Dunkle Flammen der Leidenschaft / Night Prince Bd.1
Roman
Leila hat eine besondere Gabe: Wenn Menschen sie berühren, dann kann sie die Vergangenheit, manchmal sogar die Zukunft dieser Menschen sehen. Diese Gabe ist auch schuld daran, dass sie sich unwiderstehlich zu Vampir Vlad hingezogen fühlt. Er entfacht in ihr pure Leidenschaft.
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Produktinformationen zu „Dunkle Flammen der Leidenschaft / Night Prince Bd.1 “
Leila hat eine besondere Gabe: Wenn Menschen sie berühren, dann kann sie die Vergangenheit, manchmal sogar die Zukunft dieser Menschen sehen. Diese Gabe ist auch schuld daran, dass sie sich unwiderstehlich zu Vampir Vlad hingezogen fühlt. Er entfacht in ihr pure Leidenschaft.
Klappentext zu „Dunkle Flammen der Leidenschaft / Night Prince Bd.1 “
Leila Dalton verfügt über die Gabe, in die Vergangenheit jedes Menschen zu blicken, den sie berührt. Durch diese mächtige Fähigkeit befindet sie sich plötzlich inmitten einer Fehde, die bereits seit Jahrhunderten tobt. Sie stellt sich ohne zu zögern auf die Seite des Vampirs Vlad. Seine unnahbare und doch gefühlvolle Art fasziniert sie mehr, als sie sich jemals hätte träumen lassen. Und Leila wird, da sie in seiner leidenschaftlichen Umarmung endlich die Liebe kennengelernt hat, ihr neues Glück nicht aufgeben ...
Lese-Probe zu „Dunkle Flammen der Leidenschaft / Night Prince Bd.1 “
Dunkle Flammen der Leidenschaft von Jeaniene FrostAus dem Englischen von Sandra Müller
1
Ich parkte mein Rad vor dem Lokal und wischte mir den Schweiß von der Oberlippe. Es war untypisch warm diesen Januar, aber den Winter über in Florida zu schwitzen war besser, als im Norden zu frieren. Ich drehte mein Haar zu einem Knoten, und mein Nacken wurde sofort kühler, als die lange schwarze Mähne nicht mehr darüber fiel. Noch einmal fuhr ich mir über die Stirn, bevor ich das Lokal betrat und an den Tischen vorbei auf die an der Bar sitzenden Gäste zustrebte.
Schon auf den ersten Blick sah ich, dass die meisten durchschnittlich groß waren, ein paar besonders hoch Aufgeschossene nicht ein geschlossen. Mist. Wenn Marty nicht hier war, musste ich zu seiner zweitliebsten Kneipe radeln, und es sah nach Regen aus. Ich ging zwischen den Tischen hindurch, die rechte Hand an den Schenkel gepresst, damit ich nur ja niemanden berührte. Sonst hätte ich den unförmigen Elektrikerhandschuh tragen müssen, der mir stets Fragen von neugierigen Fremden einbrachte. An der Bar schenkte ich dem gepiercten, tätowierten Mann, der zur Seite gerückt war, sodass ich Platz an der Theke fand, ein Lächeln.
»Hast du Marty gesehen?«, fragte ich ihn.
Dean schüttelte den Kopf, dass die Ketten klimperten, die von seinen Nasenflügeln bis zu den Ohren reichten. »Bisher nicht, aber ich bin auch gerade erst gekommen.«
»Raquel?«, rief ich. Die Barkeeperin drehte sich um, sodass ich ihr hübsches, aber bärtiges Gesicht sehen konnte, das die Touristen verstohlen oder offen angafften.
»Das Übliche, Frankie?«, fragte sie und griff nach einem Weinglas.
... mehr
Eigentlich hieß ich nicht Frankie, das war nur mein Künstlername. »Heute nicht. Ich bin auf der Suche nach Marty.«
»War noch nicht hier«, antwortete sie.
Raquel fragte nicht, warum ich persönlich vorbeigekommen war, statt telefonisch nachzufragen. Alle in Gibsonton überwinternden Schausteller taten, als wüssten sie nichts von meinen Besonderheiten, doch außer Marty versuchte niemand mich anzufassen, und es machte sich auch niemand erbötig, mich im Auto mitzunehmen, wenn er mich auf dem Fahrrad sah, egal wie das Wetter war.
Ich seufzte. »Wenn er kommt, sagst du ihm, dass ich ihn suche, ja?« Wir hätten vor zwei Stunden schon mit dem Training anfangen sollen. Außerhalb der Saison verwandelte sich mein sonst so disziplinierter Partner Marty in eine ziemliche Schnarchnase. Fand ich ihn nicht bald, würde man nicht mehr vernünftig mit ihm reden können. Er würde die ganze Nacht saufen und Geschichten von früher erzählen, als das Schaustellerleben noch eitel Sonnenschein gewesen war.
Raquel lächelte, sodass man ihre hübschen weißen Zähne sehen konnte, die in krassem Kontrast zu dem dunklen, kratzigen Bart standen. »Klar doch.«
Ich wollte mich bereits wieder auf den Weg machen, als Dean mit der Gabel an sein Bierglas tippte, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. »Soll ich im Tropicana anrufen und fragen, ob Marty da ist?«
Seine Vermutung, wohin ich als Nächstes wollte, war richtig, aber schließlich kannte er Marty schon länger als ich.
»Es sind bloß anderthalb Kilometer, und ich muss meine Beine trainieren.«
»Für mich sehen die ganz okay aus«, meinte Dean heiser und warf einen langen Blick auf die fraglichen Körperteile, bevor er auch noch den Rest von mir musterte. Wegen der Hitze trug ich nur Shorts und ein Tanktop, sodass er ziemlich ungehinderte Sicht hatte. Schließlich schüttelte er den Kopf, als wollte er sich in Erinnerung rufen, warum es keine gute Idee war, mich abzuchecken. »Bis dann, Frankie«, meinte er in energischerem Tonfall.
Ich verspürte ein Engegefühl in der Brust, das mir ebenso vertraut wie lästig war. Ja, Dean wusste, warum es zwecklos war, von meinen Beinen - oder irgendeinem anderen Teil meines Körpers - zu träumen, und ich hatte mich schon vor langer Zeit damit abgefunden, dass es Dinge gab, die ich nie würde erleben können. Aber dann wurde ich doch schwach und ertappte mich dabei, wie ich ein Pärchen an einem der Tische betrachtete. Die beiden hatten die Finger verschränkt und flüsterten miteinander. Sie schienen sich dieser alltäglichen Geste kaum bewusst zu sein, doch meine Aufmerksamkeit erregte sie, als würde ein Scheinwerfer ihre Hände ausleuchten, bis das Engegefühl fast zu einem Brennen wurde.
Das Pärchen, das anscheinend gemerkt hatte, dass ich es beobachtete, warf mir einen Blick zu, der aber schnell wieder an mir vorbeiwanderte. Entweder hatten die beiden die Narbe nicht bemerkt, die von meiner Schläfe bis zu meiner rechten Hand reichte, oder sie interessierten sich mehr für Deans körperdeckende Eidechsen-Schuppen-Tätowierung, Raquels Bart, J. D.s Körpergröße von zwei Meter vierzig oder Katies fünfunddreißig Zentimeter schmale Taille, die im Kontrast zu ihren ausladenden Hüften und dem DoppelD- Körbchen umso zerbrechlicher wirkte. Es war auch noch früh. Die Stammgäste des Showtown USA trudelten meist erst nach neun ein.
Das Pärchen begaffte weiter ungeniert das Grüppchen an der Bar, und der Ärger, den ich darüber empfand, dass meine Freunde es sich gefallen lassen mussten, so angestarrt zu werden, ließ die Melancholie verfliegen, die mich kurz überkommen hatte. Manch einen Touristen verschlug es nach Gibsonton, weil er die Überbleibsel des Zirkuslebens bestaunen wollte, die in vielen Straßen noch zu sehen waren, andere wollten die Tanzbären, Elefanten oder anderen exotischen Tiere sehen, die der eine oder andere sich im Vorgarten hielt, die meisten aber kamen, um die »Freaks« zu begaffen. Die Anwohner waren immun dagegen oder zeigten ihre Besonderheiten für ein Trinkgeld, ich aber konnte mir meine Verärgerung über dieses anstößige Benehmen noch immer nicht verkneifen. Andersartigkeit machte einen schließlich nicht zum Untermenschen, und doch wurden viele der Einwohner Gibsontons von den Passanten genauso behandelt.
