Der lange Weg zur Freiheit
Autobiographie
Nelson Mandela:
Der lange Weg zur Freiheit
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Der lange Weg zur Freiheit
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der lange Weg zur Freiheit “
Nelson Mandela:
Der lange Weg zur Freiheit
Held der Freiheit, Jahrhundert-Politiker, Friedensnobelpreisträger ... Über Nelson Mandela wird die Welt in 500 Jahren noch sprechen. Das Buch „Der lange Weg zur Freiheit" ist Mandelas Vermächtnis.
Bereits 1944 begann der Anti-Apartheid-Kämpfer sich im National African Congress (ANC) zu engagieren - eine Aktivität, die ihn das rassistische Regime büßen ließ: Als politischer Gefangener verbrachte Nelson Mandela insgesamt 27 Jahre in Haft. Wie er diese schwere Zeit bewältigte und wie es ihm gelang, sich während der Gefangenschaft nicht entmutigen zu lassen, beschreibt er ausführlich und eindringlich in seiner Autobiographie "Der Lange Weg zur Freiheit".
Für seinen unermüdlichen Kampf für Freiheit, gegen Rassentrennung, Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit wurde Nelson Mandela im Jahr 1993 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Und im darauf folgenden Jahr wählte ihn das südafrikanische Volk zum ersten schwarzen Präsidenten des Landes, ein Amt, das er bis 1999 ausübte.
Nelson Mandela symbolisiert die Friedenshoffnungen der Menschheit und den Gedanken der Aussöhnung aller Rassen auf Erden wie kaum ein anderer Politiker. Seine Lebensgeschichte "Der Lange Weg zur Freiheit" ist über die politische Bedeutung hinaus ein überaus fesselndes und detailreiches Dokument menschlicher Entwicklung.
Nelson Mandela, der am 5. Dezember 2013 im Alter von 95 Jahren im Kreise seiner Familie gestorben ist, hat mit „Der lange Weg zur Freiheit" ein persönliches Vermächtnis hinterlassen, das "Dokument seiner außergewöhnlichen Erfahrungen und der intensiven Identitätssuche". (Deutschlandfunk).
"Der lange Weg zur Freiheit" ist Nelson Mandelas Botschaft an die Menschheit, eine Botschaft, deren Gültigkeit und Wahrheit zeitlos ist. Kern dieser Botschaft ist der Aufruf zu Freiheit und Brüderlichkeit - über alle Ethnien hinweg. Und der Appell, im Engagement gegen Gewalt und Unterdrückung nie nachzulassen.
Der lange Weg zur Freiheit
Held der Freiheit, Jahrhundert-Politiker, Friedensnobelpreisträger ... Über Nelson Mandela wird die Welt in 500 Jahren noch sprechen. Das Buch „Der lange Weg zur Freiheit" ist Mandelas Vermächtnis.
Bereits 1944 begann der Anti-Apartheid-Kämpfer sich im National African Congress (ANC) zu engagieren - eine Aktivität, die ihn das rassistische Regime büßen ließ: Als politischer Gefangener verbrachte Nelson Mandela insgesamt 27 Jahre in Haft. Wie er diese schwere Zeit bewältigte und wie es ihm gelang, sich während der Gefangenschaft nicht entmutigen zu lassen, beschreibt er ausführlich und eindringlich in seiner Autobiographie "Der Lange Weg zur Freiheit".
Für seinen unermüdlichen Kampf für Freiheit, gegen Rassentrennung, Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit wurde Nelson Mandela im Jahr 1993 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Und im darauf folgenden Jahr wählte ihn das südafrikanische Volk zum ersten schwarzen Präsidenten des Landes, ein Amt, das er bis 1999 ausübte.
Nelson Mandela symbolisiert die Friedenshoffnungen der Menschheit und den Gedanken der Aussöhnung aller Rassen auf Erden wie kaum ein anderer Politiker. Seine Lebensgeschichte "Der Lange Weg zur Freiheit" ist über die politische Bedeutung hinaus ein überaus fesselndes und detailreiches Dokument menschlicher Entwicklung.
Nelson Mandela, der am 5. Dezember 2013 im Alter von 95 Jahren im Kreise seiner Familie gestorben ist, hat mit „Der lange Weg zur Freiheit" ein persönliches Vermächtnis hinterlassen, das "Dokument seiner außergewöhnlichen Erfahrungen und der intensiven Identitätssuche". (Deutschlandfunk).
"Der lange Weg zur Freiheit" ist Nelson Mandelas Botschaft an die Menschheit, eine Botschaft, deren Gültigkeit und Wahrheit zeitlos ist. Kern dieser Botschaft ist der Aufruf zu Freiheit und Brüderlichkeit - über alle Ethnien hinweg. Und der Appell, im Engagement gegen Gewalt und Unterdrückung nie nachzulassen.
Klappentext zu „Der lange Weg zur Freiheit “
»Ich bin einer von ungezählten Millionen, die durch Nelson Mandelas Leben inspiriert wurden.« Barack ObamaEine fast drei Jahrzehnte währende Gefängnishaft ließ Nelson Mandela zum Mythos der schwarzen Befreiungsbewegung werden. Kaum ein anderer Politiker unserer Zeit symbolisiert heute in solchem Maße die Friedenshoffnungen der Menschheit und den Gedanken der Aussöhnung aller Rassen wie der ehemalige südafrikanische Präsident und Friedensnobelpreisträger. Auch nach seinem Tod finden seine ungebrochene Charakterstärke und Menschenfreundlichkeit die Bewunderung aller friedenswilligen Menschen auf der Welt. Mandelas Lebensgeschichte ist über die politische Bedeutung hinaus ein spannend zu lesendes, kenntnis- und faktenreiches Dokument menschlicher Entwicklung unter Bedingungen und Fährnissen, vor denen die meisten Menschen innerlich wie äußerlich kapituliert haben dürften.
Lese-Probe zu „Der lange Weg zur Freiheit “
Der lange Weg zur Freiheit von Nelson Mandela1.Teil
Eine Kindheit auf dem Lande
Außer dem Leben, einer starken Konstitution und einer dau¬erhaften Verbindung zum Thembu-Königshaus gab mir mein Vater bei meiner Geburt nur einen Namen mit, Rolihlahla. Wört¬lich bedeutet Rolihlahla: >>Am Ast eines Baumes ziehen<<, doch der umgangssprachliche Sinn lautet ziemlich genau: >>Unruhestifter<<. Ich glaube nicht, daß Namen etwas Schicksalhaftes haben oder daß mein Vater irgendwie ahnte, was für eine Zukunft mich erwartete, doch in späteren Jahren machten Freunde und Verwandte oft meinen Geburtsnamen verantwortlich für die vielen Stürme, die ich sowohl verursacht als auch überstanden habe. Meinen bekannteren englischen oder christlichen Namen erhielt ich an meinem ersten Schultag, aber ich greife voraus.
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Geboren wurde ich am i8. Juli 1918 in Mvezo, einem winzi¬gen Dorf am Ufer des Mbashe im Distrikt Umtata, der Haupt¬stadt der Transkei. In mein Geburtsjahr fiel das Ende des Ersten Weltkrieges, der Ausbruch einer Grippeepidemie, die überall auf der Welt Millionen Menschen tötete, und der Besuch einer Delegation des African National Congress bei der Versailler Frie¬denskonferenz, um den Klagen afrikanischer Menschen aus Süd-afrika Gehör zu verschaffen. Mvezo jedoch war alldem weit entrückt, ein winziger Bezirk abseits der Welt der großen Ereignisse, ein Ort, wo das Leben weitgehend noch immer so gelebt wurde wie seit Hunderten von Jahren.
Die Transkei, über tausend Kilometer östlich von Kapstadt ge¬legen, mehr als 800 Kilometer südlich von Johannesburg, dehnt sich zwischen dem Kei River und der Grenze zu Natal, zwischen den zerklüfteten Drakensbergen im Norden und den blauen Wassern des Indischen Ozeans im Osten. Es ist eine wunder¬schöne Landschaft mit dahinschwingenden Hügeln, fruchtbaren Tälern und tausend Flüssen und Bächen, die zum Meer streben und das Land auch im Winter grün halten. Die Transkei war eines der größen Territorien innerhalb von Südafrika, mit 43 000 Quadratkilometer etwa so groß wie die Schweiz, mit ei¬ner Bevölkerung von ungefähr dreieinhalb Millionen Xhosas und einer winzigen Minderheit von Basothos und Weißen. Es ist auch die Heimat der Thembus, zu denen ich gehöre und die ein Teil des Xhosa-Volkes sind.
Mein Vater, Gadla Henry Mphakanyiswa, war Häuptling nach Abstammung und Brauchtum. Vom König des Thembu¬-Stammes wurde er zum Häuptling von Mvezo bestimmt, doch unter britischer Herrschaft mußte diese Ernennung bestätigt werden von der Regierung, die in Mvezo vom örtlichen Ma¬gistrate (hoher weißer Verwaltungsbeamter) vertreten wurde. Als von der Regierung eingesetzter Häuptling stand ihm ein Ge¬halt zu sowie ein Teil der Gebühren, welche die Regierung bei der Gemeinde erhob für die Impfung des Viehs und die Nutzung des Weidelands. Obwohl die Häuptlingsrolle Respekt und Anerken¬nung genoß, war ihr Ansehen jedoch vor fünfundsiebzig Jahren gesunken aufgrund der Kontrolle einer wenig einfühlsamen weißen Regierung.
Der Thembu-Stamm reicht zwanzig Generationen zurück bis zu König Zwide. Traditionsgemäß lebten die Thembus in den Ausläufern der Drakensberge und zogen im 16. Jahrhundert in Richtung Küste, wo sie zu einem Teil des Xhosa-Volkes wurden. Die Xhosa gehören zu den Nguni, die wenigstens seit dem 11. Jahrhundert in der südöstlichen Region von Südafrika, zwi¬schen dem großen inneren Plateau im Norden und dem Indi¬schen Ozean im Süden, gelebt, gejagt und gefischt haben. Man kann die Nguni aufteilen in eine nördliche Gruppe - die Zulu und die Swasi - und eine südliche Gruppe, bestehend aus den amaBaca, den amaBomyana, den amaGealeka, den amaMfengu, den amaMpodomis, den amaMpondo, den abeSotho und den abeThembu, und zusammen bildeten sie die Xhosa-Nation.
Die Xhosa sind stolze, patrilineare Menschen mit einer aus¬drucksstarken, wohlklingenden Sprache und einem unerschütterlichen Glauben an die Bedeutung von Recht, Erziehung und Höflichkeit. Die Xhosa-Gesellschaft hatte eine ausgewogene, har¬monische Sozialordnung, in der jeder einzelne seinen Platz kann¬te. Jeder Xhosa gehört zu einem Clan, der seine Herkunft auf ei¬nen bestimmten Vorfahren zurückführt. Ich bin ein Angehöriger des Madiba-Clans, der nach einem Thembu-Häuptling benannt ist, der im i8. Jahrhundert in der Transkei herrschte. Oft spricht man mich mit Madiba an, meinem Clan-Namen, was als respekt¬volle Bezeichnung gilt.
Ngubengcuka, einer der größten Monarchen, der den Them¬bu-Stamm vereinigte, starb 1832. Der damaligen Sitte entspre¬chend hatte er Frauen aus den großen Königshäusern, dem Großen Haus, aus dem der Erbe ausgewählt wird, dem Haus Rechter Hand und dem Ixhiba, einem kleineren Haus, das auch Haus Linker Hand genannt wird. Die Aufgabe der Söhne des Hauses Linker Hand bestand darin, königliche Streitigkeiten bei¬zulegen. Mthikrakra, der älteste Sohn des Großen Hauses, folg¬te auf Ngubengcuka, und zu seinen Söhnen gehörten Ngangeli¬zwe und Matanzima. Sabata, der die Thembu von 1954 regierte, war der Enkel von Ngangelizwe und älter als Kaezer Daliwon¬ga, besser bekannt als K. D. Matanzima, der frühere Chief Mi¬nister der Transkei - mein Neffe kraft Recht und Brauchtum der ein Abkömmling von Matanzima war. Der ältestes Sohn des Ixhiba-Hauses oder des Hauses Linker Hand war Simakade, dessen jüngerer Bruder Mandela war, mein Großvater.
Im Laufe der Jahrzehnte hat es viele Geschichten gegeben, nach denen ich ein Anwärter oder Mitanwärter auf den Thembu¬-Thron sei, doch die einfache, oben von mir dargelegte Gene¬alogie entlarvt solche Erzählungen als Märchen. Obwohl ich ein Angehöriger der königlichen Hofhaltung war, gehörte ich nicht zu den wenigen Privilegierten, die zum Herrschen erzogen wur¬den. Stattdessen wurde ich, als Abkömmling des Hauses Linker Hand, wie mein Vater vor mir, dazu erzogen, die Herrscher des Stammes zu beraten.
Mein Vater war ein hochgewachsener, dunkelhäutiger Mann mit einer aufrechten, würdevollen Körperhaltung, die ich, wie ich mir gern einbilde, von ihm geerbt habe. Genau über seiner Stirn hatte er ein Büschel weißes Haar, und als kleiner Junge rieb ich mir, um ihm nachzueifern, weiße Asche ins Haar. Mein Vater war sehr streng, und zur Züchtigung seiner Kinder benutzte er kräftig die Rute. Er konnte außerordentlich starrsinnig sein, ein weiterer Charakterzug, den der Sohn bedauerlicherweise vom Vater geerbt hat.
Mitunter hat man meinen Vater als den Premierminister von Thembuland bezeichnet, und zwar während der Regierungszeit sowohl von Dalindyebo, Sabatas Vater, der im frühen 20. Jahr¬hundert herrschte, als auch von dessen Sohn, Jongintaba, der ihm nachfolgte. Premierminister ist eine Fehlbezeichnung, weil es einen solchen Titel nicht gab, doch hätte er der Rolle, die mein Vater spielte, weitgehend entsprochen. Er war ein geachteter und geschätzter Berater beider Könige, die er auf ihren Reisen be-gleitete, und für gewöhnlich fand man ihn bei wichtigen Ver¬handlungen mit Regierungsbeamten an ihrer Seite. Er war ein anerkannter Hüter der Xhosa-Geschichte, und zum Teil war dies der Grund dafür, daß er als Berater geschätzt wurde. Mein eigenes Interesse an Geschichte hat frühe Wurzeln und wurde von meinem Vater gefördert. Obwohl er weder lesen noch schrei¬ben konnte, galt mein Vater als hervorragender Redner, der sei¬ne Zuhörer, sie gleichermaßen belehrend wie unterhaltend, fes¬seln konnte.
