegger, der sich mit den Büchern im Regal befaßte, sagte er: »Lassen Sie nichts aus, Herr Kommissar!
Nachdem Sonderegger jedes Buch überprüft hatte, ging er zum Kleiderschrank. Er durchsuchte alle Jackentaschen, alle Schuhe, wühlte in den Hutschachteln, die oben auf dem Schrank lagen -ganz dicht unter den Dachbalken. Dietrich wandte sich ab. Er konnte nicht länger hinsehen. Verzweifelt versuchte er sich daran zu erinnern, was er in diesem Essay geschrieben hatte. Etwas offenkundig Staatsfeindliches stand nicht darin. Das wußte er genau. Aber zwischen den Zeilen gab es viel zu lesen, und Roeder war klug genug, das zu erkennen. Inzwischen stocherte Sonder¬egger an den Balken herum. Nur in einem der Balken war ein Spalt, der breit genug war, den Essay darin zu verbergen. Sonder¬egger legte seine Hand auf diesen Balken, klopfte darauf, als argwöhne er, der Balken könne kohl sein. Er prüfte auch die anderen Balken und wandte sich dann ab, nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie alle massiv waren.
Dietrich stützte sein Kinn auf die Hände; bemüht, seine Erleich¬terung nicht erkennen zu lassen.
Nachdem die Suche noch eine Weile ergebnislos weitergegan¬gen war, tobte Roeder enttäuscht: »Seien Sie sich Ihrer Sache nicht allzu sicher, Herr Bonhoeffer! Wir haben viele Wege, die Wahrheit herauszubekommen. Und wir werden sie nutzen!
Es war schon fast i8.00 Uhr, als Roeder Dietrich erlaubte, eine kleine Tasche mit Toilettenartikeln, einem sauberen Hemd, einer Garnitur Unterwäsche und seiner Bibel zu packen. Dann gingen die beiden Männer mit ihm hinunter. Dietrichs Eltern warteten mit bangen Gesichtern in der Diele. Stumm, ohne ein einziges Wort.
Dietrich blickte Lange in das Gesicht seiner Mutter und sah vol¬ler Erschütterung, wie sehr sie sich mühte, Liebe und Ermutigung über Furcht und Entsetzen siegen zu lassen. Sie küßte ihren Sohn -ohne Tränen. Aber er wußte, welch übermenschliche Anstrengung sie das kostete. Sein Vater, der sich immer in der Gewalt hatte, ver¬riet den Aufruhr seiner Gefühle nur durch seine angespannten Gesichtszüge.
Der schwarze Mercedes wendete. Dietrich hob seine gefesselten Hände, um den Eltern zum Abschied zuzuwinken. Und dann war ihr Sohn nicht mehr da.
Roeder saß am Steuer. Als er den alten Reichskanzler-Platz -inzwischen Adolf-Hitler-Platz - umrundete, lenkte er das Auto mit arroganter Rücksichtslosigkeit gegen alles, was ihm entgegen¬kam. Am Sophie-Charlotte-Platz bogen sie ab und steuerten nach Norden, weg vom Gestapo-Hauptquartier. Seit Roeder Sondereg¬ger vorgestellt hatte, war Dietrich von der Angst vor der Prinz¬Albrecht-Straße erfüllt gewesen. Sie fuhren jetzt an dem alten Käseladen vorbei, wo die Nazis vor zehn Jahren Dietrichs Jugend¬stube für Arbeitslose zerstört hatten. Zehn Jahre? War das wirk¬lich schon zehn Jahre her? Andererseits - wenn er daran dachte, was inzwischen alles passiert war . . . Reichten da zehn Jahre?
Jetzt hatten sie das Schloß Charlottenburg umrundet und fuh¬ren über die Spree auf den Tegeler Weg. Und nun wußte Dietrich, wohin sie ihn brachten - ins Zuchthaus Tegel, im äußersten Nord¬westen der Stadt. Schon ein paarmal hatte er im Vorbeifahren die trostlosen alten Gebäude hinter der hohen, dicken roten Ziegel¬steinmauer gesehen.
Sie jagten die wenig belebte Jungfernheide entlang, über den alten Schießübungsplatz, der jetzt ein Flugplatz war, auf dem Görings Kampfflugzeuge unter Tarnnetzen verborgen standen, und erreichten schließlich die Seidelstraße. Bald waren auf der rechten Seite die riesigen Borsig-Eisenwerke erkennbar, und dann, nach einem guten Kilometer, das Zuchthaus.
Es wurde bereits dunkel, als sie in die Toreinfahrt einbogen. Im Außenhof hielt der Wagen am Torhaus, die massive Eisentür öff¬nete sich, sie rollten durch die schmale Durchfahrt. Das Tor schloß sich hinter ihnen mit der Endgültigkeit einer Totenglocke.
Roeder brachte den Wagen zwischen zwei rechteckigen Gebäu¬den zum Stehen. Ein Beamter, der sie zu erwarten schien, kam aus einem der Gebäude heraus und nahm ein Dokument entgegen, das ihm Roeder durchs Wagenfenster reichte. Gleich darauf zerrten zwei kräftige Wachbeamte Dietrich aus dem Wagen und brachten ihn in das andere Gebäude.