Aber es stand mir nicht zu, die Touristen für ihr mangelndes Feingefühl zu kritisieren, ganz zu schweigen davon, dass Raquel es alles andere als gern gesehen hätte, wenn ich ihre Gäste herunter putzte. Also presste ich die Lippenzusammen und strebte auf die Tür zu, überrascht, als sie genau in dem Moment aufschwang, in dem ich die Klinke ergreifen wollte. Ich machte einen Satz rückwärts und schaffte es so gerade noch, nicht von einem Mann überrannt zu werden, der hereinstolzierte, als gehörte das Lokal ihm, konnte aber trotzdem nicht vermeiden, dass seine Hand meinen Arm streifte.
»Autsch!«, rief er und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Was sollte das denn?«
Er wusste es nicht, aber er hatte Glück gehabt. Hätte ich nicht gelernt, etwas von dem Strom, der in mir floss, zu zügeln, und wenn ich nicht einen Großteil erst eine Stunde zuvor in Blitzableiter entladen hätte, wäre es ihm viel schlechter ergangen.
»Statische Elektrizität«, log ich. »Ist schlimm hier in der Gegend.«
Der Gesichtsausdruck des Mannes sagte mir, dass er mir nicht glaubte, aber meine Hände waren leer, und mein Outfit verbarg auch kaum etwas. Er funkelte mich noch einmal an und drehte mir dann den Rücken zu.
»Welche Ausfahrt muss ich nach Tampa nehmen?«, rief er in die Runde. »Mein scheiß Navi funktioniert hier nicht.«
Das war in der Gegend nicht weiter ungewöhnlich, und ich hätte ihm Auskunft geben können, schwieg aber, weil ich nicht noch einmal riskieren wollte, ihn unabsichtlich zu berühren, wenn ich mit ihm sprach.
Ich war gerade dabei, die Kneipe zu verlassen, als eine gehetzt wirkende Blondine geradewegs in mich hineinrannte. Sie stieß einen leisen Aufschrei aus, und aus purem Frust hätte ich am liebsten mitgeschrien. Jetzt hatte ich monatelang jeden Körperkontakt verhindern können, um heute binnen fünf Minuten gleich zwei Leuten einen Schlag zu verpassen. Wenigstens hatte der ungehobelte Typ schon einiges abbekommen, sodass die Frau den Schlag, den ich ihr verpasst hatte, wirklich für statische Elektrizität halten konnte.
»Verzeihung«, sagte ich und wich sofort zurück.
»Meine Schuld«, lachte sie und tätschelte mir begütigend den Arm. »Ich habe nicht aufgepasst ...«
Was sie dann sagte, hörte ich nicht mehr. Bilder schossen mir durch den Kopf, schwarz-weiß, grau.
Ich war mit meinem Liebhaber im Bett, unser Keuchen das einzige Geräusch im Raum. Hinterher flüsterte ich ihm zu, dass ich meinem Mann am nächsten Wochenende sagen würde, dass ich ihn verlasse.
Das war es allerdings nicht, was mich zusammenfahren ließ. Die Bilder, die dann meinen Geist erfüllten, waren es, in Farbe diesmal, aber undeutlich, wie durch Nebel betrachtet.
Ich war in einem dichten Sumpfgebiet und starrte voller Entsetzen meinen Mann an, der meine Kehle umklammerte. Schmerz explodierte in meinem Hals, sodass ich alles nur noch verschwommen sah, während ich vergeblich an seinen behandschuhten Händen kratzte und zog, um sie zu lösen. Er drückte fester zu, während er mir sagte, dass er von meiner Affäre erfahren hätte und wie er meine Leiche verschwinden lassen würde. Der Schmerz wurde immer stärker, bis mein ganzer Körper brannte. Dann hörte er zum Glück auf, und ich hatte das Gefühl davon zu schweben. Mein Mörder rührte sich nicht, mit den Händen noch immer meine Kehle umklammernd, nicht wissend, dass ich von oben auf ihn heruntersah. Irgendwann ließ er los. Er ging zu dem geparkten Wagen, öffnete den Kofferraum und nahm ein paar Gegenstände heraus, während er sich überlegte, von welchem er zuerst Gebrauch machen sollte ...
»Frankie!«
Ich blinzelte und war wieder in meinem eigenen Kopf. Die nebligen Bilder traten in der Hintergrund, bis ich die Kneipe um mich herum wieder kristallklar sehen konnte. Dean stand zwischen mir und der Frau, die durch die Berührung meiner rechten Hand unwillentlich meine Gabe aktiviert hatte. Dean machte nicht diesen Fehler, stand aber so dicht vor mir, dass ich über seine Schulter sehen musste, um die Frau im Blick zu behalten. Sie hielt ihre Hand, als hätte sie Schmerzen, und sagte mit geweiteten braunen Augen etwas zu dem Mann, den ich jetzt als ihren Ehemann erkannte. Den Mann, der sie heute Abend ermorden würde, wenn ich ihn nicht aufhielt.
»Ich habe nichts getan!«, rief sie immer wieder. »Sie hat einfach angefangen zu schreien ...«
Ihr Mann packte sie am Arm. »Raus aus der Geisterbahn, Jackie, wir fragen woanders nach dem Weg.«
»Halte sie auf«, keuchte ich an Dean gewandt und glaubte, noch immer, die Finger des Mannes an meiner Kehle spüren zu können. »Er wird sie umbringen.«
Gerade noch waren alle Barbesucher mit sich selbst beschäftigt gewesen, da lenkten meine Worte die Aufmerksamkeit aller effektiver auf mich als ein Pistolenschuss. Jackie starrte mich nur an, aber die Augen ihres Mannes wurden schmal. Er begann, sich durch die kleine Menge, die sich um uns geschart hatte, einen Weg nach draußen zu bahnen, und zog seine Frau dabei mit sich.
Dean vertrat ihnen den Weg. »Sie werden jetzt noch nicht gehen«, stellte er ruhig fest.
Der Mann hielt inne, Dean von oben bis unten musternd. Deans Gesichtsausdruck war schon einschüchternd genug, aber jetzt bewegten sich auch noch die grünen Schuppentätowierungen auf seiner Haut, als er die Arme verschränkte, sodass man die dicken Muskeln sehen konnte.
»Komm schon«, murmelte der Mann. »Ich will keinen Ärger ...«
»Sieh in seinem Kofferraum nach«, mischte ich mich mit inzwischen festerer Stimme ein. »Dort liegen Arbeitshandschuhe, Klebeband und Kompostsäcke.«
Die Gäste in unserer Nähe begannen den Mann anzustarren. Der lachte beklommen. »Ich muss mir diesen Mist nicht anhören ...«
»Außerdem sind da noch eine Axt, eine Schaufel, Taschenlampen, Bleichmittel, Stricke, eine Kneifzange und ein Buch über Forensik«, schnitt ich ihm das Wort ab. »Sie haben herausgefunden, dass sie Sie verlassen will, und das verkraften Sie nicht. Also wollten Sie sie erwürgen, ihr die Zähne ziehen und die Fingerspitzen abknipsen, damit niemand ihre Leiche identifizieren kann, selbst wenn sie gefunden wird.«
Der Mann wirkte verblüfft. Jackie begann zu zittern und brach in Tränen aus. »Phil, ist ... ist das wahr?«
»Nein!«, brüllte er. »Die Irre lügt!«
Und dann machte er den großen Fehler, herumzufahren und mich bei den Schultern zu packen. Dean wollte ihn zurückreißen, aber ich war schneller. Die Erinnerung an das, was er mit Jackie vorgehabt hatte, machte mich erbarmungslos, und ich legte meine Rechte auf seinen Arm, um dann all die Elektrizität, die in mir floss, in seinen Körper zu leiten.