In späteren Jahren entdeckte ich, daß mein Vater nicht nur ein Königsberater, sondern auch ein Königsmacher war. Nach dem frühzeitigen Tod von Jongilizwe in den zoer Jahren war sein Sohn Sabata, das Kind der Großen Gemahlin, noch zu jung zur Thronbesteigung. Es gab einen Disput darüber, welcher von Jongilizwes drei ältesten Söhnen von anderen Müttern - Jongin¬taba, Dabulamanzi und Melithafa - zu seinem Nachfolger gewählt werden sollte. Man konsultierte meinen Vater, und er emp¬fahl Jongintaba mit der Begründung, er sei der Gebildetste von ihnen und er werde nicht nur der beste Treuhänder der Krone, sondern auch ein ausgezeichneter Mentor des jungen Prinzen sein. Mein Vater - wie auch einige andere einflußreiche Häupt¬linge - empfand für Bildung die allergrößte Achtung, wie das oft der Fall ist bei Menschen, die ungebildet sind. Die Empfehlung meines Vaters war umstritten, da Jongintabas Mutter aus einem geringeren Hause stammte. Doch wurde die Wahl meines Vaters schließlich sowohl von den Thembus als auch der britischen Re¬gierung akzeptiert. Später sollte Jongintaba sich für die Fürspra¬che in einer Weise erkenntlich zeigen, die mein Vater sich damals nicht hat vorstellen können.
Alle erzählten, mein Vater habe vier Frauen gehabt, von denen die dritte, meine Mutter, Nosekeni Fanny, die Tochter von Nke¬dama vom amaMpemvu-Clan der Xhosa, dem Haus Rechter Hand entstammte. Jede dieser Frauen, die Große Gemahlin, die Ehefrau Rechter Hand (meine Mutter), die Ehefrau Linker Hand und die Ehefrau aus dem Iqadi (oder dem unterstützenden Haus), hatte ihren eigenen Kral, das heißt eine Umfriedung für Tiere, die auch Felder und Hütten umschließen konnte und so etwas wie ein Homestead, ein Gehöft, war. Diese Krals lagen viele Meilen auseinander, und mein Vater pendelte gleichsam zwischen ihnen. Insgesamt zeugte er dreizehn Kinder, vier Jungen und neun Mädchen. Ich bin das älteste Kind des Hauses Rechter Hand und der jüngste von meines Vaters vier Söhnen. Ich habe drei Schwestern, Baliwe, die das älteste Mädchen war, Notancu und Makhutswana. Obwohl der älteste Sohn Mlahlwa war, war mei¬nes Vaters Erbe als Häuptling der Sohn des Großen Hauses, Daligqili, der Anfang der 30er Jahre starb. Die anderen drei Söhne sind inzwischen alle verstorben, und jeder von ihnen war mir nicht nur dem Alter nach, sondern auch im Rang voraus.
Während ich noch kaum mehr als ein Neugeborenes war, ge¬riet mein Vater in einen Zwist, der ihn seine Häuptlingswürde in Mvezo kostete und bei ihm einen Charakterzug enthüllte, den ich wohl geerbt habe. Zwar bin ich der Ansicht, daß es haupt¬sächlich die Umwelt und nicht die Veranlagung ist, die den Charakter formt, doch mein Vater besaß eine stolze Aufsässigkeit, einen unbeugsamen Sinn für Fairneß, die ich an mir selbst wie¬dererkenne. Wie schon ervvähnt, war mein Vater Häuptling - von den Weißen oft auch Headman genannt - und hatte sich in seinem Amt nicht nur dem Thembu-König, sondern auch dem örtlichen Magistrate gegenüber zu verantworten. Eines Tages brachte einer der Untertanen meines Vaters eine Klage gegen ihn vor, die von einem Ochsen handelte, der seinem Besitzer entlau¬fen war.. Der Magistrate schickte eine entsprechende Botschaft, mit der meinem Vater befohlen wurde, vor ihm zu erscheinen. Als mein Vater die Aufforderung erhielt, sandte er folgende Antwort zurück: »Andizi, ndisaqula« ( »Ich werde nicht kommen, ich rüste mich noch für die Schlacht« ). Dies ist ein Xhosa-Aus¬druck, der besagt, daß ein Mann sich zur Schlacht rüstet. Aber damals trotzte man einem Magistrate nicht auf solche Weise. Ein solches Verhalten hätte als Gipfel der Aufsässigkeit gegolten -was es in diesem Fall auch war.
Die Antwort meines Vaters bewies seine Überzeugung, daß der Magistrate keine legitime Macht über ihn hatte. In Stammes¬angelegenheiten ließ er sich nicht von den Gesetzen des Königs von England leiten, sondern von der Thembu-Tradition. Diese Mißachtung war nicht einfach eine persönliche Empfindlichkeit, sondern eine Sache des Prinzips. Er machte geltend, was er für sein traditionelles Vorrecht als Häuptling hielt, und forderte die Autorität des Magistrates heraus.
Als der Magistrate die Antwort meines Vaters erhielt, be¬schuldigte er ihn umgehend der Insubordination. Es gab keiner¬lei Befragung oder Ermittlung; das war weißen Beamten vorbe¬halten. Der Magistrate entzog ihm schlicht seinen Rang, womit das Häuptlingstum der Mandela-Familie sein Ende fand.
Von diesen Ereignissen ahnte ich damals nichts, doch die Aus¬wirkungen betrafen auch mich. Mein Vater, der nach den Ma߬stäben seiner Zeit ein wohlhabender Adliger war, verlor seinen Titel und auch sein Vermögen. Man nahm ihm den größten Teil seiner Herde und seines Landes, mithin auch die entsprechenden Erträge. Wegen dieser beschränkten Lebensumstände zog meine Mutter nach Qunu, einem nur wenig größeren Dorf westlich von Mvezo, wo sie die Unterstützung von Freunden und Verwandten finden würde. In Qunu lebten wir in einem bescheideneren Stil, doch verbrachte ich dort, in jenem Dorf bei Umtata, einige der glücklichsten Jahre meiner Knabenzeit; auch rühren von dort meine frühesten Erinnerungen her.
* * *
Das Dorf Qunu lag in einem engen grasbewachsenen Tal inmitten von grünen Hügeln und wurde von einer Reihe von Bächen durchquert. Die Einwohnerschaft betrug nur wenige hundert Menschen, die in Hütten lebten, bienenstockartigen Bauten aus Lehmwänden und gewölbten Grasdächern mit Holz-pfählen in der Mitte, auf denen das Dach ruhte. Der Fußboden bestand aus zerstampftem Ameisenhaufen, jener harten Wöl¬bung über einer Ameisenkolonie, und wurde glattgehalten durch das regelmäßige Einschmieren mit frischen Kuhfladen. Die einzi¬ge Hoffnung war eine niedrige Tür, und der Rauch vom Herd ent¬wich durch das Dach. Die Hütten standen im allgemeinen grup¬penweise zusammen in einer Art Wohnviertel, das ein Stück von den Maisfeldern entfernt lag. Es gab keine Straßen, sondern nur Trampelpfade durch das Gras, von barfüßigen Kindern und Frauen getreten. Die Frauen und Kinder trugen in Ocker gefärb¬te Wolldecken; nur die wenigen Christen im Dorf trugen Klei-dung westlichen Stils. Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde grasten auf gemeinsamen Weiden, Das Land um Qunu war fast gänzlich baumlos, abgesehen von einer Gruppe von Pappeln auf dem Hügel, der das Dorf beherrschte. Das Land selbst gehörte dem Staat. Bis auf wenige Ausnahmen waren Afrikaner damals keine Grundbesitzer, sondern Pächter, die der Regierung alljährlich Pacht zu zahlen hatten. In dem Gebiet gab es zwei kleine Grund¬schulen, einen Kaufladen und einen sogenannten Dipping Tank, in dem das Vieh von Zecken und Krankheiten befreit wurde.
Mais (oder was wir Mealies nannten und Leute im Westen Corn), Hirse, Bohnen und Kürbisse bildeten den Hauptteil unserer Nahrung, nicht weil wir eine angeborene Vorliebe für diese Dinge gehabt hätten, sondern weil die Leute sich nichts Besseres leisten konnten. Die reicheren Familien in unserem Dorf ergänz¬ten ihre Nahrung durch Tee, Kaffee und Zucker, doch für die meisten Menschen in Qunu waren dies exotische Luxusgüter, die ihre Möglichkeiten weit überstiegen. Das Wasser, das für die Landwirtschaft sowie zum Kochen und Waschen gebraucht wurde, mußte eimerweise von Bächen und Teichen geholt wer¬den. Dies war Frauenarbeit, und in der Tat war Qunu ein Dorf der Frauen und Kinder: Die meisten Männer verbrachten den größeren Teil des Jahres als Arbeiter in den Minen entlang dem Reef, jenem großen Bergkamm aus goldhaltigem Fels und Schie¬fer, der die südliche Begrenzung von Johannesburg bildet. Viel¬leicht zweimal im Jahr kehrten sie zurück, und das hauptsäch¬lich, um ihre Felder zu pflügen. Das Hacken, Jäten und Ernten war Sache der Frauen und Kinder. Im Dorf konnten nur wenige, falls überhaupt, lesen oder schreiben, und der Gedanke an Bil-dung war damals noch vielen fremd.
Meine Mutter war in Qunu für drei Hütten verantwortlich, die, soweit ich mich erinnern kann, immer voller Babys und Kin¬der meiner Verwandten waren. In der Tat kann ich mich kaum an irgendeinen Augenblick erinnern, wo ich allein war. In der afrikanischen Kultur gelten die Söhne und Töchter der Tanten und Onkel als Brüder und Schwestern, nicht als Cousins und Cousinen. Wir machen, was unsere Verwandten betrifft, nicht die gleichen Unterschiede wie die Weil en. Wir haben keine Halbbrüder. Die Schwester meiner Mutter ist meine Mutter; der Sohn meines Onkels ist mein Bruder, der Sohn meines Bruders ist mein Sohn.
Von den drei Hütten meiner Mutter wurde eine benutzt zum Kochen, eine zum Schlafen und eine zum Lagern von Nahrung und anderen Dingen. In der Hütte, in der wir schliefen, gab es kein Mobiliar im westlichen Sinn. Wir schliefen auf Matten und saßen auf dem Boden. Kissen lernte ich erst kennen, als ich nach Mqkekezweni ging. Meine Mutter bereitete die Mahlzeiten in einem dreibeinigen Eisentopf zu, der über einem offenen Feuer in der Hüttenmitte oder draußen stand. Alles, was wir aßen, bauten wir selbst an und bereiteten es selbst zu. Meine Mutter pflanzte und erntete ihre eigenen Mealies. Mealies wurden geerntet, wenn sie hart und trocken waren. Sie wurden aufbewahrt in Säcken oder in Gruben, die ins Erdreich gegraben wurden. Zur Zuberei¬tung der Mealies verwandten die Frauen verschiedene Methoden. Sie zerrieben die Kerne zwischen zwei Steinen, um Brot herzu¬stellen oder sie kochten die Mealies zuerst, um dann Umphothu¬lo (Mealie-Mehl, das mit saurer Mulch gegessen wurde) oder Umngqusho (Grütze, zuweilen pur oder mit Bohnen vermischt) herzustellen. Während Mealies manchmal knapp waren, gab es überreichlich Mulch von unseren Kühen und Ziegen.
Schon in frühem Alter verbrachte ich die meiste Zeit im Freien, auf dem Veld, spielte und kämpfte mit anderen Jungen. Ein Junge, der sich im Haushalt herumtrieb und sozusagen an Mut¬ters Schürzenzipfel hing, galt als Muttersöhnchen. Abends teilte ich mein Essen und meine Wolldecke mit denselben Jungen. Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, wurde ich Hirtenjunge und hatte auf Schafe und Kälber aufzupassen. Ich lernte die fast mystische Verbindung kennen, welche die Xhosa zum Vieh haben, nicht nur als Lieferant von Fleisch und Milch oder auch Reichtum, sondern als eine Art Gottessegen und Glücksquell. Hier lernte ich auch, mit einer Steinschleuder Vögel vom Himmel zu holen, wilden Honig und Früchte und eßbare Wurzeln zu sammeln, süße Milch direkt aus dem Euter einer Kuh zu trinken, in den kla¬ren, kalten Flüßchen zu schwimmen und mit Schnur und ge¬schärften Drahtstücken Fische zu fangen. Ich lernte, mit dem Stock zu kämpfen - für jeden afrikanischen Jungen auf dem Land eine unerläßliche Fähigkeit und übte mich in den verschiede¬nen Techniken: wie man einen Schlag pariert, wie man in eine Richtung fintiert und in einer anderen zuschlägt; wie man sich mit schneller Beinarbeit von einem Gegner löst. Aus dieser Zeit rührt meine Liebe zum Veld, zu offenen Weiten, zu den einfachen Schönheiten der Natur, der klaren Linie des Horizonts.
Damals spielten wir mit selbstgemachtem Spielzeug. Wir formten es aus Lehm und bildeten Tiere und Vögel nach. Aus Baumästen fertigten wir sogenannte Lastschleppen, die von Och¬sen gezogen wurden. Die Natur war unser Spielplatz. Im Gelän¬de um Qunu gab es viele große glatte Felsbrocken, auf denen wir hinunterrutschten. Dies taten wir wieder und wieder, bis unser Hinterteil so wund war, daß wir darauf nicht mehr sitzen konn¬ten. Ich lernte, auf jungen Kälbern zu reiten, und wenn man erst mehrmals abgeworfen worden war, hatte man den Bogen raus.
Eines Tages erhielt ich einen Denkzettel von einem störrischen Esel. Alle waren auf seinen Rücken und wieder hinunter geklet¬tert, und als die Reihe an mir war, sprang ich hinauf, und der Esel tat einen Satz in einen nahen Dornenbusch. Er bockte so¬lange, bis er mich abgeworfen hatte, mit dem Ergebnis, daß ich ein zerstochenes und zerkratztes Gesicht hatte, wofür ich mich vor meinen Freunden schämte. Wie die Menschen des Ostens be¬sitzen Afrikaner ein hochentwickeltes Gefühl von Würde oder das, was die Chinesen »Gesicht« nennen. Ich hatte vor meinen Freunden mein Gesicht verloren, und obwohl mich ein Esel ab¬geworfen hatte, lernte ich, daß einen anderen Menschen zu demütigen bedeutet, ihn ein unnötig grausames Schicksal erlei¬den zu lassen. Schon als Junge lernte ich es, meine Gegner zu be¬zwingen, ohne sie zu entehren.
Für gewöhnlich spielten wir Jungen unter uns, dock mitunter ließen wir unsere Schwestern mitmachen. Jungen und Mädchen spielten Spiele wie »Ndize<< ( »Verstecken« ) und »Icekwa« ( »Ein¬kriegen<<). Aber das Spiel mit den Mädchen, das mir am meisten SpaI machte, war eins, das wir »Khetha« nannten, das »Wähle¬-wen-du-magst« -Spiel. Dies war weniger ein organisiertes Spiel als vielmehr ein spontaner Sport, der dann stattfand, wenn wir eine Gruppe von gleichaltrigen Mädchen ansprachen und ihnen sagten, jedes solle sich den Jungen aussuchen, den es liebte. Unseren Regeln gemäß war die Wahl des Mädchens zu respek¬tieren, und sobald es sich seinen Favoriten ausgesucht hatte, konnte es weitergehen, begleitet von dem glücklochen Jungen, den es mochte. Doch die gewitzten Mädchen - weitaus geschei¬ter als wir tölpelhaften Burschen - besprachen sich oft miteinan¬der und suchten sich dann allesamt einen Jungen aus, meist den unansehnlichsten oder beschränktesten, den sie dann auf dem ganzen Heimweg hänselten.