In einem niedrigen Raum machten sich die Wärter daran, ihn zu durchsuchen. Dietrich blickte starr geradeaus, angestrengt darauf bedacht, sich durch diese demütigende Prozedur nicht verletzen zu lassen. Sie konfiszierten seine Uhr, sein Portemonnaie und das wenige Kleingeld, das er in der Tasche trug. Dann, nachdem seine Handschellen entfernt worden waren, nahm ein Beamter ihm die Fingerabdrücke ab. Mit betont gelangweilten und schleppenden Bewegungen stellte ihn der Beamte vor einen schwarzen Vorhang, schaltete einen Scheinwerfer ein und fotografierte Dietrich mit einer uralten Kamera. Dann forderte er ihn auf - in gleichgültig bösem Ton -, die kleine Tasche herauszugeben.
»Warum wurde mir denn erlaubt, sie mitzubringen, wenn ich sie jetzt nicht behalten darf? « protestierte Dietrich.
»Sie kriegen sie schon wieder, antwortete der Mann. Und dann zu den Wärtern: »Bringt ihn weg!«
»Los, hier entlang!« kommandierte einer von ihnen und stieß Dietrich in einen schmalen Gang.
»Welche Zelle haben die gesagt? < wollte der andere wissen. »Nummer sechs.
»Ist das der Letzte für heute?
»Das will ich hoffen.
Sie durchquerten eine Sperre aus eisernen Gittern, die der Wärter hinter ihnen sorgfältig verschloß, und gingen durch einen langen Flur - Stahltüren auf beiden Seiten. Etwa auf halbem Wege blieben sie unvermittelt vor einer der Türen stehen. Der erste Mann suchte einen Schlüssel aus seinem Bund und schloß die Tür auf.
»Da hinein, du verdammtes Schwein!« Der Wärter stieß Diet¬rich mit solcher Gewalt in die Zelle, daß Dietrich stolperte. Noch bevor er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, fiel die schwere Tür krachend hinter ihm zu. Der Schlüssel wurde im Schloß herum¬gedreht - Stille.
Dietrich wußte nicht, wie lange er dort gestanden hatte, in sinn¬losem Zorn die Tür anstarrend. Die Tür hatte weder Knopf noch Klinke. In Augenhöhe ein Loch von vielleicht sieben Zentimetern Durchmesser, das sich nach außen auf die Größe einer Murmel ver¬engte.
Er ging näher heran und schaute hindurch, aber er konnte nichts als ein kleines Stück der gegenüberliegenden Wand erkennen. Nun widmete er sich seiner finsteren Zelle. Nirgendwo ein Lichtschal¬ter. Von oben fiel durch einen schmalen Fensterschlitz kaltes blaues Licht in den Raum. Der Schatten der Gitterstäbe zeichnete sich auf der Pritsche an der Wand ab. Auf der anderen Seite stand eine Bank mit einem niedrigen Hocker daneben, dazu ein entsetzlich nach Urin stinkender Eimer. Dietrich kletterte auf die Bank und sah hin¬aus auf einen kleinen Hof, der von allen Seiten von hohen Mauern umschlossen war. Ein anderes Gebäude versperrte ihm den Blick auf den Himmel. Die Aussicht, die ein Kerkerloch bot.
Zu erregt, um sich ruhig hinsetzen zu können, lief Dietrich lange Zeit in dem engen Raum auf und ab. Endlich setzte er sich auf die Bank, lehnte seinen Kopf gegen die Wand. Er spürte die Kälte der Steine. Eine Heizung gab es nicht, und in diesen Aprilnächten sank die Temperatur oft noch bis zum Gefrierpunkt. Hätte er doch nur einen Pullover unter seinen Mantel angezogen. Aber wer hätte in dieser Situation schon an ein unbeheiztes Zimmer gedacht!
Mit skeptischem Blick betrachtete Dietrich die Decke auf dem schmalen Bett. Sie fühlte sich genauso schmierig an, wie sie aussah.
Als er sie sich um die Schultern legen wollte, entströmte ihr ein so widerwärtiger Gestank, daß er sie angeekelt fallen ließ. Müde kauerte er sich in die Ecke des Bettes, zog die Knie an und schlang die Arme darum. Lange Zeit blieb er so bewegungslos sitzen.
Gedämpfte Geräusche von anderen Gefangenen drangen in seine Zelle, das Scharren von Füßen, ein gemurmelter Fluch, das Ächzen einer Pritsche und - weiter den Flur hinab - klirrende Ket¬ten. Irgendwo wurde eine Tür geöffnet. Schritte stampften den Flur entlang. An der Sperre dann Stille, Schlüssel rasselten,
wäh¬rend die Gittertür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Die Schritte näherten sich Dietrichs Tür und - entfernten sich wieder, ohne anzuhalten. Erst in diesem Moment bemerkte er, wie ange¬spannt jeder Muskel seines Körpers war. Die Schritte kamen wie¬der - und entfernten sich wieder. Es war nur der Wärter, der seine Runde machte. Bestürzt fragte sich Dietrich: Wenn ich schon dar¬auf so heftig reagiere, wie werde ich es dann verkraften, wenn sie tatsächlich kommen, um mich zum Verhör zu holen?