Eine weitere Reihe von Bildern explodierte in meinem Schädel, vom Alter verblichen, aber ich hatte ihn nicht deshalb angefasst. Mein Blickfeld verschwamm, während ich spürte, wie die Elektrizität schneller von mir in ihn schoss, als Dean mich wegziehen konnte. Phil ging zu Boden, und nachdem ich ein paar Mal geblinzelt hatte, sah ich mit Genugtuung, dass er noch zuckte. Ein paar Touristen kreischten. Jackie schluchzte. Das machte mir ein schlechtes Gewissen, aber ein paar Tränchen jetzt waren besser als das, was ihr Ehemann für sie vorgesehen hatte.
»Was ist passiert?«, wollte ein mir unbekannter Beobachter wissen.
»Er hat sie gepackt, da hat sie ihm eins mit dem Taser verpasst «, antwortete Dean mürrisch.
Ich hatte keinen Taser, aber J. D. stellte sich vor mich, sodass sein zwei Meter vierzig großer Körper mich verdeckte.
Jackie sammelte sich und zog mit zittrigen Fingern einen Schlüsselbund aus Phils Tasche. Er schien es nicht zu merken, weil er zu sehr damit beschäftigt war, zu zucken und sich in die Hose zu machen. Niemand hielt seine Frau auf, als sie auf den Parkplatz lief, nur Dean folgte ihr, nachdem er mir einen grimmigen Blick zugeworfen hatte.
Als Jackie einige Augenblicke später aufschrie, liefen ihr doch ein paar Leute nach, einige ohne Geld auf den Tischen zurückzulassen. Jackie hatte wohl gemerkt, dass ich mit meiner Prophezeiung richtig gelegen hatte.
Raquel kam zu mir und rieb sich müde den Bart. »Jetzt bist du dran, Frankie.«
Ich dachte, sie meinte, ich müsste die Zeche der Gäste bezahlen, die sich einfach davongemacht hatten. Immerhin hatte ich sie um ihre Einnahmen gebracht, sodass ich es Raquel nicht verdenken konnte, aber das Leben der Frau war es mir wert gewesen.
Erst als Jackie schluchzend der Polizei erzählte, was geschehen war, wurde mir vollends bewusst, was Raquel gemeint hatte. Aber da war es bereits zu spät.
2
Marty sah stumm zu, während ich mit mehr Gewalt als nötig auf dem Trampolin auf und ab sprang. Mit seinen ein Meter fünfzehn reichte er gerade mal an die Kante des Sportgerätes, doch seine Koteletten, das faltige Gesicht und sein muskulös stämmiger Körper zeigten deutlich, dass er kein Kind war. Ich beachtete ihn nicht und konzentrierte mich ganz auf mich selbst, sodass ich kaum noch etwas von der bei jedem Sprung auf und ab wippendenden Landschaft mitbekam. War ich hoch genug, zog ich die Knie zu einem klassischen Hocksprung an die Brust und drehte mich dann zu einer Bücke, bevor meine Füße das Tuch berührten und ich wieder absprang.
Die Hocke war nicht eng genug!, konnte ich beinahe meinen alten Trainer rufen hören. Das ist ein ganzer Punkt Abzug, Leila! So schaffst du es nie ins Team.
Ich verdrängte die Erinnerungen und konzentrierte mich auf meine nächste Übung - einen Baby Fliffis. Der geriet mir sogar noch schlampiger als das erste Element, und mein Fuß rutschte beim Landen peinlicherweise auch noch nach hinten weg. Wieder Abzug, schoss es mir automatisch durch den Kopf, aber ich zog die letzte Kombination aus Salti und Turntables durch. Kein Preisrichter, der etwas auf sich hielt, hätte mir dafür eine gute Beurteilung gegeben, aber es sah beeindruckend aus, und die Zuschauer standen darauf.
Statt auf dem Trampolin zu landen, wechselte ich diesmal in letzter Sekunde die Richtung, sodass ich mit beiden Füßen auf Martys Schultern zu stehen kam. Der Schwung und mein Gewicht hätten ihn eigentlich in die Knie zwingen und ihm etliche Knochen brechen müssen, aber Marty blieb kerzengerade stehen. Er packte mich bei den Knöcheln und stützte mich mit so festem Griff, dass ich mich zu meiner vollen Körpergröße von eins fünfundsechzig aufrichten und die Arme triumphierend über den Kopf heben konnte.
»Und die Menge tobt«, erklärte Marty ironisch, als ich mich verneigte.
Nachdem er meine Knöchel losgelassen hatte, sprang ich von ihm herunter. »Von Menge kann heutzutage wohl keine Rede mehr sein. Die Leute haben anderes zu tun, als sich fahrende Gaukler anzusehen.«
Marty schnaubte. »Wenn es nach Stan ginge, würdest du deine neu erworbene Popularität einsetzen, um das zu ändern.«
Ich verzog das Gesicht, als er erwähnte, wie unser Chef sich wegen des Zwischenfalls mit Jackie vor zwei Wochen die Hände rieb. Wenigstens stand heute niemand am Zaun. So ein Mist, dass Jackies Schwester Reporterin war und nichts Eiligeres zu tun gehabt hatte, als die Nachricht von meiner »Vorahnung« in die Medienwelt hinauszuposaunen. Phil plädierte auf nicht schuldig, und es gab nicht genug Beweise für einen geplanten Mord an seiner Frau, doch die Tatsache, dass ich von Jackies Plan, ihn zu verlassen, und dem genauen Inhalt seines Kofferraums gewusst hatte, hatte in den vergangenen zwei Wochen bereits ausgereicht, um die Neugierigen in Scharen herbeizulocken. Hätte ich nicht die leidige Angewohnheit gehabt, jedem, den ich berührte, einen Stromschlag zu verpassen, hätte ich Handleserein werden und ein Vermögen verdienen können, aber wie die Dinge lagen, konnte ich es kaum erwarten, dass mein Ruhm möglichst schnell verging.
»Die Leute müssen vergessen, wozu ich fähig bin. Du weißt, warum.«
Marty betrachtete mich fast traurig. »Ja, Kind. Das weiß ich.«
Dann tätschelte er mir den Arm, ohne bei dem Stromschlag zusammenzuzucken, den er bei dem Kontakt aushalten musste. Er war daran gewöhnt, und außerdem war Marty kein Mensch, sodass es ihm weniger ausmachte.
»Komm mit nach drinnen, dann mache ich dir einen Shake«, sagte er mit einem letzten väterlichen Tätscheln.
Ich drehte mich weg, damit er meine Grimasse nicht sehen konnte. Marty war so stolz auf seine Mixturen, dass ich wenigstens einmal pro Woche davon trank, aber sie schmeckten fürchterlich. Hätte ich nicht festgestellt, dass sie meiner Gesundheit tatsächlich förderlich waren, hätte ich die meisten heimlich in eine Topfpflanze gekippt.
»Äh, Augenblick noch. Ich will erst die Salti noch richtig hinkriegen.«
Sein Schnauben verriet mir, was für eine schlechte Lügnerin ich war, aber er argumentierte nicht herum. Augenblicke später hörte ich, wie sich die Wohnwagentür schloss.
Als er fort war, machte ich mich wieder daran, meinen Teil der Routine zu üben. Während unserer Show musste Marty rechtzeitig aus einer Reihe explodierender Objekte entkommen, um mich bei bestimmten Sprüngen und Trapezübungen aufzufangen, da er aber kein Mensch war, brauchte er nicht so viel Training wie ich. Was auch gut so war, sonst hätten uns die Requisiten und Pyrotechnik ein Vermögen gekostet, ganz zu schweigen von dem Schaden, den der Rasen genommen hätte. Der Platz, auf dem unser Wohnwagen stand, war nur gemietet; was wir beschädigten, mussten wir zahlen.
Mitglied einer Gauklertruppe zu sein war nicht gerade der Beruf, von dem ich als Kind geträumt hatte, aber das war zu einer Zeit gewesen, als ich noch nicht jedes Elektrogerät lahmlegte, das ich berührte, ganz zu schweigen von den Stromschlägen, die ich den Leuten bei zufälligem Kontakt verpasste. Bei den besonderen Gaben, über die ich verfügte, konnte ich von Glück sagen, dass ich überhaupt einen Job hatte. Außer als Artistin hätte ich höchstens noch als staatliches Versuchskaninchen getaugt, wie ich meinem Vater stets erklärte, wenn er mal wieder meine Berufswahl beklagte.