Das beliebteste Spiel für Jungen hieß »Thinti<<, und wie die meisten Jungenspiele war es eine Nachahmung des Krieges. Zwei als »Zielscheiben<< dienende Stöcke wurden in einem Abstand von etwa 3o Meter senkrecht in den Boden getrieben. Wir teil¬ten uns in zwei gleich große Gruppen, und Zweck des Spiels war es, mit Stöcken nach dem gegnerischen Zielstock zu werfen und ihn umzuschleudern. Jede Mannschaft versuchte, ihren eigenen Zielstock zu verteidigen und die andere Seite davon abzuhalten, sich ihre geworfenen Stöcke zurückzuholen. Als wir älter wur¬den, organisierten wir dieses Spiel gegen Jungen aus Nachbar¬dörfern, und wer sich in diesen brüderlichen Schlachten aus¬zeichnete, wurde sehr bewundert, so wie Generäle, die im Krieg große Siege erringen, gefeiert werden.
Nach solchen Spielen kehrte ich dann zurück zum Kral mei¬ner Mutter, die das Essen zubereitete. Während mein Vater Ge¬schichten von historischen Schlachten und heldenhaften Xhosa¬-Kriegern erzählte, erfreute uns meine Mutter mit Legenden, Mythen und Fabeln, die über zahllose Generationen weiterer¬zählt worden sind. Es waren Geschichten, die meine kindliche Phantasie anregten, und meistens enthielten sie irgendeine Mo¬ral. Ich erinnere mich an eine Geschichte, die von einem reisen-den Mann handelte, dem sich eine alte Frau näherte, die furcht¬bar an grauem Star Litt. Sie bat ihn um Hilfe, dock der Reisende wendete seinen Blick ab. Dann kam ein anderer Mann des We¬ges, und auch an ihn trat die alte Frau heran. Sie bat ihn, ihre Augen zu säubern, und obwohl er das als unangenehm empfand, tat er, worum sie ihn bat. Dann fiel, wunderbarerweise, alles Kranke von den Augen der alten Frau ab, und sie wurde jung und schön. Der Mann heiratete sie und wurde reich und glücklich. Es ist eine ungemein simple Geschichte, doch ihre Botschaft ist von Dauer: Tugend und Edelmut erhalten ihren Lohn auf eine Weise, die man nicht im voraus kennen kann.
Wie alle Xhosa-Kinder eignete ich mir Wissen hauptsächlich durch Beobachtung an. Wir sollten durch Nachahmen lernen, nicht durch Fragerei. Als ich später die Häuser von Weißen be¬suchte, war ich anfangs verblüfft über die Anzahl und die Art der Fragen, die Kinder ihren Eltern stellten - und über die aus¬nahmslose Bereitschaft der Eltern, diese Fragen zu beantworten. Bei uns galten Fragen als lästig; Erwachsene gaben Kindern Er¬klärungen, die sie für notwendig hielten.
Mein Leben, genau wie das der meisten Xhosas damals, wur¬de im großen wie im kleinen geformt durch Sitte, Ritual und Tabu. Dies war das A und 0 unserer Existenz und wurde nicht in Frage gestellt. Männer folgten dem Pfad, der für sie durch ihre Väter vorgezeichnet war; Frauen führten das gleiche Leben wie ihre Mütter vor ihnen. Ohne daß sie mir erklärt wurden, assimi¬lierte ich bald die komplexen Regeln, welche die Beziehungen zwischen Männern und Frauen beherrschten. Ich entdeckte, daß ein Mann kein Haus betreten darf, in dem eine Frau kürzlich ein Kind zur Welt gebracht hat; daß eine frisch verheiratete Frau den Kral ihres neuen Heims nicht ohne Zeremonie betreten darf; und daß die Vernachlässigung der eigenen Vorfahren Unheil und Mißlingen im Leben zur Folge hätte. Geschah es jedoch, daß man seine Vorfahren entehrte, so konnte man das nur sühnen, indem man sich an den traditionellen Heiler oder Stammesältesten wandte, der mit den Vorfahren kommunizierte, und das tiefe Be¬dauern des Schuldigen übermittelte. All diese Glaubensvorstel¬lungen waren mir völlig natürlich.
Als Junge kam ich in Qunu nur mit wenigen Weißen zusam¬men. Der örtliche Magistrate war natürlich weiß, wie auch der nächste Ladenbesitzer. Zuweilen tauchten weiße Reisende oder Polizisten in unserer Nachbarschaft auf. Diese Weißen erschie¬nen mir großmächtig wie Götter, und mir ging auf, daß sie mit einer Mischung aus Furcht und Respekt behandelt werden mußten. Doch sie spielten in meinem Leben nur eine beiläufige Rolle und über den weißen Mann oder die Beziehungen zwischen mei¬nem eigenen Volk und diesen seltsamen, weit entfernten Gestal¬ten dachte ich nur wenig nach, wenn überhaupt.
In unserer kleinen Welt in Qunu war die einzige Rivalität zwi¬schen verschiedenen Clans oder Stämmen jene zwischen den Xhosas und amaMfengu, von denen eine geringe Anzahl in un¬serem Dorf lebte. Die amaMfengu waren zum östlichen Kap ge¬kommen, weil sie vor Shaka Zulus Armeen geflohen waren, in je¬ner Periode, die man die Mfecane nennt: die große Welle von Schlachten und Wanderungen zwischen 1820 und 184o, aus¬gelöst durch Shakas Zulu-Staat, der sämtliche Stämme bezwin¬gen und dann unter seiner Militärherrschaft vereinigen wollte. Die amaMfengus waren Flüchtlinge aus amaMfecane, die ur¬sprünglich nicht Xhosa sprachen, und sie mußten zunächst Ar¬beiten verrichten, die kein anderer Afrikaner tun wollte. Sie ar¬beiteten auf den Farmen und in den Geschäften der Weißen, was von den bessergestellten Xhosa-Stämmen verachtet wurde. Aber die Mfengus waren fleißige Leute, und wegen ihrer Kontakte mit Europäern waren sie oft gebildeter und »westlicher« als andere Afrikaner.
Zu meiner Knabenzeit waren die amaMfengus längst der fort¬geschrittenste Teil der Gemeinde und stellten unsere Geistlichen, Polizisten, Lehrer, Clerks und Dolmetscher. Die amaMfengus ge¬hörten auch zu den ersten, die Christen wurden, bessere Häuser bauten, in der Landwirtschaft wissenschaftliche Methoden an¬wandten, und sie waren wohlhabender als ihre Xhosa-Landsleu¬te. Sie bestätigten den Grundsatz der Missionare, der da lautete: Christ sein heißt zivilisiert sein, und zivilisiert sein heiß Christ sein. Es gab in Qunu Vorurteile und feindselige Gefühle gegen¬über den amaMfengus, doch im Rückblick würde ich dies eher dem Neid als irgendwelchen Stammesfeindseligkeiten zuschrei¬ben. Diese lokale Form von Tribalismus, die ich als Junge beob¬achtet hatte, war relativ harmlos. Damals sah ich nichts und ahnte auch nichts von jenen gewalttätigen Stammesrivalitäten, die später von den weißen Herrschern Südafrikas gefördert wurden.
Mein Vater hielt nichts von den Vorurteilen gegen die ama¬Mfengus, und zwei amaMfengu-Brüder, George und Ben Mbe¬kela, waren seine Freunde. Beide Brüder bildeten in Qunu eine Ausnahme: Sie waren gebildet, und sie waren Christen. George, der ältere, war pensionierter Lehrer, und Ben war Polizei-Serge¬ant. Obwohl sich die Mbekela-Brüder zum Christentum bekehrt hatten, hielt mein Vater sich davon fern und bewahrte seinen Glauben an den Großen Geist der Xhosas, Qamata, den Gott sei¬ner Väter. In der Tat war mein Vater ein nichtamtlicher Priester, der über das rituelle Schlachten von Ziegen und Kälbern wachte und dieses Amt auch versah bei lokalen traditionellen Riten bei Saat und Ernte, bei Geburten und Hochzeiten, bei Initiationsze¬remonien und Bestattungen. Er brauchte keine Priesterweihe, denn die traditionelle Religion der Xhosas wird geprägt durch kosmische Ganzheit, so daß zwischen dem Heiligen und dem Sä¬kularen, zwischen dem Nadirlichen und dem Obernatürlichen nur geringe Unterschiede bestehen.
Auf meinen Vater färbte der Glaube der Mbekela-Brüder zwar nicht ab, doch inspirierte er meine Mutter, die Christin wurde. Ihr Name Fanny war tatsächlich ihr (christlicher) Vor¬name, denn sie hatte ihn in der Kirche erhalten. In der Tat war es dem Einfluß der beiden Brüder zuzuschreiben, daß ich selbst in der Methodisten-Kirche (oder Wesleyan Church, wie man sie damals nannte) getauft und dorthin zur Schule geschickt wur¬de. Die Mbekela-Brüder sahen mich oft in der Nähe beim Spie¬len oder Schafehüten. Mitunter kam der eine oder der andere, urn sich mit mir zu unterhalten, und eines Tages besuchte George Mbekela dann meine Mutter. .Dein Sohn ist ein aufge¬weckter kleiner Kerl<<, sagte er. .Er sollte zur Schule gehen.<< Meine Mutter schwieg. Niemand in meiner Familie hatte je die Schule besucht, und meine Mutter war auf den Vorschlag Mbekelas nicht vorbereitet. Doch teilte sie ihn meinem Vater mit, der trotz - oder vielleicht wegen - seines eigenen. Mangels an Bildung auf der Stelle entschied, daß sein jüngster Sohn die Schule besuchen sollte. Die Schule befand sich in einem einräumigen Haus westlichen Stils auf der anderen, Qunu abgewandten Seite des Hügels. Am Tag vor meinem ersten Schultag - ich war inzwischen sieben¬einhalb Jahre alt - nahm mich mein Vater beiseite und erklärte mir, für die Schule mußte ich ordentlich gekleidet sein. Bis dahin hatte ich, wie alle Jungen in Qunu, nur eine Wolldecke getragen, über eine Schulter geschlungen und an der Hüfte zusammenge¬steckt. Mein Vater nahm eines seiner Hosenpaare und schnitt die Hosenbeine in Kniehöhe ab. Er befahl mir, die Hose anzuziehen, was ich auch tat, und sie hatte ungefähr die richtige Länge, war jedoch um die Hüften viel zu weit. Daraufhin nahm mein Vater ein Stück Schnur und straffte die Hose an der Taille. Ich muß einen komischen Anblick geboten haben, doch nie habe ich ein Kleidungsstück besessen, auf das ich stolzer gewesen wäre als auf meines Vaters abgeschnittene Hose.
Am ersten Schultag gab meine Lehrerin, Miss Mdingane, je¬dem von uns einen englischen Namen und erklärte, von nun an sei das der Name, auf den wir in der Schule zu hören flätten. Dies war üblich unter den Afrikanern jener Tage und geht zweifellos auf das britische Vorurteil gegenüber unserer Erziehung zurück. Die Erziehung, die ich erhielt, war eine britische, in der britische Gedanken, britische Kultur, britische Institutionen automatisch als höherwertig angesehen wurden. So etwas wie eine afrika-nische Kultur kam nicht vor.
Afrikaner meiner Generation - und selbst heute noch - haben im allgemeinen sowohl einen englischen als auch einen afrikani¬schen Namen. Weiße waren nicht fähig oder nicht gewillt, einen afrikanischen Namen auszusprechen, und hielten es für unzivi¬lisiert, überhaupt einen zu haben. An jenem Tag erklärte mir Miss Mdingane, mein newer Name sei Nelson. Warum sie mir diesen Namen gab, weiß ich nicht. Vielleicht hatte es etwas mit dem großen britischen Seefahrer Lord Nelson zu tun, aber das wäre reine Vermutung.
* * *
Eines Nachts, als ich neun Jahre alt war, bemerkte ich in un¬serem Haushalt eine bestimmte Unruhe. Mein Vater, der uns mo¬natlich fa etwa eine Woche zu besuchen pflegte, war eingetrof¬fen, jedoch nicht zur gewohnten Zeit. Normalerweise hätte er erst ein paar Tage später kommen sollen. Ich fand ihn in der Hütte meiner Mutter, mit dem Rücken auf dem Boden liegend und durchgeschüttelt von einem schier endlosen Hustenanfall. Selbst für meine jungen Augen war es klar, daß mein Vater nicht mehr lange auf dieser Welt weilen würde. Er muß an irgendeiner Lungenkrankheit gelitten haben, doch es fehlte eine Diagnose, weil mein Vater in seinem ganzen Leben nie einen Arzt aufge¬sucht hatte. Mehrere Tage blieb er in der Hütte, ohne sich zu bewegen oder zu sprechen, und dann, eines Nachts, schien es ihm schlechter zu gehen. Meine Mutter und die jüngste Frau meines Vaters, Nodayimani, die bei uns wohnte, kümmerten sich um ihn, und später in derselben Nacht rief er nach Nodayimani. Sie ging zu ihm, und er sagte: »Bring mir meinen Tabak.« Meine Mutter und Nodayimani berieten sich und befanden, daß es unvernünftig sei, ihm in seinem Zustand Tabak zu geben. Doch er rief immer wieder danach, und schließlich stopfte Nodayimani seine Pfeife, entzündete sie und reichte sie ihm so¬dann. Mein Vater rauchte und wurde ruhig. Er rauchte etwa eine Stunde lang, und dann, mit immer noch brennender Pfeife, starb er.
Ich erinnere mich nicht daran, große Trauer empfunden zu haben, sondern vielmehr ein Gefühl des Abgeschnittenseins. Ob¬wohl meine Mutter der Mittelpunkt meiner Existenz war, defi¬nierte ich mich über meinen Vater. Der Tod meines Vaters veränderte mein ganzes Leben in einer Weise, von der ich damals noch nichts ahnte. Nach einer kurzen Trauerzeit teilte mir mei¬ne Mutter mit, daß ich Qunu verlassen würde. Ich fragte sie nicht, warum oder wohin.
Ich packte meine wenigen Habseligkeiten, und eines Morgens brachen wir früh auf zu einer Reise westwärts zu dem Ort, der meine neue Heimat werden sollte. Ich trauerte weniger um meinen Vater als um die Welt, die ich zurücklassen mußte. Qunu war alles, was ich kannte, und ich liebte es in jener bedin¬gungslosen Art, in der Kinder ihre erste Heimat lieben. Bevor wir hinter den Hügeln verschwanden, drehte ich mich um und blick¬te, wie ich damals meinte, zum letzten mal auf mein Dorf zurück. Ich konnte die einfachen Witten sehen und die Menschen, die ihre Arbeit verrichteten; das Flachen, wo ich mit den anderen Jungen geplanscht und gespielt hatte; die Maisfelder und die grünen Weiden, wo die Herden träge grasten. Ich stellte mir vor, wie meine Freunde nach kleinen Vögeln jagten, köstliche Milch aus dem Euter einer Kuh tranken und herumtollten im Teich am Ende des Baches. Vor allem aber ruhte mein Auge auf den drei einfachen Hütten, wo ich die Liebe und den Schutz meiner Mutter genossen hatte. Es waren diese drei Hütten, die sich für mich verbanden mit all meinem Glück, mit dem Leben selbst, und ich bedauerte, daß ich nicht vor unserem Aufbruch jede ein¬zelne geküßt hatte. Es war für mich unvorstellbar, daß die Zu¬kunft, der ich jetzt entgegenwanderte, in irgendeiner Weise ver¬gleichbar sein würde mit der Vergangenheit, die ich hinter mir ließ.