Dietrich versuchte zu beten. Irgendwie hatte er sich ja auf diese Situation vorbereitet; hatte tief in seinem Innern gewußt, daß es eines Tages soweit sein würde. Andere Männer hatten sich dieser Situation zweifellos mit größerem Gleichmut gestellt - Martin Niemöller zum Beispiel, der nun schon sechs Jahre im Konzentra¬tionslager saß.
Im Laufe der Nacht ließ allmählich die quälende Anspannung nach, und auch seine gehetzten Gedanken kamen allmählich zur Ruhe. Es tröstete ihn zu wissen, daß er nicht tatenlos geblieben war, nicht nur zugesehen hatte, nachdem ihm das Unrecht dieses Regimes klargeworden war.
Angefangen hatte alles - ihm selbst fast unbewußt - mit einem Vortrag im Berliner Rundfunk, zwei Tage nach Hitlers Machter¬greifung, am I. Februar 1933. Er war mit sich ziemlich zufrieden gewesen, und seine Studenten hatten sich stolz und begeistert gezeigt. Sein Thema, »Das Führerprinzip«, schien hervorragend in das Zeitgeschehen zu passen, obwohl der Vortrag schon vor Wochen geplant und erst ein paar Tage vor dem Machtwechsel geschrieben worden war.
Alles schien gutzugehen an jenem Tag, bis Dietrich zu dem Punkt kam, wo er seine Zuhörer vor einem Führer warnte, »der sich und sein Amt zum Götzen erhebt und so Gott verhöhnt«. Genau in diesem Augenblick hatte ihn der Sendeleiter unterbro¬chen und ihm gesagt, er sei nicht mehr auf Sendung.
Dietrich hatte nie erfahren, was tatsächlich geschehen war. Anfangs hatte er an einen technischen Fehler geglaubt, obwohl niemand im Studio diese Ansicht teilte. Dann gab es Überlegungen, ob Goebbels vielleicht schon zu diesem frühen Zeitpunkt die Rundfunksender unter seiner Kontrolle hatte.
Die Baumwollmatratze auf der Pritsche war dünn. Er wurde allmählich müde, versuchte, sich etwas bequemer hinzusetzen, denn um sich auszustrecken, war es zu kalt. Ein dünner Glockenschlag ertönte. Ein Uhr morgens.
Der Radiovortrag in jenem Jahr war nur der Anfang eines Jah¬res voller Aufruhr gewesen. Noch im selben Monat - ja, Ende Februar war es gewesen - hatten die Nazis Dietrichs Jugend¬stube für Arbeitslose zerstört. Eines Abends waren er und die Männer - durch lautes Rufen aufgeschreckt - auf die Straße hin¬untergelaufen. Und da hatten sie es gesehen - einer der Männer lag reglos da, den Kopf in einer Blutlache. Noch jetzt sah er das Blut im Schnee. Dietrich war sich ganz sicher gewesen, daß er tot sei. Der andere, Röpke, einer der beiden Kommunisten im Club, rappelte sich langsam Koch. Er hatte eine blutende Schnittwunde im Gesicht. Andere Mitglieder des Clubs standen erschreckt im Halbkreis um ihn herum.
>>Nazis! SA!« formulierte Röpke mühsam. »Sie wollten uns umbringen.
An der nächsten Straßennecke hatte Dietrich die SA-Männer unter einer Straßenlaterne entdeckt, fünf oder sechs in ihren braunen Uniformen. Mit seinem Taschentuch hatte er versucht, das Bluten an Röpkes Wange zum Stillstand zu bringen, und dann hatte er sich um den Mann im Schnee gekümmert. Die Wunde an dessen Kopf sah übel aus - ein Schädelbruch, kein Zweifel! Dazu ein mehr als schwacher Puls. Dietrich hatte seinen Mantel ausgezogen und ihn über den Mann gelegt. »Wir dürfen
ihn nicht bewegen. Ihr bleibt hier! Ich gehe rauf und rufe meinen Vater an.
Im Wartezimmer des Krankenhauses, in dem sein Vater arbei¬tete, hatte er dann mit Röpke gesessen, während sein Vater und ein Kollege Röpkes Freund operierten.
Dietrich erschauerte in der Kälte, zog seine Knie enger an die Brust. Ja, so hatte alles angefangen. Der Mann hatte die Opera¬tion überlebt, und Dietrich hatte sich immer wieder gefragt, ob es derselbe Trupp Nazis gewesen war, der eine Woche später die Jugendstube verwüstet hatte. Aber war das überhaupt wichtig? Nazi war Nazi.
Copyright © Brunnen Verlag, Gießen
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Bibliographische Angaben
- Autor: Mary Glazener
- 2020, 3. Aufl., 528 Seiten, Maße: 12 x 18,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Christian Rendel
- Verlag: Brunnen
- ISBN-10: 3765541508
- ISBN-13: 9783765541506
- Erscheinungsdatum: 01.02.2012
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