Ich bemühte mich, die Sprünge flüssig und exakt hinzubekommen, bis ich in einen Rhythmus verfiel, der es mir erlaubte, andere Sorgen beiseitezuschieben. Konzentration war der Schlüssel zum Erfolg, wie mein alter Trainer immer gesagt hatte, und er hatte recht. Bald sah ich die Collage aus Zaun, Rasen und Dach gar nicht mehr, die sich bei jedem Sprung wiederholte, bis sie zu einem undefinierbaren Farbengewirr wurde. Nach meiner letzten Kombination aus Salti und Schrauben landete ich, die Füße parallel zueinander, die Knie leicht gebeugt, um den Stoß abzufangen. Das Trampolin zitterte, aber ich hielt die Spannung, machte keinen Schritt rückwärts, der mich bei einem Wettkampf Punkte gekostet hätte. Dann hob ich die Arme und verneigte mich tief, der letzte Teil der Routine.
»Bravo«, sagte eine spöttische Stimme.
Ich richtete mich auf und erstarrte. Als ich meine Verneigung begonnen hatte, war ich noch allein gewesen, aber in den Sekundenbruchteilen danach hatten sich vier Männer an den Ecken des Trampolins aufgebaut.
In ihren T-Shirts und Jeans wirkten sie wie normale Touristen, aber nur Marty konnte sich so schnell bewegen, was bedeutete, dass sie keine Menschen waren. Selbst wenn ich nicht gewusst hätte, dass andere Spezies mit Vorsicht zu genießen waren, hätte mir das kühle Lächeln des Typen mit den rotbraunen Haaren gesagt, dass die vier nicht hier waren, um nach dem Weg zu fragen. Ich versuchte, mein inzwischen wild pochendes Herz unter Kontrolle zu bekommen. Mit etwas Glück würden die Kreaturen glauben, ich wäre von meinen Trampolinübungen noch erregt, obwohl mein Angstgeruch mich verriet.
»Das ist ein Privatgrundstück«, sagte ich.
»Du musst die Fantastische Frankie sein«, meinte der Große mit den rotbraunen Haaren, meinen Einwand ignorierend. Seine Stimme umschmeichelte meinen Künstlernamen auf eine Weise, die ihn düster klingen ließ.
»Wer will das wissen?«, antwortete ich, während ich mich fragte, wo zum Teufel Marty steckte. Er musste die Typen doch gehört haben, selbst wenn er nicht spürte, dass eine Gruppe übermenschlicher Wesen hier war.
Als ich die Frage gestellt hatte, war ich noch auf dem Trampolin gewesen, doch bereits im nächsten Augenblick lag ich am Boden, schmerzhaft niedergehalten von dem Typen mit den rotbraunen Haaren. Er gab ein gepeinigtes Grunzen von sich, als er beim Kontakt mit meiner Haut einen Stromschlag abbekam, aber wie Marty konnte ihn das nicht außer Gefecht setzen. Er packte mich nur noch fester.
»Wie zum Teufel hast du das gemacht?«, wollte er wissen, und seine Augenfarbe wechselte von Blau zu unirdischem Grün.
Ich antwortete nicht. Kaum war meine Hand in Kontakt mit seinem Körper gekommen, herrschte in meinem Kopf ein Durcheinander aus graustichigen Bildern. Genauso wenig wie ich verhindern konnte, ihm einen Stromschlag zu verpassen, konnte ich es vermeiden, bei der Berührung seine schlimmsten Sünden zu sehen.
Blut. So viel Blut ...
Während sich die panikartige Erinnerung an die Ermordung einer anderen Person vor meinem inneren Auge abspielte, hörte ich ihn über meinen Aufschrei fluchen, spürte dann einen heftigen Schmerz und alles wurde schwarz.
Ich saß meinen Entführern in einem Zimmer gegenüber, das aussah, als befände es sich in einem Hotel, die Hände im Schoß gefaltet, als wären sie Kellner, bei denen ich eine Bestellung aufgeben wollte. Falls du je einem anderen Vampir begegnest, gerate nicht in Panik. Sonst riechst du nur nach Beute, hatte Marty mich gewarnt. Seit ich die Augen meiner Kidnapper hatte leuchten sehen, wusste ich, was sie waren. Deshalb hatte ich auch gar nicht erst versucht, sie zu belügen, als sie mich gefragt hatten, warum ich als Zitteraal hätte durchgehen können oder durch Berührung Informationen aus Personen herausholen konnte. Hätte ich gelogen, hätten sie mich mit ihren Leuchtaugen doch dazu gebracht, die Wahrheit zu sagen - oder zu tun, was sie sonst noch von mir wollten -, und ich hatte nicht vor, ihnen mehr Kontrolle über mich zu geben, als sie ohnehin schon hatten.
Ich versuchte auch nicht wegzulaufen, obwohl sie mich nicht gefesselt hatten. Die meisten Menschen wussten nicht, dass Vampire existierten, ganz zu schweigen davon, wozu sie fähig waren. Aber durch meine Gabe hatte ich von ihrer Existenz erfahren, noch bevor ich Marty kennenlernte. Dank meiner ungewollten Talente wusste ich von allen möglichen Dingen, die ich nie hatte erfahren wollen.
Wie zum Beispiel, dass meine Entführer vorhatten, mich umzubringen; das toppte im Augenblick alles. Ich hatte meinen Tod gesehen, als ich gezwungen gewesen war, den Vampir mit den rotbraunen Haaren noch einmal zu berühren; bei dem Anblick wäre ich am liebsten schreiend und meinen Hals umklammernd davongelaufen.
Was ich nicht tat. Vermutlich hätte ich dankbar sein sollen, dass ich durch meine unerwünschten Fähigkeiten bereits alle möglichen schrecklichen Todesarten durchlebt hatte, was mich in die Lage versetzte, meiner nahenden Exekution mit einer Art morbiden Erleichterung entgegenzusehen. Es würde wehtun, die Kehle herausgerissen zu bekommen - ich musste es wissen, denn ich hatte es schon mehrmals anhand der Erlebnisse anderer erfahren. Doch es war nicht die schlimmste Art zu sterben. Außerdem stand nichts unumstößlich fest. Ich hatte einen Einblick in meine potenzielle Zukunft erhascht, aber Jackies Tod hatte ich auch verhindert. Vielleicht ließ sich eine Möglichkeit finden, jetzt dem meinen zu entgehen.
»Noch mal zum Verständnis«, sagte der Typ mit den rotbraunen Haaren gedehnt. »Im Alter von dreizehn Jahren hast du eine abgerissene Hochspannungsleitung angefasst, bist fast gestorben, und dann hat dein Körper angefangen selbst Stromstöße abzugeben, und mit deiner rechten Hand kannst du durch Berührung von Personen oder Gegenständen in die Zukunft schauen?«
Da war noch mehr, aber das würde ich dem Vampir nicht auf die Nase binden, und die Details hätten ihn sicher ohnehin nicht interessiert.
»Die Sache mit den Stromschlägen hast du am eigenen Leib zu spüren bekommen«, meinte ich mit einem Achselzucken. »Was das Zweite betrifft, ja, wenn ich etwas berühre, gewinne ich solche Einblicke.« Ob ich will oder nicht, fügte ich im Stillen hinzu.
Der Vampir lächelte und ließ den Blick über die dünne, zackige Narbe wandern, die als sichtbarer Beweis meiner Nahtoderfahrung zurückgeblieben war. »Was hast du gesehen, als du mich berührt hast?«
»Gegenwart oder Zukunft?«, wollte ich wissen und verzog bei beiden Erinnerungen das Gesicht.
Er tauschte einen interessierten Blick mit seinen Kameraden. »Beides.«
Wie gern hätte ich gelogen, aber ich musste keine Hellseherin sein, um zu wissen, dass ich in Sekunden tot gewesen wäre, wenn sie Zweifel an mir gehabt hätten.
»Du saugst gern Kinder aus.« Bei den Worten wurde mir speiübel, aber ich schluckte und fuhr fort. »Und du wirst mich aussaugen, wenn ich euch nicht von Nutzen bin.«
Sein Lächeln wurde breiter, entblößte die Spitzen seiner Reißzähne, als er meine Aussage unkommentiert stehen ließ. Hätte ich durch die Augen der Menschen, zu denen ich hellseherische Verbindung aufgenommen hatte, nicht schon ähnlich bedrohlich grinsende Vampire gesehen, hätte ich mir vor Angst in die Hose gemacht, aber ein abgebrühter Teil meines Selbst nahm ihn einfach als das, was er war: böse. Und das Böse war mir nicht fremd, so gern ich auch etwas anderes behauptet hätte.