Wir reisten zu Fuß und im Schweigen, bis die Sonne langsam dem Horizont entgegensank. Doch das Schweigen des Herzens zwischen Mutter und Kind hat nichts von Einsamkeit. Meine Mut¬ter und ich sprachen nie sehr viel miteinander, das brauchten wir auch nicht. Niemals stellte ich ihre Liebe in Frage oder zweifelte an ihrer Hilfe. Es war eine strapaziöse Reise, über steinige Wege, hügelauf und hügelab, vorbei an zahlreichen Dörfern, aber wir legten keine Rast ein. Am späten Nachmittag, auf dem Grun¬de eines flachen, von Bäumen gesäumten Tals, gelangten wir zu einem Dorf, in dessen Mitte sich ein Besitz befand, so groß und so schön, daß er bei weitem alles übertraf, was ich je gesehen hatte, und ich nichts tun konnte, als ihn zu bestaunen. Er bestand aus zwei Iingxande (oder rechteckigen Häusern) und sieben pracht¬vollen Rondavels (bessere Hütten), sämtlich weißgetüncht, ein blendender Anblick selbst im Schein der untergehenden Sonne. Er hatte einen großen Vorgarten und ein von Pfirsichbäumen be¬grenztes Maisfeld. Hinten breitete sich ein noch größerer Garten aus mit Apfelbäumen, einem Blumenbeet, einem Gemüsegarten und einem Rutengebüsch. In der Nähe stand eine weiße Stuck¬kirche.
Im Schatten von zwei Eukalyptusbäumen, die den Eingang des Haupthauses flankierten, saß eine Gruppe von etwa zwanzig Stammesältesten. Auf dem Weidegrund rund um den Besitz graste zufrieden eine Herde von wenigstens 50 Rindern und viel¬leicht 500 Schafen. Alles wirkte wunderbar gepflegt und bot ei¬nen Anblick von Reichtum und Ordnung, der meine Phantasie überstieg. Dies war der Große Platz, Mqhekezweni, die proviso¬rische Hauptstadt von Thembuland, die königliche Residenz von Häuptling Jongintaba Dalindyebo, dem amtierenden Regenten der Thembus.
Ich betrachtete gerade diese Herrlichkeit, als ein mächtiges Automobil durch das westliche Tor rumpelte und die im Schat¬ten sitzenden Männer sich sofort erhoben. Sie zogen ihre Kopf-bedeckungen und riefen, auf die Füße springend: .Bayethe a-a-a¬Jongintaba!<< ( »Heil dir, Jongintaba! << ), den traditionellen Gruß der Xhosas für ihr Oberhaupt. Aus dem Automobil (später er¬fuhr ich, daß dieses stattliche Vehikel ein Ford-V 8 war) stieg ein kleiner, untersetzter Mann in einem eleganten Anzug. Ich konnte erkennen, daß er das Selbstvertrauen und das entschie¬dene Auftreten eines Mannes hatte, der an die Ausübung von Macht gewöhnt war. Sein Name paßte zu ihm, denn Jongintaba bedeutet wörtlich .Einer, der den Berg anschaut<<, und er besaß eine starke Ausstrahlung, die alle Blicke auf sich zog. Er hatte ei¬ne dunkle Hautfarbe und ein intelligentes Gesicht, und unge¬zwungen begrüßte er mit Handschlag jeden der Männer unter dem Baum, die Mitglieder des höchsten Thembu-Gerichtshofs, wie ich später erfuhr. Dies war der Regent, der für das nächste Jahrzehnt mein Vormund und Wohltäter sein sollte. In diesem Moment, den Blick gerichtet auf Jongintaba und seinen Hof, kam ich mir vor wie ein Schößling, der mit all seinen Wurzeln aus dem Boden gerissen und mitten in einen Fluß ge¬schleudert worden war, dessen starker Strömung er nicht wider¬stehen konnte. Ich hatte ein Gefühl von Ehrfurcht, gemischt mit Verwirrung. Bis zu dem Augenblick hatte ich ausschließlich an meine eigenen Vergnügungen gedacht und keinen größeren Ehr¬geiz gehabt, als gut zu essen und ein Meisterstockkämpfer zu werden. Keinen Gedanken an Geld oder Klasse, Ruhm oder Macht. Plötzlich tat sich vor mir eine neue Welt auf. Kinder aus armen Familien, die sich auf einmal einem für sie unvorstellba¬ren Wohlstand gegenübersehen, fühlen sich einer Menge neuer Versuchungen ausgesetzt. Ich war da keine Ausnahme. In diesem Augenblick spürte ich, wie viele meiner Überzeugungen und An¬sichten gleichsam fortgespült wurden. Das schlanke, von meinen Eltern errichtete Fundament begann zu schwanken. In jenem Augenblick sah ich, daß das Leben für mich mehr bereithalten mochte als eine Meisterschaft im Stockkämpfen.
Später erfuhr ich, daß sich nach meines Vaters Tod Jongin¬taba erboten hatte, mein Vormund zu werden. Er würde mich ge¬nauso behandeln wie seine Kinder, und ich würde die gleichen Vorteile genießen wie sie. Meine Mutter hatte keine Wahl; ein solches Angebot des Regenten lehnte man nicht ab, und obwohl sie mich vermissen würde, war sie dock froh, daß ich unter der Obhut des Regenten in günstigeren Umständen aufwachsen wür¬de als unter ihrer eigenen Obhut. Der Regent hatte nicht verges¬sen, daß er aufgrund der Intervention meines Vaters amtierendes Oberhaupt geworden war.
Meine Mutter blieb noch ein oder zwei Tage in Mqhekezwe¬ni, bevor sie sich auf den Rückweg nach Qunu machte. Wir schieden ohne Umstände voneinander. Sie hielt keine Predigt, bot keine weisen Worte, keine Küsse. Vermutlich wollte sie nicht, daß ich mich nach ihrem Fortgehen irgendwie verwaist fühlte, und verhielt sich deshalb so sachlich nüchtern. Ich wußte, daß ich, dem Wunsch meines Vater gemäß, eine gute Erzieherin erhalten sollte, als Vorbereitung auf eine weite Welt; und das war in Qunu nicht möglich. Ihr zärtlicher Blick enthielt all die Zu¬neigung und den Zuspruch, die ich brauchte, und als sie davon¬ging, drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Uqinisufokotho Kwedini!<< (etwa: »Halt die Ohren steif, mein Junge! ) Kinder können die unsentimentalsten Wesen sein, zumal wenn sie sich neuen Vergnügungen hingeben. Während sich meine liebe Mut¬ter und meine beste Freundin auf dem Heimweg befand, schwirr¬te mir der Kopf von den Freuden meines neuen Lebens. Ohren steif? Ich hätte den Kopf kaum höher tragen können. Ich trug bereits die hübsche neue Kleidung, die mein Vormund für mich besorgt hatte.
Bald war ich ein Teil des täglichen Lebens von Mqhekezweni. Ein Kind paßt sich schnell an oder überhaupt nicht - und ich fühlte mich zu dem Großen Platz hingezogen, als sei ich dort auf¬gewachsen. Für mich war es ein Wunderreich; alles erschien freudvoll; Verrichtungen, die in Qunu lästig gewesen waren, wurden in Mqhekezweni zum Abenteuer. War ich nicht in der Schule, so betätigte ich mich als Hirte, als Wagenlenker, als Pflü¬ger. Ich ritt auf Pferden, schoß mit Steinschleudern auf Vögel und wetteiferte mit anderen Jungen, und abends tanzte ich manchmal zu dem wunderschönen Gesang und dem Händeklatschen von Thembu-Mädchen. Obschon ich Qunu und meine Mutter ver¬mißte, ging ich schon bald völlig in der Gemeinde von Mqhe¬kezweni auf.
Ich besuchte eine kleine, einräumige Schule auf dem Hügel¬kamm und lernte Englisch, Xhosa, Geschichte und Geographie. Wir lasen Chambers English Reader und schrieben auf schwarze Schiefertafeln. Unsere Lehrer, Mr. Fadana und später Mr. Giqwa, nahmen an mir ein besonderes Interesse. Ich lernte schnell, aller¬dings weniger aufgrund meiner Klugheit als meiner Zähigkeit. Meine Selbstdisziplin wurde bestärkt von meiner Tante Phat¬hiwe, die im Großen Platz, dem Anwesen des Regenten, wohnte und meine Schularbeiten mit unerbittlicher Strenge überwachte. Mqhekezweni war eine Missionsstation der Methodist Church und weit moderner und westlicher als Qunu. Die Men¬schen trugen moderne Kleidung. Die Frauen bevorzugten den strengen protestantischen Stil der Missionare: dicke lange Röcke aus schwerem Stoff und Blusen, die bis zum Hals hinaufreichten; dazu eine über die Bluse drapierte Decke und ein mit Eleganz gewundenes Kopftuch.
Die Welt von Mqhekezweni drehte sich um den Regenten, meine kleinere Welt um seine zwei Kinder. Justice, sein einziger Sohn und folglich auch Erbe des Großen Platzes, und Nomafu, seine Tochter und jünger als Justice. Ich lebte mit ihnen und wur¬de genauso behandelt wie sie. Wir aßen die gleiche Nahrung, tru¬gen die gleiche Kleidung, erledigten die gleichen Aufgaben. Später kam noch Nxeko hinzu, der ältere Bruder von Sabata, dem Thronerben. Wir vier bildeten eine Art königliches Quartett. Der Regent und seine Frau No-England erzogen mich, als sei ich ihr eigenes Kind. Sie sorgten sich um mich, leiteten mich an und be¬straften mich auch, alles im Geist der Liebe und Gerechtigkeit. Jongintaba war streng, doch ich zweifelte nie an seiner Liebe zu mir. Sie riefen mich bei meinem Kosenamen Tatomkkulu, was »Großvater<< bedeutet, weil sie fanden, daß ich mitunter, wenn ich sehr ernst dreinblickte, wie ein alter Mann aussah.
Justice, vier Jahre älter als ich, wurde mein erster Held nach meinem Vater. Ich blickte in jeder Hinsicht zu ihm auf. Als ich nach Mqhekezweni kam, war er bereits in Clarkebury, einer rund 100 Kilometer entfernten Boardingschool. Er war groß, schön, muskulös und ein ausgezeichneter Sportsmann, der sich besonders hervortat in Leichtathletik, Cricket, Rugby und Fu߬ball. Er besa8 ein stets fröhliches und offenes Wesen und bezau¬berte seine Umwelt durch seine Natürlichkeit. Mit seiner pracht¬vollen Singstimme und seinem geschliffenen Ballsaaltanzen konnte er Menschen betören. Wie sich denken läßt, hatte er eine Schar von Verehrerinnen - aber auch eine kleine Armee von Kri¬tikern, in deren Augen er zu sehr der Dandy und der Playboy war. Wir waren die besten Freunde, jedoch in mancherlei Hinsicht das genaue Gegenteil des anderen: Er war extrovertiert, ich eher in¬trovertiert; er war stets unbeschwert, während ich ziemlich ernst war. Er war auf natürliche Weise geschickt und eignete sich mühelos etwas an; ich musste üben und mich selbst drillen. Für mich war er alles, was ein junger Mann sein konnte, und alles, was ich sein wollte. Obwohl uns die gleiche Behandlung zuteil wurde, waren unsere Schicksale sehr verschieden: Justice würde eines der mächtigsten Häuptlingstümer des Thembu-Stammes erben. Ich würde erben, was immer der Regent in seiner Gro߬mut mir zu geben beschloß.
Jeden Tag erledigte ich im Haus des Regenten oder draußen allerlei Pflichten. Zu den vielen Dingen, die ich für den Regen¬ten tat, gehörte das Bügeln seiner Anzüge, meine Lieblings¬tätigkeit, auf die ich sehr stolz war. Er besaß ein halbes Dut¬zend westliche Anzüge, und ich verwandte manche Stunden auf möglichst präzise Bügelfalten. Sein Palast, wenn man es so nen¬nen will, bestand aus zwei großen, blechbedeckten Häusern im westlichen Stil. Damals besaßen nur ganz wenige Afrikaner westliche Häuser, und sie galten als Kennzeichen großen Reich¬tums. Außer den beiden Häusern gab es sechs Rondavels, die in einer Art Halbkreis das Haupthaus umstanden. Die Häuser hatten Holzfußböden, etwas, das ich bis dahin noch nie gese¬hen hatte. Der Regent und die Königin schliefen in dem Ron-davel zur Rechten Hand; die Schwester der Königin in dem in der Mitte; und die Hütte links diente als Pantry, als Speise¬kammer. Unter dem Fußboden in der Hütte der Schwester der Königin befand sich ein Bienenstock, und manchmal hoben wir Fußbodenbretter heraus und schlemmten von dem Honig. Bald nach meiner Ankunft in Mqhekezweni zogen der Regent und seine Frau in das Uxande (mittleres Haus), das automatisch das Große Haus wurde. In seiner Mitte gab es drei kleine Ronda¬vels. Eines davon wurde von der Mutter des Königs bewohnt, das zweite teilten sich Justice und ich, und das dritte war für Besucher reserviert. Die beiden Prinzipien, die mein Leben in Mqhekezweni be¬herrschten, waren das Häuptlingsamt und die Kirche. Diese bei¬den Doktrinen existierten gleichsam in unstimmiger Harmonie, dock empfand ich sie in gar keiner Weise als antagonistisch. Für mich war das Christentum weniger ein Glaubenssystem als viel¬mehr der kraftvolle Glaube eines einzelnen Mannes: Reverend Matyolo. Seine eindrucksvolle Persönlichkeit umschloß für mich alles, was das Christentum anziehend machte. In Mqhekezweni war er so populär und beliebt wie der Regent, und die Tatsache, daß er in spirituellen Dingen über dem Regenten stand, beein¬druckte mich tief. Doch die Kirche war statt mit dem Jenseitigen vor allem mit dieser Welt befaßt, und ich erkannte, daß praktisch all die Errungenschaften der Afrikaner durch ihre missionarische Tätigkeit erreicht zu sein schienen. Die Missionsschulen bildeten Clerks, Dolmetscher und Polizisten aus, die damals so etwas wie den Gipfel afrikanischer Ambitionen darstellten.
Reverend Matyolo war ein gewichtiger Mann Mitte Fünfzig, mit einer tiefen und kraftvollen Stimme, die ihm beim Predigen wie such beim Singen von Nutzen war. Wenn er in der einfachen Kirche am westlichen Ende von Mqhekezweni predigte, quoll der Raum stets von Menschen über. Es halite nur so wider von Hosi¬annas, und die Frauen knieten zu seinen Füßen und baten ihn um seinen Segen. Die allererste Geschichte, die ich über ihn hörte, handelte davon, daß Reverend Matyolo ganz allein und nur mit einer Bibel und einer Laterne als Waffen einen gefährlichen Geist verjagt hatte. Damals erkannte ich weder die Unwahrscheinlich¬keit noch die Widersprüchlichkeit dieser Geschichte. Der von Re¬verend Matyolo gepredigte Methodismus war gleichsam Feuer und Schwefel, versetzt mit ein wenig afrikanischem Animismus. Der Herr war weise und mächtig, aber er war auch ein rachsüchti¬ger Gott, der keine böse Tat ungestraft hingehen ließ .