»Wenn sie die ist, von der wir gehört haben, könnte sie uns den benötigten Vorteil verschaffen«, murmelte sein brünetter Kompagnon.
»Vermutlich hast du recht«, freute sich der mit den rotbraunen Haaren.
Ich wollte nicht sterben, aber es gab Dinge, die ich nicht tun würde, selbst wenn es mein Leben kostete. »Bitte mich, Kinder für dich zu entführen, dann kannst du gleich mich aussaugen.«
Der Vampir lachte. »Das krieg ich schon selbst hin«, versicherte er mir, sodass sich mir vor Abscheu der Magen hob. »Was ich von dir will ist ... komplizierter. Wenn ich dir einige Gegenstände bringe, kannst du mir dann durch Berührung etwas über ihren Besitzer sagen? Was er macht, zum Beispiel, oder wo er ist und, ganz wichtig, wo er sein wird?«
Ich wollte dieser widerlichen Mörderbande zwar nicht auch noch hilfreich sein, aber meine Chancen standen schlecht. Lehnte ich ab, würden sie mich durch Hypnose oder Folter doch dazu bringen, oder ich würde an meinem eigenen Blut würgend sterben, weil ich ihnen nicht von Nutzen war. Vielleicht war das meine Chance, das Schicksal zu ändern, das sie für mich ausersehen hatten.
Warum willst du das tun?, flüsterte ein finsteres Stimmchen in mir. Bist du es nicht leid, in anderer Leute Sünden zu ertrinken. Ist der Tod nicht dein einziger Ausweg?
Ich warf einen Blick auf mein Handgelenk. Die schwachen Narben darauf hatten nichts mit meinem Unfall zu tun. Einmal hatte ich auf die Stimme der Verzweiflung gehört, und ich hätte gelogen, hätte ich mir nicht eingestanden, dass ein Teil meines Selbst noch immer versucht war, ihr zu folgen. Dann dachte ich an Marty und daran, dass ich meinem Vater bei unserem letzten Treffen nicht gesagt hatte, dass ich ihn liebte, dass ich seit Monaten nicht mehr mit meiner Schwester gesprochen hatte, und schließlich, dass ich diesen Bastarden nicht die Genugtuung gönnte, mich zu ermorden.
Ich hob den Kopf und begegnete dem Blick des Anführers. »Meine Fähigkeiten sind an meine Emotionen gekoppelt. Tut ihr mir psychisch oder physisch Gewalt an, müsst ihr die Astrohotline anrufen, um herauszufinden, was ihr wissen wollt. Das bedeutet, keiner wird ermordet, während ich Informationen für euch beschaffe, und mich rührt ihr auch nicht an.«
Letzteres hatte ich gesagt, weil der hagere Brünette mir einen lüsternen Blick zugeworfen hatte. Mein hautenges Trikot und die Boxershorts überließen nicht viel der Fantasie, aber darin trainierte ich eben. Hätte ich damit gerechnet, heute entführt zu werden, hätte ich mich für ein konservativeres Outfit entschieden.
»Und glaubt nicht, ihr könnt mich durch Hypnose vergessen lassen, was ihr tut«, fügte ich hinzu, und machte eine Bewegung mit der rechten Hand. »Mediale Veranlagung, schon vergessen? Ich berühre euch oder ein Objekt in der Nähe und finde es heraus, und schon ist eure menschliche Glaskugel entzwei.«
Das war natürlich alles Quatsch. Sie hätten tun und lassen können, was sie wollten, und ich hätte noch immer durch alles hellsehen können, was meine rechte Hand berührte, aber ich hatte im Brustton der Überzeugung gesprochen und hoffte, dass ich wenigstens diesmal überzeugend gelogen hatte.
Der Typ mit dem rotbraunen Haar schenkte mir ein weiteres bedrohlich zähnefletschendes Lächeln. »Das kriegen wir hin, wenn du tust, was du angeblich kannst.«
Ich schenkte ihm meinerseits ein freudloses Lächeln. »Oh, und ob.«
Dann warf ich einen Blick auf die Steckdose hinter ihm. Und das ist noch nicht alles, wozu ich fähig bin.
3
Der Vampir mit den rotbraunen Haaren hieß Schakal, zumindest wurde er von seinen Freunden so genannt. Deren Namen klangen genauso erfunden, sodass ich sie insgeheim Perversling, Psycho und Zappelphilipp nannte, weil Letzterer keine Sekunde stillhalten konnte. Vor etwa einer Stunde waren Zappelphilipp und Perversling losgezogen, um ein paar Gegenstände zu besorgen, die ich anfassen sollte. Seither saß ich auf der Kante der klumpigen Hotelmatratze und hörte zu, wie Schakal in einer mir unbekannten Sprache telefonierte. Allmählich wurde mir in meinem Trikot kalt, aber ich zog die Decke nicht über mich. Mein Instinkt sagte mir, dass ich mich ruhig verhalten und keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen sollte, als würde das einen Unterschied machen. Die Raubtiere in diesem Zimmer waren sich meiner Gegenwart nur allzu bewusst, auch ohne in meine Richtung zu sehen.
Als Perversling und Zappelphilipp zurückkamen, betrachtete ich den mitgebrachten Matchsack mit einer Mischung aus Furcht und Optimismus. Der Inhalt hielt vielleicht noch mehr schauerliche Bilder für mich bereit, aber er würde auch mein Überleben sichern.
»Legt die Gegenstände in einer Reihe aufs Bett«, wies ich Zappelphilipp an, den verblüfften Blick ignorierend, den er mir zuwarf. Verhielt ich mich wie ein hilfloses Frauchen, würden sie mich auch so behandeln. Verhielt ich mich andererseits wie ein wichtiges Werkzeug, das sie auf ihrer Suche nach der Person brauchten, zu der diese Gegenstände sie führen sollten, verbesserte das meine Überlebenschancen.
Zumindest hoffte ich das.
»Tu es«, meinte Schakal, die Arme vor der Brust verschränkend. Sein Blick schien mich niederzudrücken, aber ich atmete ein paar Mal tief durch und versuchte, ihn zu ignorieren. Zuzusehen, was Zappelphilipp aus dem Matchsack zog, half mir dabei.
Ein verkokeltes Stofffetzchen, eine halb geschmolzene Uhr, ein Ring, etwas, das aussah wie ein Gürtel, und ein Messer mit deutlich silbrigem Glanz.
Letzteres ließ mein Herz höher schlagen, was die anderen hoffentlich meiner Nervosität statt meinem wirklichen Gemütszustand zuschreiben würden. Erregung. In Filmen wurden Vampire völlig falsch dargestellt. Holzpflöcke konnten ihnen nichts anhaben, Sonnenlicht, Kruzifixe und Weihwasser ebenso wenig. Aber eine Silberklinge ins Herz, und schon war die Party vorbei, und jetzt hatte ich ein Silbermesser in direkter Reichweite.
Noch nicht, ermahnte ich mich. Ich würde abwarten, bis sie so von meiner Hilflosigkeit überzeugt waren, dass sie sich gar nichts mehr dabei dachten, mich mit einem Silbermesser allein zu lassen. Oder bis wenigstens zwei von ihnen wieder gingen, je nachdem.
»Also los, Frankie«, sagte Schakal, sodass ich wieder ihn ansah. Mit einem Nicken wies er auf die Gegenstände. »Mach.« Ich machte mich innerlich auf das Unvermeidliche gefasst und nahm dann den verkohlten Stofffetzen zur Hand.
Überall Rauch. Zwei Lichtstrahlen durchschnitten ihn und trafen die Stelle, an der ich mich halb hinter dem Gabelstapler verborgen hielt. Entsetzen überkam mich, als ich erkannte, dass ich entdeckt worden war. Mein Fluchtversuch wurde vereitelt, als grobe Hände mich zurückhielten.
Erst war der Rauch so dicht, dass ich außer dem Blick aus den Leuchtaugen nichts sehen konnte. Dann erkannte ich dunkles Haar, das ein schmales Gesicht mit leichten Bartstoppeln um Kinnbereich und Mund umrahmte. Die Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das ganz gegen meine Erwartung nicht grausam war. Es wirkte sogar erstaunlich gutmütig.
»Raziel«, sagte der dunkelhaarige Fremde tadelnd. »Das hättest du nicht tun sollen.«
Ich hatte schon Eltern gehört, die ihren Kindern gegenüber einen schärferen Tonfall anschlugen, aber das änderte nichts an der Angst, die mich immer stärker überkam.
»Bitte«, keuchte ich.
»Bitte?« Der Fremde lachte und enthüllte dabei weiße Zähne mit den beiden typischen Fängen. »Wie unoriginell.«
Damit ließ er mich los, drehte sich um und winkte mir zum Abschied noch einmal freundlich zu. Die Erleichterung, die mich überkam, war so überwältigend, dass mir die Knie schlotterten, aber davon ließ ich mich nicht aufhalten. Ich stürzte nach vorn zur Tür des Lagerhauses.
Und da umfing mich das Feuer, völlig aus dem Nichts heraus. Unbarmherzig kletterte es meine Beine empor, bis ich aufschrie, so überwältigend war der Schmerz. Ich versuchte schneller zu laufen, aber die Flammen schlugen nur noch höher empor. Schließlich warf ich mich zu Boden und wälzte mich herum, während ich den Schmerz in sämtlichen Nervenenden spürte, aber das Feuer erlosch nicht. Es wurde sogar noch stärker, überrollte mich mit unbarmherzigen, gierigen Wellen, bis donnernde Schwärze angerauscht kam und mich überwältigte. Das Letzte, was ich sah, als ich über meinem leblosen Körper schwebte, war der dunkelhaarige Vampir, dessen Hände in Flammen gehüllt waren, die seine Haut völlig unversehrt ließen.
Ich war verblüfft. Als ich die Augen öffnete, befand ich mich wieder in dem Hotelzimmer, in Fötusposition zusammengekauert, ähnlich wie Raziel, als er gestorben war. Ich hatte mich bei der Erinnerung an die Phantomflammen wohl instinktiv genauso verhalten wie er.
»Und?« Schakals fordernde Stimme war eine Erleichterung, weil sie mich aus dem Alptraum, den ich gerade gezwungenermaßen durchlebt hatte, in die Realität zurückholte. »Was hast du gesehen?«
Ich setzte mich auf und warf ihm den verkohlten Stofffetzen entgegen.
»Einen gewissen Raziel, der von einem Vampir gegrillt wurde, der offenbar Macht über das Feuer hat«, antwortete ich, während ich noch immer versuchte, die Erinnerung an jenen fürchterlichen Tod loszuwerden.
Die vier tauschten einen Blick aus, den man nur als entzückt beschreiben konnte. »Jackpot!«, rief Psycho und reckte die Faust in die Luft.
So gut wie die Typen drauf waren, war Raziel entweder kein Freund gewesen, oder sie wussten bereits, was ihm widerfahren war, und wollten mich nur auf die Probe stellen.
»Gehen wir auf Nummer sicher«, meinte Schakal, dessen Grinsen schwand. »Frankie, nimm als Nächstes diesen Ring.«
Ich nahm ihn in die Hand und machte mich auf das Schlimmste gefasst, aber eine Flut von Bildern, die mir bereits bekannt waren, schoss mir durch den Kopf. Sie waren zwar nach wie vor so grauenvoll, dass ich mich am liebsten übergeben hätte, aber nicht nur in den Grautönen der Vergangenheit gehalten, sondern auch blasser, eher, als würde ich einen Film ansehen, statt alles direkt mitzuerleben. Mit einem Kopfschütteln gab ich Schakal den Ring zurück.
»Vielleicht habt ihr euch geirrt. Die einzigen Eindrücke, die ich daraus gewinnen konnte, sind deine, und die verraten mir nichts Neues.«
Ein kurzes smaragdgrünes Blitzen trat in seine haselnussbraunen Augen, dann stieß er einen lauten Jubelschrei aus, der mich zusammenfahren ließ.
»Das waren keine Zufallstreffer, sie ist verdammt noch mal die Echte!«
Alles, was einen sadistischen Kindermörder zu Jubel- schreien hinriss, machte mich nervös, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Keine Panik, hatte Marty gesagt. Beute gerät in Panik, und Beute wird gerissen.
»Nächstes Teil?«, fragte ich, bemüht, so cool zu klingen, wie es mir unter den gegebenen Umständen möglich war.
Die Vampire beendeten ihr Gruppenabklatschen, um mich anzusehen. »Ja«, sagte Schakal und schob mir das Messer hin. Seine Erregung war fast mit Händen zu greifen. »Aber diesmal will ich, dass du dich auf den Feuerteufel konzentrierst. Versuche zu erkennen, wo der Bastard steckt, nicht nur was passiert ist, als er Neddy abgeschlachtet hat.«
Jetzt wusste ich, dass ich durch die Berührung des Messers wieder eine Ermordung miterleben würde, aber das war es nicht, was mich innehalten ließ, als ich nach dem Messer greifen wollte.
»Der Feuerteufel?«, wiederholte ich. »Ihn soll ich durch diese Objekte finden?«
Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?, hätte ich fast hinzugefügt, tat es aber nicht, denn selbst wenn sie es waren, ich war es nicht.
»Du kriegst das hin, oder?«, erkundigte sich Schakal, der plötzlich gar kein erfreutes Gesicht mehr machte.
Klar würde ich das hinkriegen, aber ich wollte nicht. Ich bezweifelte, dass der Feuerteufel ein Freund war; immerhin hatte Schakal ihn herablassend als Bastard bezeichnet, und dass ich herausfinden sollte, wo er war, ließ finstere Absichten vermuten. Jeder, der noch alle Tassen im Schrank hatte, würde sich hüten auch nur auf einem Kontinent mit dieser Kreatur zu weilen, falls es wirklich zum Krach kam, doch Schakal und die anderen hatten offensichtlich vor, den Mann in einen Hinterhalt zu locken. Das charmante Lächeln, das der Feuerteufel Raziel geschenkt hatte, bevor er ihn in ein Häufchen Asche verwandelt hatte, war eine Erinnerung, die ich am liebsten aus meinem Kopf gelöscht hätte. Doch wenn ich mich weigerte, ihn zu suchen, würde ich nicht lange genug leben, um mir Gedanken ums Vergessen machen zu müssen.
Wie man es auch drehte und wendete, ich konnte mich nur zwischen Pest und Cholera entscheiden. Oder besser gesagt zwischen Fängen und Reißzähnen.
Copyright © der deutschsprachigen Originalausgabe 2013 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Eigentlich hieß ich nicht Frankie, das war nur mein Künstlername. »Heute nicht. Ich bin auf der Suche nach Marty.«
»War noch nicht hier«, antwortete sie.
Raquel fragte nicht, warum ich persönlich vorbeigekommen war, statt telefonisch nachzufragen. Alle in Gibsonton überwinternden Schausteller taten, als wüssten sie nichts von meinen Besonderheiten, doch außer Marty versuchte niemand mich anzufassen, und es machte sich auch niemand erbötig, mich im Auto mitzunehmen, wenn er mich auf dem Fahrrad sah, egal wie das Wetter war.
Ich seufzte. »Wenn er kommt, sagst du ihm, dass ich ihn suche, ja?« Wir hätten vor zwei Stunden schon mit dem Training anfangen sollen. Außerhalb der Saison verwandelte sich mein sonst so disziplinierter Partner Marty in eine ziemliche Schnarchnase. Fand ich ihn nicht bald, würde man nicht mehr vernünftig mit ihm reden können. Er würde die ganze Nacht saufen und Geschichten von früher erzählen, als das Schaustellerleben noch eitel Sonnenschein gewesen war.
Raquel lächelte, sodass man ihre hübschen weißen Zähne sehen konnte, die in krassem Kontrast zu dem dunklen, kratzigen Bart standen. »Klar doch.«
Ich wollte mich bereits wieder auf den Weg machen, als Dean mit der Gabel an sein Bierglas tippte, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. »Soll ich im Tropicana anrufen und fragen, ob Marty da ist?«
Seine Vermutung, wohin ich als Nächstes wollte, war richtig, aber schließlich kannte er Marty schon länger als ich.