In Qunu hatte ich nur einmal die Kirche besucht, und zwar an dem Tag, an dem ich getauft wurde. Für mich war Religion ein Ritual, dem ich mich meiner Mutter zuliebe unterzogen hatte und das mir bedeutungslos erschien. In Mqhekezweni war die Religion jedoch ein fester Bestandteil des Lebens, und gemein¬sam mit dem König, der die Religion sehr ernst nahm, und der Königin besuchte ich jeden Sonntag die Kirche. Die einzige Tracht Prügel, die ich je vom König erhielt, bekam ich, als ich einmal den Sonntagsgottesdienst schwänzte, um an einem Kampf gegen Jungen aus einem anderen Dorf teilzunehmen; ein solches Vergehen leistete ich mir nie wieder.
Reverend Matyolo war indirekt die Ursache für eine weitere scharfe Zurechtweisung, die mir in diesem Fall die Frau des Re¬genten erteilte. Eines Nachmittags kroch ich mit ein paar ande¬ren Jungen in Reverend Matyolos Garten und klaute ein paar Maiskolben, die wir sofort rösteten und vertilgten. Vielleicht vergnügten wir uns allzu sehr, denn ein junges Mädchen hörte uns im Garten lachen und verpetzte uns sofort beim Priester. Die Neuigkeit machte rasch die Runde und gelangte, später am Tag, bis zur Frau des Regenten. Sie wartete bis zur Gebetszeit am Abend - einem täglichen Ritual im Haus -, um mich mit der Be¬schuldigung zu konfrontieren und mich dafür zu tadeln, daß ich einem armen Diener Gottes sein Brot gestohlen und der Familie Schande bereitet hätte. Der Teufel, sagte sie, werde mich für die-se Versündigung zur Rechenschaft ziehen. Nach dieser Abkanz¬lung durch meine Stiefmutter empfand ich eine unbehagliche Mischung aus Angst und Scham - Angst vor einer gleichsam kos-mischen Maulschelle und Scham, weil ich das Vertrauen meiner Adoptivfamilie mißbraucht hatte.
Wegen der allgemeinen Achtung, die der Regent genoß - von seiten der Schwarzen wie der Weißen und der scheinbar unbe¬grenzten Macht, die er ausübte, sah ich das Häuptlingstum als absoluten Mittelpunkt, um den sich das Leben bewegte. Macht und Einfluß des Häuptlingsamtes durchdrangen jeden Aspekt unseres Lebens in Mqhekezweni, und es schien mir das vor¬züglichste Mittel, durch das man Einfluß und Status erlangen konnte.
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Geboren wurde ich am i8. Juli 1918 in Mvezo, einem winzi¬gen Dorf am Ufer des Mbashe im Distrikt Umtata, der Haupt¬stadt der Transkei. In mein Geburtsjahr fiel das Ende des Ersten Weltkrieges, der Ausbruch einer Grippeepidemie, die überall auf der Welt Millionen Menschen tötete, und der Besuch einer Delegation des African National Congress bei der Versailler Frie¬denskonferenz, um den Klagen afrikanischer Menschen aus Süd-afrika Gehör zu verschaffen. Mvezo jedoch war alldem weit entrückt, ein winziger Bezirk abseits der Welt der großen Ereignisse, ein Ort, wo das Leben weitgehend noch immer so gelebt wurde wie seit Hunderten von Jahren.
Die Transkei, über tausend Kilometer östlich von Kapstadt ge¬legen, mehr als 800 Kilometer südlich von Johannesburg, dehnt sich zwischen dem Kei River und der Grenze zu Natal, zwischen den zerklüfteten Drakensbergen im Norden und den blauen Wassern des Indischen Ozeans im Osten. Es ist eine wunder¬schöne Landschaft mit dahinschwingenden Hügeln, fruchtbaren Tälern und tausend Flüssen und Bächen, die zum Meer streben und das Land auch im Winter grün halten. Die Transkei war eines der größen Territorien innerhalb von Südafrika, mit 43 000 Quadratkilometer etwa so groß wie die Schweiz, mit ei¬ner Bevölkerung von ungefähr dreieinhalb Millionen Xhosas und einer winzigen Minderheit von Basothos und Weißen. Es ist auch die Heimat der Thembus, zu denen ich gehöre und die ein Teil des Xhosa-Volkes sind.
Mein Vater, Gadla Henry Mphakanyiswa, war Häuptling nach Abstammung und Brauchtum. Vom König des Thembu¬-Stammes wurde er zum Häuptling von Mvezo bestimmt, doch unter britischer Herrschaft mußte diese Ernennung bestätigt werden von der Regierung, die in Mvezo vom örtlichen Ma¬gistrate (hoher weißer Verwaltungsbeamter) vertreten wurde. Als von der Regierung eingesetzter Häuptling stand ihm ein Ge¬halt zu sowie ein Teil der Gebühren, welche die Regierung bei der Gemeinde erhob für die Impfung des Viehs und die Nutzung des Weidelands. Obwohl die Häuptlingsrolle Respekt und Anerken¬nung genoß, war ihr Ansehen jedoch vor fünfundsiebzig Jahren gesunken aufgrund der Kontrolle einer wenig einfühlsamen weißen Regierung.
Der Thembu-Stamm reicht zwanzig Generationen zurück bis zu König Zwide. Traditionsgemäß lebten die Thembus in den Ausläufern der Drakensberge und zogen im 16. Jahrhundert in Richtung Küste, wo sie zu einem Teil des Xhosa-Volkes wurden. Die Xhosa gehören zu den Nguni, die wenigstens seit dem 11. Jahrhundert in der südöstlichen Region von Südafrika, zwi¬schen dem großen inneren Plateau im Norden und dem Indi¬schen Ozean im Süden, gelebt, gejagt und gefischt haben. Man kann die Nguni aufteilen in eine nördliche Gruppe - die Zulu und die Swasi - und eine südliche Gruppe, bestehend aus den amaBaca, den amaBomyana, den amaGealeka, den amaMfengu, den amaMpodomis, den amaMpondo, den abeSotho und den abeThembu, und zusammen bildeten sie die Xhosa-Nation.
Die Xhosa sind stolze, patrilineare Menschen mit einer aus¬drucksstarken, wohlklingenden Sprache und einem unerschütterlichen Glauben an die Bedeutung von Recht, Erziehung und Höflichkeit. Die Xhosa-Gesellschaft hatte eine ausgewogene, har¬monische Sozialordnung, in der jeder einzelne seinen Platz kann¬te. Jeder Xhosa gehört zu einem Clan, der seine Herkunft auf ei¬nen bestimmten Vorfahren zurückführt. Ich bin ein Angehöriger des Madiba-Clans, der nach einem Thembu-Häuptling benannt ist, der im i8. Jahrhundert in der Transkei herrschte. Oft spricht man mich mit Madiba an, meinem Clan-Namen, was als respekt¬volle Bezeichnung gilt.
Ngubengcuka, einer der größten Monarchen, der den Them¬bu-Stamm vereinigte, starb 1832. Der damaligen Sitte entspre¬chend hatte er Frauen aus den großen Königshäusern, dem Großen Haus, aus dem der Erbe ausgewählt wird, dem Haus Rechter Hand und dem Ixhiba, einem kleineren Haus, das auch Haus Linker Hand genannt wird. Die Aufgabe der Söhne des Hauses Linker Hand bestand darin, königliche Streitigkeiten bei¬zulegen. Mthikrakra, der älteste Sohn des Großen Hauses, folg¬te auf Ngubengcuka, und zu seinen Söhnen gehörten Ngangeli¬zwe und Matanzima. Sabata, der die Thembu von 1954 regierte, war der Enkel von Ngangelizwe und älter als Kaezer Daliwon¬ga, besser bekannt als K. D. Matanzima, der frühere Chief Mi¬nister der Transkei - mein Neffe kraft Recht und Brauchtum der ein Abkömmling von Matanzima war. Der ältestes Sohn des Ixhiba-Hauses oder des Hauses Linker Hand war Simakade, dessen jüngerer Bruder Mandela war, mein Großvater.
Im Laufe der Jahrzehnte hat es viele Geschichten gegeben, nach denen ich ein Anwärter oder Mitanwärter auf den Thembu¬-Thron sei, doch die einfache, oben von mir dargelegte Gene¬alogie entlarvt solche Erzählungen als Märchen. Obwohl ich ein Angehöriger der königlichen Hofhaltung war, gehörte ich nicht zu den wenigen Privilegierten, die zum Herrschen erzogen wur¬den. Stattdessen wurde ich, als Abkömmling des Hauses Linker Hand, wie mein Vater vor mir, dazu erzogen, die Herrscher des Stammes zu beraten.
Mein Vater war ein hochgewachsener, dunkelhäutiger Mann mit einer aufrechten, würdevollen Körperhaltung, die ich, wie ich mir gern einbilde, von ihm geerbt habe. Genau über seiner Stirn hatte er ein Büschel weißes Haar, und als kleiner Junge rieb ich mir, um ihm nachzueifern, weiße Asche ins Haar. Mein Vater war sehr streng, und zur Züchtigung seiner Kinder benutzte er kräftig die Rute. Er konnte außerordentlich starrsinnig sein, ein weiterer Charakterzug, den der Sohn bedauerlicherweise vom Vater geerbt hat.
Mitunter hat man meinen Vater als den Premierminister von Thembuland bezeichnet, und zwar während der Regierungszeit sowohl von Dalindyebo, Sabatas Vater, der im frühen 20. Jahr¬hundert herrschte, als auch von dessen Sohn, Jongintaba, der ihm nachfolgte. Premierminister ist eine Fehlbezeichnung, weil es einen solchen Titel nicht gab, doch hätte er der Rolle, die mein Vater spielte, weitgehend entsprochen. Er war ein geachteter und geschätzter Berater beider Könige, die er auf ihren Reisen be-gleitete, und für gewöhnlich fand man ihn bei wichtigen Ver¬handlungen mit Regierungsbeamten an ihrer Seite. Er war ein anerkannter Hüter der Xhosa-Geschichte, und zum Teil war dies der Grund dafür, daß er als Berater geschätzt wurde. Mein eigenes Interesse an Geschichte hat frühe Wurzeln und wurde von meinem Vater gefördert. Obwohl er weder lesen noch schrei¬ben konnte, galt mein Vater als hervorragender Redner, der sei¬ne Zuhörer, sie gleichermaßen belehrend wie unterhaltend, fes¬seln konnte.
In späteren Jahren entdeckte ich, daß mein Vater nicht nur ein Königsberater, sondern auch ein Königsmacher war. Nach dem frühzeitigen Tod von Jongilizwe in den zoer Jahren war sein Sohn Sabata, das Kind der Großen Gemahlin, noch zu jung zur Thronbesteigung. Es gab einen Disput darüber, welcher von Jongilizwes drei ältesten Söhnen von anderen Müttern - Jongin¬taba, Dabulamanzi und Melithafa - zu seinem Nachfolger gewählt werden sollte. Man konsultierte meinen Vater, und er emp¬fahl Jongintaba mit der Begründung, er sei der Gebildetste von ihnen und er werde nicht nur der beste Treuhänder der Krone, sondern auch ein ausgezeichneter Mentor des jungen Prinzen sein. Mein Vater - wie auch einige andere einflußreiche Häupt¬linge - empfand für Bildung die allergrößte Achtung, wie das oft der Fall ist bei Menschen, die ungebildet sind. Die Empfehlung meines Vaters war umstritten, da Jongintabas Mutter aus einem geringeren Hause stammte. Doch wurde die Wahl meines Vaters schließlich sowohl von den Thembus als auch der britischen Re¬gierung akzeptiert. Später sollte Jongintaba sich für die Fürspra¬che in einer Weise erkenntlich zeigen, die mein Vater sich damals nicht hat vorstellen können.
Alle erzählten, mein Vater habe vier Frauen gehabt, von denen die dritte, meine Mutter, Nosekeni Fanny, die Tochter von Nke¬dama vom amaMpemvu-Clan der Xhosa, dem Haus Rechter Hand entstammte. Jede dieser Frauen, die Große Gemahlin, die Ehefrau Rechter Hand (meine Mutter), die Ehefrau Linker Hand und die Ehefrau aus dem Iqadi (oder dem unterstützenden Haus), hatte ihren eigenen Kral, das heißt eine Umfriedung für Tiere, die auch Felder und Hütten umschließen konnte und so etwas wie ein Homestead, ein Gehöft, war. Diese Krals lagen viele Meilen auseinander, und mein Vater pendelte gleichsam zwischen ihnen. Insgesamt zeugte er dreizehn Kinder, vier Jungen und neun Mädchen. Ich bin das älteste Kind des Hauses Rechter Hand und der jüngste von meines Vaters vier Söhnen. Ich habe drei Schwestern, Baliwe, die das älteste Mädchen war, Notancu und Makhutswana. Obwohl der älteste Sohn Mlahlwa war, war mei¬nes Vaters Erbe als Häuptling der Sohn des Großen Hauses, Daligqili, der Anfang der 30er Jahre starb. Die anderen drei Söhne sind inzwischen alle verstorben, und jeder von ihnen war mir nicht nur dem Alter nach, sondern auch im Rang voraus.
Während ich noch kaum mehr als ein Neugeborenes war, ge¬riet mein Vater in einen Zwist, der ihn seine Häuptlingswürde in Mvezo kostete und bei ihm einen Charakterzug enthüllte, den ich wohl geerbt habe. Zwar bin ich der Ansicht, daß es haupt¬sächlich die Umwelt und nicht die Veranlagung ist, die den Charakter formt, doch mein Vater besaß eine stolze Aufsässigkeit, einen unbeugsamen Sinn für Fairneß, die ich an mir selbst wie¬dererkenne. Wie schon ervvähnt, war mein Vater Häuptling - von den Weißen oft auch Headman genannt - und hatte sich in seinem Amt nicht nur dem Thembu-König, sondern auch dem örtlichen Magistrate gegenüber zu verantworten. Eines Tages brachte einer der Untertanen meines Vaters eine Klage gegen ihn vor, die von einem Ochsen handelte, der seinem Besitzer entlau¬fen war.. Der Magistrate schickte eine entsprechende Botschaft, mit der meinem Vater befohlen wurde, vor ihm zu erscheinen. Als mein Vater die Aufforderung erhielt, sandte er folgende Antwort zurück: »Andizi, ndisaqula« ( »Ich werde nicht kommen, ich rüste mich noch für die Schlacht« ). Dies ist ein Xhosa-Aus¬druck, der besagt, daß ein Mann sich zur Schlacht rüstet. Aber damals trotzte man einem Magistrate nicht auf solche Weise. Ein solches Verhalten hätte als Gipfel der Aufsässigkeit gegolten -was es in diesem Fall auch war.