»Es sind bloß anderthalb Kilometer, und ich muss meine Beine trainieren.«
»Für mich sehen die ganz okay aus«, meinte Dean heiser und warf einen langen Blick auf die fraglichen Körperteile, bevor er auch noch den Rest von mir musterte. Wegen der Hitze trug ich nur Shorts und ein Tanktop, sodass er ziemlich ungehinderte Sicht hatte. Schließlich schüttelte er den Kopf, als wollte er sich in Erinnerung rufen, warum es keine gute Idee war, mich abzuchecken. »Bis dann, Frankie«, meinte er in energischerem Tonfall.
Ich verspürte ein Engegefühl in der Brust, das mir ebenso vertraut wie lästig war. Ja, Dean wusste, warum es zwecklos war, von meinen Beinen - oder irgendeinem anderen Teil meines Körpers - zu träumen, und ich hatte mich schon vor langer Zeit damit abgefunden, dass es Dinge gab, die ich nie würde erleben können. Aber dann wurde ich doch schwach und ertappte mich dabei, wie ich ein Pärchen an einem der Tische betrachtete. Die beiden hatten die Finger verschränkt und flüsterten miteinander. Sie schienen sich dieser alltäglichen Geste kaum bewusst zu sein, doch meine Aufmerksamkeit erregte sie, als würde ein Scheinwerfer ihre Hände ausleuchten, bis das Engegefühl fast zu einem Brennen wurde.
Das Pärchen, das anscheinend gemerkt hatte, dass ich es beobachtete, warf mir einen Blick zu, der aber schnell wieder an mir vorbeiwanderte. Entweder hatten die beiden die Narbe nicht bemerkt, die von meiner Schläfe bis zu meiner rechten Hand reichte, oder sie interessierten sich mehr für Deans körperdeckende Eidechsen-Schuppen-Tätowierung, Raquels Bart, J. D.s Körpergröße von zwei Meter vierzig oder Katies fünfunddreißig Zentimeter schmale Taille, die im Kontrast zu ihren ausladenden Hüften und dem DoppelD- Körbchen umso zerbrechlicher wirkte. Es war auch noch früh. Die Stammgäste des Showtown USA trudelten meist erst nach neun ein.
Das Pärchen begaffte weiter ungeniert das Grüppchen an der Bar, und der Ärger, den ich darüber empfand, dass meine Freunde es sich gefallen lassen mussten, so angestarrt zu werden, ließ die Melancholie verfliegen, die mich kurz überkommen hatte. Manch einen Touristen verschlug es nach Gibsonton, weil er die Überbleibsel des Zirkuslebens bestaunen wollte, die in vielen Straßen noch zu sehen waren, andere wollten die Tanzbären, Elefanten oder anderen exotischen Tiere sehen, die der eine oder andere sich im Vorgarten hielt, die meisten aber kamen, um die »Freaks« zu begaffen. Die Anwohner waren immun dagegen oder zeigten ihre Besonderheiten für ein Trinkgeld, ich aber konnte mir meine Verärgerung über dieses anstößige Benehmen noch immer nicht verkneifen. Andersartigkeit machte einen schließlich nicht zum Untermenschen, und doch wurden viele der Einwohner Gibsontons von den Passanten genauso behandelt.
Aber es stand mir nicht zu, die Touristen für ihr mangelndes Feingefühl zu kritisieren, ganz zu schweigen davon, dass Raquel es alles andere als gern gesehen hätte, wenn ich ihre Gäste herunter putzte. Also presste ich die Lippenzusammen und strebte auf die Tür zu, überrascht, als sie genau in dem Moment aufschwang, in dem ich die Klinke ergreifen wollte. Ich machte einen Satz rückwärts und schaffte es so gerade noch, nicht von einem Mann überrannt zu werden, der hereinstolzierte, als gehörte das Lokal ihm, konnte aber trotzdem nicht vermeiden, dass seine Hand meinen Arm streifte.
»Autsch!«, rief er und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Was sollte das denn?«
Er wusste es nicht, aber er hatte Glück gehabt. Hätte ich nicht gelernt, etwas von dem Strom, der in mir floss, zu zügeln, und wenn ich nicht einen Großteil erst eine Stunde zuvor in Blitzableiter entladen hätte, wäre es ihm viel schlechter ergangen.
»Statische Elektrizität«, log ich. »Ist schlimm hier in der Gegend.«
Der Gesichtsausdruck des Mannes sagte mir, dass er mir nicht glaubte, aber meine Hände waren leer, und mein Outfit verbarg auch kaum etwas. Er funkelte mich noch einmal an und drehte mir dann den Rücken zu.
»Welche Ausfahrt muss ich nach Tampa nehmen?«, rief er in die Runde. »Mein scheiß Navi funktioniert hier nicht.«
Das war in der Gegend nicht weiter ungewöhnlich, und ich hätte ihm Auskunft geben können, schwieg aber, weil ich nicht noch einmal riskieren wollte, ihn unabsichtlich zu berühren, wenn ich mit ihm sprach.
Ich war gerade dabei, die Kneipe zu verlassen, als eine gehetzt wirkende Blondine geradewegs in mich hineinrannte. Sie stieß einen leisen Aufschrei aus, und aus purem Frust hätte ich am liebsten mitgeschrien. Jetzt hatte ich monatelang jeden Körperkontakt verhindern können, um heute binnen fünf Minuten gleich zwei Leuten einen Schlag zu verpassen. Wenigstens hatte der ungehobelte Typ schon einiges abbekommen, sodass die Frau den Schlag, den ich ihr verpasst hatte, wirklich für statische Elektrizität halten konnte.
»Verzeihung«, sagte ich und wich sofort zurück.
»Meine Schuld«, lachte sie und tätschelte mir begütigend den Arm. »Ich habe nicht aufgepasst ...«
Was sie dann sagte, hörte ich nicht mehr. Bilder schossen mir durch den Kopf, schwarz-weiß, grau.
Ich war mit meinem Liebhaber im Bett, unser Keuchen das einzige Geräusch im Raum. Hinterher flüsterte ich ihm zu, dass ich meinem Mann am nächsten Wochenende sagen würde, dass ich ihn verlasse.
Das war es allerdings nicht, was mich zusammenfahren ließ. Die Bilder, die dann meinen Geist erfüllten, waren es, in Farbe diesmal, aber undeutlich, wie durch Nebel betrachtet.
Ich war in einem dichten Sumpfgebiet und starrte voller Entsetzen meinen Mann an, der meine Kehle umklammerte. Schmerz explodierte in meinem Hals, sodass ich alles nur noch verschwommen sah, während ich vergeblich an seinen behandschuhten Händen kratzte und zog, um sie zu lösen. Er drückte fester zu, während er mir sagte, dass er von meiner Affäre erfahren hätte und wie er meine Leiche verschwinden lassen würde. Der Schmerz wurde immer stärker, bis mein ganzer Körper brannte. Dann hörte er zum Glück auf, und ich hatte das Gefühl davon zu schweben. Mein Mörder rührte sich nicht, mit den Händen noch immer meine Kehle umklammernd, nicht wissend, dass ich von oben auf ihn heruntersah. Irgendwann ließ er los. Er ging zu dem geparkten Wagen, öffnete den Kofferraum und nahm ein paar Gegenstände heraus, während er sich überlegte, von welchem er zuerst Gebrauch machen sollte ...
»Frankie!«
Ich blinzelte und war wieder in meinem eigenen Kopf. Die nebligen Bilder traten in der Hintergrund, bis ich die Kneipe um mich herum wieder kristallklar sehen konnte. Dean stand zwischen mir und der Frau, die durch die Berührung meiner rechten Hand unwillentlich meine Gabe aktiviert hatte. Dean machte nicht diesen Fehler, stand aber so dicht vor mir, dass ich über seine Schulter sehen musste, um die Frau im Blick zu behalten. Sie hielt ihre Hand, als hätte sie Schmerzen, und sagte mit geweiteten braunen Augen etwas zu dem Mann, den ich jetzt als ihren Ehemann erkannte. Den Mann, der sie heute Abend ermorden würde, wenn ich ihn nicht aufhielt.