Die Antwort meines Vaters bewies seine Überzeugung, daß der Magistrate keine legitime Macht über ihn hatte. In Stammes¬angelegenheiten ließ er sich nicht von den Gesetzen des Königs von England leiten, sondern von der Thembu-Tradition. Diese Mißachtung war nicht einfach eine persönliche Empfindlichkeit, sondern eine Sache des Prinzips. Er machte geltend, was er für sein traditionelles Vorrecht als Häuptling hielt, und forderte die Autorität des Magistrates heraus.
Als der Magistrate die Antwort meines Vaters erhielt, be¬schuldigte er ihn umgehend der Insubordination. Es gab keiner¬lei Befragung oder Ermittlung; das war weißen Beamten vorbe¬halten. Der Magistrate entzog ihm schlicht seinen Rang, womit das Häuptlingstum der Mandela-Familie sein Ende fand.
Von diesen Ereignissen ahnte ich damals nichts, doch die Aus¬wirkungen betrafen auch mich. Mein Vater, der nach den Ma߬stäben seiner Zeit ein wohlhabender Adliger war, verlor seinen Titel und auch sein Vermögen. Man nahm ihm den größten Teil seiner Herde und seines Landes, mithin auch die entsprechenden Erträge. Wegen dieser beschränkten Lebensumstände zog meine Mutter nach Qunu, einem nur wenig größeren Dorf westlich von Mvezo, wo sie die Unterstützung von Freunden und Verwandten finden würde. In Qunu lebten wir in einem bescheideneren Stil, doch verbrachte ich dort, in jenem Dorf bei Umtata, einige der glücklichsten Jahre meiner Knabenzeit; auch rühren von dort meine frühesten Erinnerungen her.
* * *
Das Dorf Qunu lag in einem engen grasbewachsenen Tal inmitten von grünen Hügeln und wurde von einer Reihe von Bächen durchquert. Die Einwohnerschaft betrug nur wenige hundert Menschen, die in Hütten lebten, bienenstockartigen Bauten aus Lehmwänden und gewölbten Grasdächern mit Holz-pfählen in der Mitte, auf denen das Dach ruhte. Der Fußboden bestand aus zerstampftem Ameisenhaufen, jener harten Wöl¬bung über einer Ameisenkolonie, und wurde glattgehalten durch das regelmäßige Einschmieren mit frischen Kuhfladen. Die einzi¬ge Hoffnung war eine niedrige Tür, und der Rauch vom Herd ent¬wich durch das Dach. Die Hütten standen im allgemeinen grup¬penweise zusammen in einer Art Wohnviertel, das ein Stück von den Maisfeldern entfernt lag. Es gab keine Straßen, sondern nur Trampelpfade durch das Gras, von barfüßigen Kindern und Frauen getreten. Die Frauen und Kinder trugen in Ocker gefärb¬te Wolldecken; nur die wenigen Christen im Dorf trugen Klei-dung westlichen Stils. Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde grasten auf gemeinsamen Weiden, Das Land um Qunu war fast gänzlich baumlos, abgesehen von einer Gruppe von Pappeln auf dem Hügel, der das Dorf beherrschte. Das Land selbst gehörte dem Staat. Bis auf wenige Ausnahmen waren Afrikaner damals keine Grundbesitzer, sondern Pächter, die der Regierung alljährlich Pacht zu zahlen hatten. In dem Gebiet gab es zwei kleine Grund¬schulen, einen Kaufladen und einen sogenannten Dipping Tank, in dem das Vieh von Zecken und Krankheiten befreit wurde.
Mais (oder was wir Mealies nannten und Leute im Westen Corn), Hirse, Bohnen und Kürbisse bildeten den Hauptteil unserer Nahrung, nicht weil wir eine angeborene Vorliebe für diese Dinge gehabt hätten, sondern weil die Leute sich nichts Besseres leisten konnten. Die reicheren Familien in unserem Dorf ergänz¬ten ihre Nahrung durch Tee, Kaffee und Zucker, doch für die meisten Menschen in Qunu waren dies exotische Luxusgüter, die ihre Möglichkeiten weit überstiegen. Das Wasser, das für die Landwirtschaft sowie zum Kochen und Waschen gebraucht wurde, mußte eimerweise von Bächen und Teichen geholt wer¬den. Dies war Frauenarbeit, und in der Tat war Qunu ein Dorf der Frauen und Kinder: Die meisten Männer verbrachten den größeren Teil des Jahres als Arbeiter in den Minen entlang dem Reef, jenem großen Bergkamm aus goldhaltigem Fels und Schie¬fer, der die südliche Begrenzung von Johannesburg bildet. Viel¬leicht zweimal im Jahr kehrten sie zurück, und das hauptsäch¬lich, um ihre Felder zu pflügen. Das Hacken, Jäten und Ernten war Sache der Frauen und Kinder. Im Dorf konnten nur wenige, falls überhaupt, lesen oder schreiben, und der Gedanke an Bil-dung war damals noch vielen fremd.
Meine Mutter war in Qunu für drei Hütten verantwortlich, die, soweit ich mich erinnern kann, immer voller Babys und Kin¬der meiner Verwandten waren. In der Tat kann ich mich kaum an irgendeinen Augenblick erinnern, wo ich allein war. In der afrikanischen Kultur gelten die Söhne und Töchter der Tanten und Onkel als Brüder und Schwestern, nicht als Cousins und Cousinen. Wir machen, was unsere Verwandten betrifft, nicht die gleichen Unterschiede wie die Weil en. Wir haben keine Halbbrüder. Die Schwester meiner Mutter ist meine Mutter; der Sohn meines Onkels ist mein Bruder, der Sohn meines Bruders ist mein Sohn.
Von den drei Hütten meiner Mutter wurde eine benutzt zum Kochen, eine zum Schlafen und eine zum Lagern von Nahrung und anderen Dingen. In der Hütte, in der wir schliefen, gab es kein Mobiliar im westlichen Sinn. Wir schliefen auf Matten und saßen auf dem Boden. Kissen lernte ich erst kennen, als ich nach Mqkekezweni ging. Meine Mutter bereitete die Mahlzeiten in einem dreibeinigen Eisentopf zu, der über einem offenen Feuer in der Hüttenmitte oder draußen stand. Alles, was wir aßen, bauten wir selbst an und bereiteten es selbst zu. Meine Mutter pflanzte und erntete ihre eigenen Mealies. Mealies wurden geerntet, wenn sie hart und trocken waren. Sie wurden aufbewahrt in Säcken oder in Gruben, die ins Erdreich gegraben wurden. Zur Zuberei¬tung der Mealies verwandten die Frauen verschiedene Methoden. Sie zerrieben die Kerne zwischen zwei Steinen, um Brot herzu¬stellen oder sie kochten die Mealies zuerst, um dann Umphothu¬lo (Mealie-Mehl, das mit saurer Mulch gegessen wurde) oder Umngqusho (Grütze, zuweilen pur oder mit Bohnen vermischt) herzustellen. Während Mealies manchmal knapp waren, gab es überreichlich Mulch von unseren Kühen und Ziegen.
Schon in frühem Alter verbrachte ich die meiste Zeit im Freien, auf dem Veld, spielte und kämpfte mit anderen Jungen. Ein Junge, der sich im Haushalt herumtrieb und sozusagen an Mut¬ters Schürzenzipfel hing, galt als Muttersöhnchen. Abends teilte ich mein Essen und meine Wolldecke mit denselben Jungen. Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, wurde ich Hirtenjunge und hatte auf Schafe und Kälber aufzupassen. Ich lernte die fast mystische Verbindung kennen, welche die Xhosa zum Vieh haben, nicht nur als Lieferant von Fleisch und Milch oder auch Reichtum, sondern als eine Art Gottessegen und Glücksquell. Hier lernte ich auch, mit einer Steinschleuder Vögel vom Himmel zu holen, wilden Honig und Früchte und eßbare Wurzeln zu sammeln, süße Milch direkt aus dem Euter einer Kuh zu trinken, in den kla¬ren, kalten Flüßchen zu schwimmen und mit Schnur und ge¬schärften Drahtstücken Fische zu fangen. Ich lernte, mit dem Stock zu kämpfen - für jeden afrikanischen Jungen auf dem Land eine unerläßliche Fähigkeit und übte mich in den verschiede¬nen Techniken: wie man einen Schlag pariert, wie man in eine Richtung fintiert und in einer anderen zuschlägt; wie man sich mit schneller Beinarbeit von einem Gegner löst. Aus dieser Zeit rührt meine Liebe zum Veld, zu offenen Weiten, zu den einfachen Schönheiten der Natur, der klaren Linie des Horizonts.
Damals spielten wir mit selbstgemachtem Spielzeug. Wir formten es aus Lehm und bildeten Tiere und Vögel nach. Aus Baumästen fertigten wir sogenannte Lastschleppen, die von Och¬sen gezogen wurden. Die Natur war unser Spielplatz. Im Gelän¬de um Qunu gab es viele große glatte Felsbrocken, auf denen wir hinunterrutschten. Dies taten wir wieder und wieder, bis unser Hinterteil so wund war, daß wir darauf nicht mehr sitzen konn¬ten. Ich lernte, auf jungen Kälbern zu reiten, und wenn man erst mehrmals abgeworfen worden war, hatte man den Bogen raus.
Eines Tages erhielt ich einen Denkzettel von einem störrischen Esel. Alle waren auf seinen Rücken und wieder hinunter geklet¬tert, und als die Reihe an mir war, sprang ich hinauf, und der Esel tat einen Satz in einen nahen Dornenbusch. Er bockte so¬lange, bis er mich abgeworfen hatte, mit dem Ergebnis, daß ich ein zerstochenes und zerkratztes Gesicht hatte, wofür ich mich vor meinen Freunden schämte. Wie die Menschen des Ostens be¬sitzen Afrikaner ein hochentwickeltes Gefühl von Würde oder das, was die Chinesen »Gesicht« nennen. Ich hatte vor meinen Freunden mein Gesicht verloren, und obwohl mich ein Esel ab¬geworfen hatte, lernte ich, daß einen anderen Menschen zu demütigen bedeutet, ihn ein unnötig grausames Schicksal erlei¬den zu lassen. Schon als Junge lernte ich es, meine Gegner zu be¬zwingen, ohne sie zu entehren.
Für gewöhnlich spielten wir Jungen unter uns, dock mitunter ließen wir unsere Schwestern mitmachen. Jungen und Mädchen spielten Spiele wie »Ndize<< ( »Verstecken« ) und »Icekwa« ( »Ein¬kriegen<<). Aber das Spiel mit den Mädchen, das mir am meisten SpaI machte, war eins, das wir »Khetha« nannten, das »Wähle¬-wen-du-magst« -Spiel. Dies war weniger ein organisiertes Spiel als vielmehr ein spontaner Sport, der dann stattfand, wenn wir eine Gruppe von gleichaltrigen Mädchen ansprachen und ihnen sagten, jedes solle sich den Jungen aussuchen, den es liebte. Unseren Regeln gemäß war die Wahl des Mädchens zu respek¬tieren, und sobald es sich seinen Favoriten ausgesucht hatte, konnte es weitergehen, begleitet von dem glücklochen Jungen, den es mochte. Doch die gewitzten Mädchen - weitaus geschei¬ter als wir tölpelhaften Burschen - besprachen sich oft miteinan¬der und suchten sich dann allesamt einen Jungen aus, meist den unansehnlichsten oder beschränktesten, den sie dann auf dem ganzen Heimweg hänselten.
Das beliebteste Spiel für Jungen hieß »Thinti<<, und wie die meisten Jungenspiele war es eine Nachahmung des Krieges. Zwei als »Zielscheiben<< dienende Stöcke wurden in einem Abstand von etwa 3o Meter senkrecht in den Boden getrieben. Wir teil¬ten uns in zwei gleich große Gruppen, und Zweck des Spiels war es, mit Stöcken nach dem gegnerischen Zielstock zu werfen und ihn umzuschleudern. Jede Mannschaft versuchte, ihren eigenen Zielstock zu verteidigen und die andere Seite davon abzuhalten, sich ihre geworfenen Stöcke zurückzuholen. Als wir älter wur¬den, organisierten wir dieses Spiel gegen Jungen aus Nachbar¬dörfern, und wer sich in diesen brüderlichen Schlachten aus¬zeichnete, wurde sehr bewundert, so wie Generäle, die im Krieg große Siege erringen, gefeiert werden.
Nach solchen Spielen kehrte ich dann zurück zum Kral mei¬ner Mutter, die das Essen zubereitete. Während mein Vater Ge¬schichten von historischen Schlachten und heldenhaften Xhosa¬-Kriegern erzählte, erfreute uns meine Mutter mit Legenden, Mythen und Fabeln, die über zahllose Generationen weiterer¬zählt worden sind. Es waren Geschichten, die meine kindliche Phantasie anregten, und meistens enthielten sie irgendeine Mo¬ral. Ich erinnere mich an eine Geschichte, die von einem reisen-den Mann handelte, dem sich eine alte Frau näherte, die furcht¬bar an grauem Star Litt. Sie bat ihn um Hilfe, dock der Reisende wendete seinen Blick ab. Dann kam ein anderer Mann des We¬ges, und auch an ihn trat die alte Frau heran. Sie bat ihn, ihre Augen zu säubern, und obwohl er das als unangenehm empfand, tat er, worum sie ihn bat. Dann fiel, wunderbarerweise, alles Kranke von den Augen der alten Frau ab, und sie wurde jung und schön. Der Mann heiratete sie und wurde reich und glücklich. Es ist eine ungemein simple Geschichte, doch ihre Botschaft ist von Dauer: Tugend und Edelmut erhalten ihren Lohn auf eine Weise, die man nicht im voraus kennen kann.
Wie alle Xhosa-Kinder eignete ich mir Wissen hauptsächlich durch Beobachtung an. Wir sollten durch Nachahmen lernen, nicht durch Fragerei. Als ich später die Häuser von Weißen be¬suchte, war ich anfangs verblüfft über die Anzahl und die Art der Fragen, die Kinder ihren Eltern stellten - und über die aus¬nahmslose Bereitschaft der Eltern, diese Fragen zu beantworten. Bei uns galten Fragen als lästig; Erwachsene gaben Kindern Er¬klärungen, die sie für notwendig hielten.
Mein Leben, genau wie das der meisten Xhosas damals, wur¬de im großen wie im kleinen geformt durch Sitte, Ritual und Tabu. Dies war das A und 0 unserer Existenz und wurde nicht in Frage gestellt. Männer folgten dem Pfad, der für sie durch ihre Väter vorgezeichnet war; Frauen führten das gleiche Leben wie ihre Mütter vor ihnen. Ohne daß sie mir erklärt wurden, assimi¬lierte ich bald die komplexen Regeln, welche die Beziehungen zwischen Männern und Frauen beherrschten. Ich entdeckte, daß ein Mann kein Haus betreten darf, in dem eine Frau kürzlich ein Kind zur Welt gebracht hat; daß eine frisch verheiratete Frau den Kral ihres neuen Heims nicht ohne Zeremonie betreten darf; und daß die Vernachlässigung der eigenen Vorfahren Unheil und Mißlingen im Leben zur Folge hätte. Geschah es jedoch, daß man seine Vorfahren entehrte, so konnte man das nur sühnen, indem man sich an den traditionellen Heiler oder Stammesältesten wandte, der mit den Vorfahren kommunizierte, und das tiefe Be¬dauern des Schuldigen übermittelte. All diese Glaubensvorstel¬lungen waren mir völlig natürlich.
Als Junge kam ich in Qunu nur mit wenigen Weißen zusam¬men. Der örtliche Magistrate war natürlich weiß, wie auch der nächste Ladenbesitzer. Zuweilen tauchten weiße Reisende oder Polizisten in unserer Nachbarschaft auf. Diese Weißen erschie¬nen mir großmächtig wie Götter, und mir ging auf, daß sie mit einer Mischung aus Furcht und Respekt behandelt werden mußten. Doch sie spielten in meinem Leben nur eine beiläufige Rolle und über den weißen Mann oder die Beziehungen zwischen mei¬nem eigenen Volk und diesen seltsamen, weit entfernten Gestal¬ten dachte ich nur wenig nach, wenn überhaupt.
In unserer kleinen Welt in Qunu war die einzige Rivalität zwi¬schen verschiedenen Clans oder Stämmen jene zwischen den Xhosas und amaMfengu, von denen eine geringe Anzahl in un¬serem Dorf lebte. Die amaMfengu waren zum östlichen Kap ge¬kommen, weil sie vor Shaka Zulus Armeen geflohen waren, in je¬ner Periode, die man die Mfecane nennt: die große Welle von Schlachten und Wanderungen zwischen 1820 und 184o, aus¬gelöst durch Shakas Zulu-Staat, der sämtliche Stämme bezwin¬gen und dann unter seiner Militärherrschaft vereinigen wollte. Die amaMfengus waren Flüchtlinge aus amaMfecane, die ur¬sprünglich nicht Xhosa sprachen, und sie mußten zunächst Ar¬beiten verrichten, die kein anderer Afrikaner tun wollte. Sie ar¬beiteten auf den Farmen und in den Geschäften der Weißen, was von den bessergestellten Xhosa-Stämmen verachtet wurde. Aber die Mfengus waren fleißige Leute, und wegen ihrer Kontakte mit Europäern waren sie oft gebildeter und »westlicher« als andere Afrikaner.
Zu meiner Knabenzeit waren die amaMfengus längst der fort¬geschrittenste Teil der Gemeinde und stellten unsere Geistlichen, Polizisten, Lehrer, Clerks und Dolmetscher. Die amaMfengus ge¬hörten auch zu den ersten, die Christen wurden, bessere Häuser bauten, in der Landwirtschaft wissenschaftliche Methoden an¬wandten, und sie waren wohlhabender als ihre Xhosa-Landsleu¬te. Sie bestätigten den Grundsatz der Missionare, der da lautete: Christ sein heißt zivilisiert sein, und zivilisiert sein heiß Christ sein. Es gab in Qunu Vorurteile und feindselige Gefühle gegen¬über den amaMfengus, doch im Rückblick würde ich dies eher dem Neid als irgendwelchen Stammesfeindseligkeiten zuschrei¬ben. Diese lokale Form von Tribalismus, die ich als Junge beob¬achtet hatte, war relativ harmlos. Damals sah ich nichts und ahnte auch nichts von jenen gewalttätigen Stammesrivalitäten, die später von den weißen Herrschern Südafrikas gefördert wurden.
Mein Vater hielt nichts von den Vorurteilen gegen die ama¬Mfengus, und zwei amaMfengu-Brüder, George und Ben Mbe¬kela, waren seine Freunde. Beide Brüder bildeten in Qunu eine Ausnahme: Sie waren gebildet, und sie waren Christen. George, der ältere, war pensionierter Lehrer, und Ben war Polizei-Serge¬ant. Obwohl sich die Mbekela-Brüder zum Christentum bekehrt hatten, hielt mein Vater sich davon fern und bewahrte seinen Glauben an den Großen Geist der Xhosas, Qamata, den Gott sei¬ner Väter. In der Tat war mein Vater ein nichtamtlicher Priester, der über das rituelle Schlachten von Ziegen und Kälbern wachte und dieses Amt auch versah bei lokalen traditionellen Riten bei Saat und Ernte, bei Geburten und Hochzeiten, bei Initiationsze¬remonien und Bestattungen. Er brauchte keine Priesterweihe, denn die traditionelle Religion der Xhosas wird geprägt durch kosmische Ganzheit, so daß zwischen dem Heiligen und dem Sä¬kularen, zwischen dem Nadirlichen und dem Obernatürlichen nur geringe Unterschiede bestehen.
Auf meinen Vater färbte der Glaube der Mbekela-Brüder zwar nicht ab, doch inspirierte er meine Mutter, die Christin wurde. Ihr Name Fanny war tatsächlich ihr (christlicher) Vor¬name, denn sie hatte ihn in der Kirche erhalten. In der Tat war es dem Einfluß der beiden Brüder zuzuschreiben, daß ich selbst in der Methodisten-Kirche (oder Wesleyan Church, wie man sie damals nannte) getauft und dorthin zur Schule geschickt wur¬de. Die Mbekela-Brüder sahen mich oft in der Nähe beim Spie¬len oder Schafehüten. Mitunter kam der eine oder der andere, urn sich mit mir zu unterhalten, und eines Tages besuchte George Mbekela dann meine Mutter. .Dein Sohn ist ein aufge¬weckter kleiner Kerl<<, sagte er. .Er sollte zur Schule gehen.<< Meine Mutter schwieg. Niemand in meiner Familie hatte je die Schule besucht, und meine Mutter war auf den Vorschlag Mbekelas nicht vorbereitet. Doch teilte sie ihn meinem Vater mit, der trotz - oder vielleicht wegen - seines eigenen. Mangels an Bildung auf der Stelle entschied, daß sein jüngster Sohn die Schule besuchen sollte. Die Schule befand sich in einem einräumigen Haus westlichen Stils auf der anderen, Qunu abgewandten Seite des Hügels. Am Tag vor meinem ersten Schultag - ich war inzwischen sieben¬einhalb Jahre alt - nahm mich mein Vater beiseite und erklärte mir, für die Schule mußte ich ordentlich gekleidet sein. Bis dahin hatte ich, wie alle Jungen in Qunu, nur eine Wolldecke getragen, über eine Schulter geschlungen und an der Hüfte zusammenge¬steckt. Mein Vater nahm eines seiner Hosenpaare und schnitt die Hosenbeine in Kniehöhe ab. Er befahl mir, die Hose anzuziehen, was ich auch tat, und sie hatte ungefähr die richtige Länge, war jedoch um die Hüften viel zu weit. Daraufhin nahm mein Vater ein Stück Schnur und straffte die Hose an der Taille. Ich muß einen komischen Anblick geboten haben, doch nie habe ich ein Kleidungsstück besessen, auf das ich stolzer gewesen wäre als auf meines Vaters abgeschnittene Hose.
Am ersten Schultag gab meine Lehrerin, Miss Mdingane, je¬dem von uns einen englischen Namen und erklärte, von nun an sei das der Name, auf den wir in der Schule zu hören flätten. Dies war üblich unter den Afrikanern jener Tage und geht zweifellos auf das britische Vorurteil gegenüber unserer Erziehung zurück. Die Erziehung, die ich erhielt, war eine britische, in der britische Gedanken, britische Kultur, britische Institutionen automatisch als höherwertig angesehen wurden. So etwas wie eine afrika-nische Kultur kam nicht vor.
Afrikaner meiner Generation - und selbst heute noch - haben im allgemeinen sowohl einen englischen als auch einen afrikani¬schen Namen. Weiße waren nicht fähig oder nicht gewillt, einen afrikanischen Namen auszusprechen, und hielten es für unzivi¬lisiert, überhaupt einen zu haben. An jenem Tag erklärte mir Miss Mdingane, mein newer Name sei Nelson. Warum sie mir diesen Namen gab, weiß ich nicht. Vielleicht hatte es etwas mit dem großen britischen Seefahrer Lord Nelson zu tun, aber das wäre reine Vermutung.
* * *
Eines Nachts, als ich neun Jahre alt war, bemerkte ich in un¬serem Haushalt eine bestimmte Unruhe. Mein Vater, der uns mo¬natlich fa etwa eine Woche zu besuchen pflegte, war eingetrof¬fen, jedoch nicht zur gewohnten Zeit. Normalerweise hätte er erst ein paar Tage später kommen sollen. Ich fand ihn in der Hütte meiner Mutter, mit dem Rücken auf dem Boden liegend und durchgeschüttelt von einem schier endlosen Hustenanfall. Selbst für meine jungen Augen war es klar, daß mein Vater nicht mehr lange auf dieser Welt weilen würde. Er muß an irgendeiner Lungenkrankheit gelitten haben, doch es fehlte eine Diagnose, weil mein Vater in seinem ganzen Leben nie einen Arzt aufge¬sucht hatte. Mehrere Tage blieb er in der Hütte, ohne sich zu bewegen oder zu sprechen, und dann, eines Nachts, schien es ihm schlechter zu gehen. Meine Mutter und die jüngste Frau meines Vaters, Nodayimani, die bei uns wohnte, kümmerten sich um ihn, und später in derselben Nacht rief er nach Nodayimani. Sie ging zu ihm, und er sagte: »Bring mir meinen Tabak.« Meine Mutter und Nodayimani berieten sich und befanden, daß es unvernünftig sei, ihm in seinem Zustand Tabak zu geben. Doch er rief immer wieder danach, und schließlich stopfte Nodayimani seine Pfeife, entzündete sie und reichte sie ihm so¬dann. Mein Vater rauchte und wurde ruhig. Er rauchte etwa eine Stunde lang, und dann, mit immer noch brennender Pfeife, starb er.
Ich erinnere mich nicht daran, große Trauer empfunden zu haben, sondern vielmehr ein Gefühl des Abgeschnittenseins. Ob¬wohl meine Mutter der Mittelpunkt meiner Existenz war, defi¬nierte ich mich über meinen Vater. Der Tod meines Vaters veränderte mein ganzes Leben in einer Weise, von der ich damals noch nichts ahnte. Nach einer kurzen Trauerzeit teilte mir mei¬ne Mutter mit, daß ich Qunu verlassen würde. Ich fragte sie nicht, warum oder wohin.
Ich packte meine wenigen Habseligkeiten, und eines Morgens brachen wir früh auf zu einer Reise westwärts zu dem Ort, der meine neue Heimat werden sollte. Ich trauerte weniger um meinen Vater als um die Welt, die ich zurücklassen mußte. Qunu war alles, was ich kannte, und ich liebte es in jener bedin¬gungslosen Art, in der Kinder ihre erste Heimat lieben. Bevor wir hinter den Hügeln verschwanden, drehte ich mich um und blick¬te, wie ich damals meinte, zum letzten mal auf mein Dorf zurück. Ich konnte die einfachen Witten sehen und die Menschen, die ihre Arbeit verrichteten; das Flachen, wo ich mit den anderen Jungen geplanscht und gespielt hatte; die Maisfelder und die grünen Weiden, wo die Herden träge grasten. Ich stellte mir vor, wie meine Freunde nach kleinen Vögeln jagten, köstliche Milch aus dem Euter einer Kuh tranken und herumtollten im Teich am Ende des Baches. Vor allem aber ruhte mein Auge auf den drei einfachen Hütten, wo ich die Liebe und den Schutz meiner Mutter genossen hatte. Es waren diese drei Hütten, die sich für mich verbanden mit all meinem Glück, mit dem Leben selbst, und ich bedauerte, daß ich nicht vor unserem Aufbruch jede ein¬zelne geküßt hatte. Es war für mich unvorstellbar, daß die Zu¬kunft, der ich jetzt entgegenwanderte, in irgendeiner Weise ver¬gleichbar sein würde mit der Vergangenheit, die ich hinter mir ließ.
Wir reisten zu Fuß und im Schweigen, bis die Sonne langsam dem Horizont entgegensank. Doch das Schweigen des Herzens zwischen Mutter und Kind hat nichts von Einsamkeit. Meine Mut¬ter und ich sprachen nie sehr viel miteinander, das brauchten wir auch nicht. Niemals stellte ich ihre Liebe in Frage oder zweifelte an ihrer Hilfe. Es war eine strapaziöse Reise, über steinige Wege, hügelauf und hügelab, vorbei an zahlreichen Dörfern, aber wir legten keine Rast ein. Am späten Nachmittag, auf dem Grun¬de eines flachen, von Bäumen gesäumten Tals, gelangten wir zu einem Dorf, in dessen Mitte sich ein Besitz befand, so groß und so schön, daß er bei weitem alles übertraf, was ich je gesehen hatte, und ich nichts tun konnte, als ihn zu bestaunen. Er bestand aus zwei Iingxande (oder rechteckigen Häusern) und sieben pracht¬vollen Rondavels (bessere Hütten), sämtlich weißgetüncht, ein blendender Anblick selbst im Schein der untergehenden Sonne. Er hatte einen großen Vorgarten und ein von Pfirsichbäumen be¬grenztes Maisfeld. Hinten breitete sich ein noch größerer Garten aus mit Apfelbäumen, einem Blumenbeet, einem Gemüsegarten und einem Rutengebüsch. In der Nähe stand eine weiße Stuck¬kirche.
Im Schatten von zwei Eukalyptusbäumen, die den Eingang des Haupthauses flankierten, saß eine Gruppe von etwa zwanzig Stammesältesten. Auf dem Weidegrund rund um den Besitz graste zufrieden eine Herde von wenigstens 50 Rindern und viel¬leicht 500 Schafen. Alles wirkte wunderbar gepflegt und bot ei¬nen Anblick von Reichtum und Ordnung, der meine Phantasie überstieg. Dies war der Große Platz, Mqhekezweni, die proviso¬rische Hauptstadt von Thembuland, die königliche Residenz von Häuptling Jongintaba Dalindyebo, dem amtierenden Regenten der Thembus.
Ich betrachtete gerade diese Herrlichkeit, als ein mächtiges Automobil durch das westliche Tor rumpelte und die im Schat¬ten sitzenden Männer sich sofort erhoben. Sie zogen ihre Kopf-bedeckungen und riefen, auf die Füße springend: .Bayethe a-a-a¬Jongintaba!<< ( »Heil dir, Jongintaba! << ), den traditionellen Gruß der Xhosas für ihr Oberhaupt. Aus dem Automobil (später er¬fuhr ich, daß dieses stattliche Vehikel ein Ford-V 8 war) stieg ein kleiner, untersetzter Mann in einem eleganten Anzug. Ich konnte erkennen, daß er das Selbstvertrauen und das entschie¬dene Auftreten eines Mannes hatte, der an die Ausübung von Macht gewöhnt war. Sein Name paßte zu ihm, denn Jongintaba bedeutet wörtlich .Einer, der den Berg anschaut<<, und er besaß eine starke Ausstrahlung, die alle Blicke auf sich zog. Er hatte ei¬ne dunkle Hautfarbe und ein intelligentes Gesicht, und unge¬zwungen begrüßte er mit Handschlag jeden der Männer unter dem Baum, die Mitglieder des höchsten Thembu-Gerichtshofs, wie ich später erfuhr. Dies war der Regent, der für das nächste Jahrzehnt mein Vormund und Wohltäter sein sollte. In diesem Moment, den Blick gerichtet auf Jongintaba und seinen Hof, kam ich mir vor wie ein Schößling, der mit all seinen Wurzeln aus dem Boden gerissen und mitten in einen Fluß ge¬schleudert worden war, dessen starker Strömung er nicht wider¬stehen konnte. Ich hatte ein Gefühl von Ehrfurcht, gemischt mit Verwirrung. Bis zu dem Augenblick hatte ich ausschließlich an meine eigenen Vergnügungen gedacht und keinen größeren Ehr¬geiz gehabt, als gut zu essen und ein Meisterstockkämpfer zu werden. Keinen Gedanken an Geld oder Klasse, Ruhm oder Macht. Plötzlich tat sich vor mir eine neue Welt auf. Kinder aus armen Familien, die sich auf einmal einem für sie unvorstellba¬ren Wohlstand gegenübersehen, fühlen sich einer Menge neuer Versuchungen ausgesetzt. Ich war da keine Ausnahme. In diesem Augenblick spürte ich, wie viele meiner Überzeugungen und An¬sichten gleichsam fortgespült wurden. Das schlanke, von meinen Eltern errichtete Fundament begann zu schwanken. In jenem Augenblick sah ich, daß das Leben für mich mehr bereithalten mochte als eine Meisterschaft im Stockkämpfen.
Später erfuhr ich, daß sich nach meines Vaters Tod Jongin¬taba erboten hatte, mein Vormund zu werden. Er würde mich ge¬nauso behandeln wie seine Kinder, und ich würde die gleichen Vorteile genießen wie sie. Meine Mutter hatte keine Wahl; ein solches Angebot des Regenten lehnte man nicht ab, und obwohl sie mich vermissen würde, war sie dock froh, daß ich unter der Obhut des Regenten in günstigeren Umständen aufwachsen wür¬de als unter ihrer eigenen Obhut. Der Regent hatte nicht verges¬sen, daß er aufgrund der Intervention meines Vaters amtierendes Oberhaupt geworden war.
Meine Mutter blieb noch ein oder zwei Tage in Mqhekezwe¬ni, bevor sie sich auf den Rückweg nach Qunu machte. Wir schieden ohne Umstände voneinander. Sie hielt keine Predigt, bot keine weisen Worte, keine Küsse. Vermutlich wollte sie nicht, daß ich mich nach ihrem Fortgehen irgendwie verwaist fühlte, und verhielt sich deshalb so sachlich nüchtern. Ich wußte, daß ich, dem Wunsch meines Vater gemäß, eine gute Erzieherin erhalten sollte, als Vorbereitung auf eine weite Welt; und das war in Qunu nicht möglich. Ihr zärtlicher Blick enthielt all die Zu¬neigung und den Zuspruch, die ich brauchte, und als sie davon¬ging, drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Uqinisufokotho Kwedini!<< (etwa: »Halt die Ohren steif, mein Junge! ) Kinder können die unsentimentalsten Wesen sein, zumal wenn sie sich neuen Vergnügungen hingeben. Während sich meine liebe Mut¬ter und meine beste Freundin auf dem Heimweg befand, schwirr¬te mir der Kopf von den Freuden meines neuen Lebens. Ohren steif? Ich hätte den Kopf kaum höher tragen können. Ich trug bereits die hübsche neue Kleidung, die mein Vormund für mich besorgt hatte.
Bald war ich ein Teil des täglichen Lebens von Mqhekezweni. Ein Kind paßt sich schnell an oder überhaupt nicht - und ich fühlte mich zu dem Großen Platz hingezogen, als sei ich dort auf¬gewachsen. Für mich war es ein Wunderreich; alles erschien freudvoll; Verrichtungen, die in Qunu lästig gewesen waren, wurden in Mqhekezweni zum Abenteuer. War ich nicht in der Schule, so betätigte ich mich als Hirte, als Wagenlenker, als Pflü¬ger. Ich ritt auf Pferden, schoß mit Steinschleudern auf Vögel und wetteiferte mit anderen Jungen, und abends tanzte ich manchmal zu dem wunderschönen Gesang und dem Händeklatschen von Thembu-Mädchen. Obschon ich Qunu und meine Mutter ver¬mißte, ging ich schon bald völlig in der Gemeinde von Mqhe¬kezweni auf.
Ich besuchte eine kleine, einräumige Schule auf dem Hügel¬kamm und lernte Englisch, Xhosa, Geschichte und Geographie. Wir lasen Chambers English Reader und schrieben auf schwarze Schiefertafeln. Unsere Lehrer, Mr. Fadana und später Mr. Giqwa, nahmen an mir ein besonderes Interesse. Ich lernte schnell, aller¬dings weniger aufgrund meiner Klugheit als meiner Zähigkeit. Meine Selbstdisziplin wurde bestärkt von meiner Tante Phat¬hiwe, die im Großen Platz, dem Anwesen des Regenten, wohnte und meine Schularbeiten mit unerbittlicher Strenge überwachte. Mqhekezweni war eine Missionsstation der Methodist Church und weit moderner und westlicher als Qunu. Die Men¬schen trugen moderne Kleidung. Die Frauen bevorzugten den strengen protestantischen Stil der Missionare: dicke lange Röcke aus schwerem Stoff und Blusen, die bis zum Hals hinaufreichten; dazu eine über die Bluse drapierte Decke und ein mit Eleganz gewundenes Kopftuch.
Die Welt von Mqhekezweni drehte sich um den Regenten, meine kleinere Welt um seine zwei Kinder. Justice, sein einziger Sohn und folglich auch Erbe des Großen Platzes, und Nomafu, seine Tochter und jünger als Justice. Ich lebte mit ihnen und wur¬de genauso behandelt wie sie. Wir aßen die gleiche Nahrung, tru¬gen die gleiche Kleidung, erledigten die gleichen Aufgaben. Später kam noch Nxeko hinzu, der ältere Bruder von Sabata, dem Thronerben. Wir vier bildeten eine Art königliches Quartett. Der Regent und seine Frau No-England erzogen mich, als sei ich ihr eigenes Kind. Sie sorgten sich um mich, leiteten mich an und be¬straften mich auch, alles im Geist der Liebe und Gerechtigkeit. Jongintaba war streng, doch ich zweifelte nie an seiner Liebe zu mir. Sie riefen mich bei meinem Kosenamen Tatomkkulu, was »Großvater<< bedeutet, weil sie fanden, daß ich mitunter, wenn ich sehr ernst dreinblickte, wie ein alter Mann aussah.
Justice, vier Jahre älter als ich, wurde mein erster Held nach meinem Vater. Ich blickte in jeder Hinsicht zu ihm auf. Als ich nach Mqhekezweni kam, war er bereits in Clarkebury, einer rund 100 Kilometer entfernten Boardingschool. Er war groß, schön, muskulös und ein ausgezeichneter Sportsmann, der sich besonders hervortat in Leichtathletik, Cricket, Rugby und Fu߬ball. Er besa8 ein stets fröhliches und offenes Wesen und bezau¬berte seine Umwelt durch seine Natürlichkeit. Mit seiner pracht¬vollen Singstimme und seinem geschliffenen Ballsaaltanzen konnte er Menschen betören. Wie sich denken läßt, hatte er eine Schar von Verehrerinnen - aber auch eine kleine Armee von Kri¬tikern, in deren Augen er zu sehr der Dandy und der Playboy war. Wir waren die besten Freunde, jedoch in mancherlei Hinsicht das genaue Gegenteil des anderen: Er war extrovertiert, ich eher in¬trovertiert; er war stets unbeschwert, während ich ziemlich ernst war. Er war auf natürliche Weise geschickt und eignete sich mühelos etwas an; ich musste üben und mich selbst drillen. Für mich war er alles, was ein junger Mann sein konnte, und alles, was ich sein wollte. Obwohl uns die gleiche Behandlung zuteil wurde, waren unsere Schicksale sehr verschieden: Justice würde eines der mächtigsten Häuptlingstümer des Thembu-Stammes erben. Ich würde erben, was immer der Regent in seiner Gro߬mut mir zu geben beschloß.
Jeden Tag erledigte ich im Haus des Regenten oder draußen allerlei Pflichten. Zu den vielen Dingen, die ich für den Regen¬ten tat, gehörte das Bügeln seiner Anzüge, meine Lieblings¬tätigkeit, auf die ich sehr stolz war. Er besaß ein halbes Dut¬zend westliche Anzüge, und ich verwandte manche Stunden auf möglichst präzise Bügelfalten. Sein Palast, wenn man es so nen¬nen will, bestand aus zwei großen, blechbedeckten Häusern im westlichen Stil. Damals besaßen nur ganz wenige Afrikaner westliche Häuser, und sie galten als Kennzeichen großen Reich¬tums. Außer den beiden Häusern gab es sechs Rondavels, die in einer Art Halbkreis das Haupthaus umstanden. Die Häuser hatten Holzfußböden, etwas, das ich bis dahin noch nie gese¬hen hatte. Der Regent und die Königin schliefen in dem Ron-davel zur Rechten Hand; die Schwester der Königin in dem in der Mitte; und die Hütte links diente als Pantry, als Speise¬kammer. Unter dem Fußboden in der Hütte der Schwester der Königin befand sich ein Bienenstock, und manchmal hoben wir Fußbodenbretter heraus und schlemmten von dem Honig. Bald nach meiner Ankunft in Mqhekezweni zogen der Regent und seine Frau in das Uxande (mittleres Haus), das automatisch das Große Haus wurde. In seiner Mitte gab es drei kleine Ronda¬vels. Eines davon wurde von der Mutter des Königs bewohnt, das zweite teilten sich Justice und ich, und das dritte war für Besucher reserviert. Die beiden Prinzipien, die mein Leben in Mqhekezweni be¬herrschten, waren das Häuptlingsamt und die Kirche. Diese bei¬den Doktrinen existierten gleichsam in unstimmiger Harmonie, dock empfand ich sie in gar keiner Weise als antagonistisch. Für mich war das Christentum weniger ein Glaubenssystem als viel¬mehr der kraftvolle Glaube eines einzelnen Mannes: Reverend Matyolo. Seine eindrucksvolle Persönlichkeit umschloß für mich alles, was das Christentum anziehend machte. In Mqhekezweni war er so populär und beliebt wie der Regent, und die Tatsache, daß er in spirituellen Dingen über dem Regenten stand, beein¬druckte mich tief. Doch die Kirche war statt mit dem Jenseitigen vor allem mit dieser Welt befaßt, und ich erkannte, daß praktisch all die Errungenschaften der Afrikaner durch ihre missionarische Tätigkeit erreicht zu sein schienen. Die Missionsschulen bildeten Clerks, Dolmetscher und Polizisten aus, die damals so etwas wie den Gipfel afrikanischer Ambitionen darstellten.
Reverend Matyolo war ein gewichtiger Mann Mitte Fünfzig, mit einer tiefen und kraftvollen Stimme, die ihm beim Predigen wie such beim Singen von Nutzen war. Wenn er in der einfachen Kirche am westlichen Ende von Mqhekezweni predigte, quoll der Raum stets von Menschen über. Es halite nur so wider von Hosi¬annas, und die Frauen knieten zu seinen Füßen und baten ihn um seinen Segen. Die allererste Geschichte, die ich über ihn hörte, handelte davon, daß Reverend Matyolo ganz allein und nur mit einer Bibel und einer Laterne als Waffen einen gefährlichen Geist verjagt hatte. Damals erkannte ich weder die Unwahrscheinlich¬keit noch die Widersprüchlichkeit dieser Geschichte. Der von Re¬verend Matyolo gepredigte Methodismus war gleichsam Feuer und Schwefel, versetzt mit ein wenig afrikanischem Animismus. Der Herr war weise und mächtig, aber er war auch ein rachsüchti¬ger Gott, der keine böse Tat ungestraft hingehen ließ .
In Qunu hatte ich nur einmal die Kirche besucht, und zwar an dem Tag, an dem ich getauft wurde. Für mich war Religion ein Ritual, dem ich mich meiner Mutter zuliebe unterzogen hatte und das mir bedeutungslos erschien. In Mqhekezweni war die Religion jedoch ein fester Bestandteil des Lebens, und gemein¬sam mit dem König, der die Religion sehr ernst nahm, und der Königin besuchte ich jeden Sonntag die Kirche. Die einzige Tracht Prügel, die ich je vom König erhielt, bekam ich, als ich einmal den Sonntagsgottesdienst schwänzte, um an einem Kampf gegen Jungen aus einem anderen Dorf teilzunehmen; ein solches Vergehen leistete ich mir nie wieder.
Reverend Matyolo war indirekt die Ursache für eine weitere scharfe Zurechtweisung, die mir in diesem Fall die Frau des Re¬genten erteilte. Eines Nachmittags kroch ich mit ein paar ande¬ren Jungen in Reverend Matyolos Garten und klaute ein paar Maiskolben, die wir sofort rösteten und vertilgten. Vielleicht vergnügten wir uns allzu sehr, denn ein junges Mädchen hörte uns im Garten lachen und verpetzte uns sofort beim Priester. Die Neuigkeit machte rasch die Runde und gelangte, später am Tag, bis zur Frau des Regenten. Sie wartete bis zur Gebetszeit am Abend - einem täglichen Ritual im Haus -, um mich mit der Be¬schuldigung zu konfrontieren und mich dafür zu tadeln, daß ich einem armen Diener Gottes sein Brot gestohlen und der Familie Schande bereitet hätte. Der Teufel, sagte sie, werde mich für die-se Versündigung zur Rechenschaft ziehen. Nach dieser Abkanz¬lung durch meine Stiefmutter empfand ich eine unbehagliche Mischung aus Angst und Scham - Angst vor einer gleichsam kos-mischen Maulschelle und Scham, weil ich das Vertrauen meiner Adoptivfamilie mißbraucht hatte.
Wegen der allgemeinen Achtung, die der Regent genoß - von seiten der Schwarzen wie der Weißen und der scheinbar unbe¬grenzten Macht, die er ausübte, sah ich das Häuptlingstum als absoluten Mittelpunkt, um den sich das Leben bewegte. Macht und Einfluß des Häuptlingsamtes durchdrangen jeden Aspekt unseres Lebens in Mqhekezweni, und es schien mir das vor¬züglichste Mittel, durch das man Einfluß und Status erlangen konnte.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Nelson Mandela
Rolihlahla Nelson Mandela, geb. 1918 in Südafrika, war weltbekannt für seinen Kampf gegen die Apartheid, für den er 27 Jahre im Gefängnis verbringen musste. 1993 erhielt er den Friedensnobelpreis, ein Jahr später wurde er Südafrikas erster schwarzer Präsident. Mandela wuchs in dem ländlichen Dorf Qunu auf, sein Vater war Thembu-Häuptling. Am 5. Dezember 2013 starb Nelson Mandela im Alter von 95 Jahren im Kreise seiner Familie. Südafrikas Präsident Jacob Zuma würdigte Afrikas Freiheitsheld mit den Worten: "Unsere Nation hat ihren größten Sohn verloren, unser Volk seinen Vater".
Bibliographische Angaben
- Autor: Nelson Mandela
- 2013, 24. Aufl., 864 Seiten, 24 Abbildungen, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Günter Panske
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596138043
- ISBN-13: 9783596138043
- Erscheinungsdatum: 12.09.2001
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