»Ich habe nichts getan!«, rief sie immer wieder. »Sie hat einfach angefangen zu schreien ...«
Ihr Mann packte sie am Arm. »Raus aus der Geisterbahn, Jackie, wir fragen woanders nach dem Weg.«
»Halte sie auf«, keuchte ich an Dean gewandt und glaubte, noch immer, die Finger des Mannes an meiner Kehle spüren zu können. »Er wird sie umbringen.«
Gerade noch waren alle Barbesucher mit sich selbst beschäftigt gewesen, da lenkten meine Worte die Aufmerksamkeit aller effektiver auf mich als ein Pistolenschuss. Jackie starrte mich nur an, aber die Augen ihres Mannes wurden schmal. Er begann, sich durch die kleine Menge, die sich um uns geschart hatte, einen Weg nach draußen zu bahnen, und zog seine Frau dabei mit sich.
Dean vertrat ihnen den Weg. »Sie werden jetzt noch nicht gehen«, stellte er ruhig fest.
Der Mann hielt inne, Dean von oben bis unten musternd. Deans Gesichtsausdruck war schon einschüchternd genug, aber jetzt bewegten sich auch noch die grünen Schuppentätowierungen auf seiner Haut, als er die Arme verschränkte, sodass man die dicken Muskeln sehen konnte.
»Komm schon«, murmelte der Mann. »Ich will keinen Ärger ...«
»Sieh in seinem Kofferraum nach«, mischte ich mich mit inzwischen festerer Stimme ein. »Dort liegen Arbeitshandschuhe, Klebeband und Kompostsäcke.«
Die Gäste in unserer Nähe begannen den Mann anzustarren. Der lachte beklommen. »Ich muss mir diesen Mist nicht anhören ...«
»Außerdem sind da noch eine Axt, eine Schaufel, Taschenlampen, Bleichmittel, Stricke, eine Kneifzange und ein Buch über Forensik«, schnitt ich ihm das Wort ab. »Sie haben herausgefunden, dass sie Sie verlassen will, und das verkraften Sie nicht. Also wollten Sie sie erwürgen, ihr die Zähne ziehen und die Fingerspitzen abknipsen, damit niemand ihre Leiche identifizieren kann, selbst wenn sie gefunden wird.«
Der Mann wirkte verblüfft. Jackie begann zu zittern und brach in Tränen aus. »Phil, ist ... ist das wahr?«
»Nein!«, brüllte er. »Die Irre lügt!«
Und dann machte er den großen Fehler, herumzufahren und mich bei den Schultern zu packen. Dean wollte ihn zurückreißen, aber ich war schneller. Die Erinnerung an das, was er mit Jackie vorgehabt hatte, machte mich erbarmungslos, und ich legte meine Rechte auf seinen Arm, um dann all die Elektrizität, die in mir floss, in seinen Körper zu leiten.
Eine weitere Reihe von Bildern explodierte in meinem Schädel, vom Alter verblichen, aber ich hatte ihn nicht deshalb angefasst. Mein Blickfeld verschwamm, während ich spürte, wie die Elektrizität schneller von mir in ihn schoss, als Dean mich wegziehen konnte. Phil ging zu Boden, und nachdem ich ein paar Mal geblinzelt hatte, sah ich mit Genugtuung, dass er noch zuckte. Ein paar Touristen kreischten. Jackie schluchzte. Das machte mir ein schlechtes Gewissen, aber ein paar Tränchen jetzt waren besser als das, was ihr Ehemann für sie vorgesehen hatte.
»Was ist passiert?«, wollte ein mir unbekannter Beobachter wissen.
»Er hat sie gepackt, da hat sie ihm eins mit dem Taser verpasst «, antwortete Dean mürrisch.
Ich hatte keinen Taser, aber J. D. stellte sich vor mich, sodass sein zwei Meter vierzig großer Körper mich verdeckte.
Jackie sammelte sich und zog mit zittrigen Fingern einen Schlüsselbund aus Phils Tasche. Er schien es nicht zu merken, weil er zu sehr damit beschäftigt war, zu zucken und sich in die Hose zu machen. Niemand hielt seine Frau auf, als sie auf den Parkplatz lief, nur Dean folgte ihr, nachdem er mir einen grimmigen Blick zugeworfen hatte.
Als Jackie einige Augenblicke später aufschrie, liefen ihr doch ein paar Leute nach, einige ohne Geld auf den Tischen zurückzulassen. Jackie hatte wohl gemerkt, dass ich mit meiner Prophezeiung richtig gelegen hatte.
Raquel kam zu mir und rieb sich müde den Bart. »Jetzt bist du dran, Frankie.«
Ich dachte, sie meinte, ich müsste die Zeche der Gäste bezahlen, die sich einfach davongemacht hatten. Immerhin hatte ich sie um ihre Einnahmen gebracht, sodass ich es Raquel nicht verdenken konnte, aber das Leben der Frau war es mir wert gewesen.
Erst als Jackie schluchzend der Polizei erzählte, was geschehen war, wurde mir vollends bewusst, was Raquel gemeint hatte. Aber da war es bereits zu spät.
2
Marty sah stumm zu, während ich mit mehr Gewalt als nötig auf dem Trampolin auf und ab sprang. Mit seinen ein Meter fünfzehn reichte er gerade mal an die Kante des Sportgerätes, doch seine Koteletten, das faltige Gesicht und sein muskulös stämmiger Körper zeigten deutlich, dass er kein Kind war. Ich beachtete ihn nicht und konzentrierte mich ganz auf mich selbst, sodass ich kaum noch etwas von der bei jedem Sprung auf und ab wippendenden Landschaft mitbekam. War ich hoch genug, zog ich die Knie zu einem klassischen Hocksprung an die Brust und drehte mich dann zu einer Bücke, bevor meine Füße das Tuch berührten und ich wieder absprang.
Die Hocke war nicht eng genug!, konnte ich beinahe meinen alten Trainer rufen hören. Das ist ein ganzer Punkt Abzug, Leila! So schaffst du es nie ins Team.
Ich verdrängte die Erinnerungen und konzentrierte mich auf meine nächste Übung - einen Baby Fliffis. Der geriet mir sogar noch schlampiger als das erste Element, und mein Fuß rutschte beim Landen peinlicherweise auch noch nach hinten weg. Wieder Abzug, schoss es mir automatisch durch den Kopf, aber ich zog die letzte Kombination aus Salti und Turntables durch. Kein Preisrichter, der etwas auf sich hielt, hätte mir dafür eine gute Beurteilung gegeben, aber es sah beeindruckend aus, und die Zuschauer standen darauf.
Statt auf dem Trampolin zu landen, wechselte ich diesmal in letzter Sekunde die Richtung, sodass ich mit beiden Füßen auf Martys Schultern zu stehen kam. Der Schwung und mein Gewicht hätten ihn eigentlich in die Knie zwingen und ihm etliche Knochen brechen müssen, aber Marty blieb kerzengerade stehen. Er packte mich bei den Knöcheln und stützte mich mit so festem Griff, dass ich mich zu meiner vollen Körpergröße von eins fünfundsechzig aufrichten und die Arme triumphierend über den Kopf heben konnte.
»Und die Menge tobt«, erklärte Marty ironisch, als ich mich verneigte.
Nachdem er meine Knöchel losgelassen hatte, sprang ich von ihm herunter. »Von Menge kann heutzutage wohl keine Rede mehr sein. Die Leute haben anderes zu tun, als sich fahrende Gaukler anzusehen.«
Marty schnaubte. »Wenn es nach Stan ginge, würdest du deine neu erworbene Popularität einsetzen, um das zu ändern.«
Ich verzog das Gesicht, als er erwähnte, wie unser Chef sich wegen des Zwischenfalls mit Jackie vor zwei Wochen die Hände rieb. Wenigstens stand heute niemand am Zaun. So ein Mist, dass Jackies Schwester Reporterin war und nichts Eiligeres zu tun gehabt hatte, als die Nachricht von meiner »Vorahnung« in die Medienwelt hinauszuposaunen. Phil plädierte auf nicht schuldig, und es gab nicht genug Beweise für einen geplanten Mord an seiner Frau, doch die Tatsache, dass ich von Jackies Plan, ihn zu verlassen, und dem genauen Inhalt seines Kofferraums gewusst hatte, hatte in den vergangenen zwei Wochen bereits ausgereicht, um die Neugierigen in Scharen herbeizulocken. Hätte ich nicht die leidige Angewohnheit gehabt, jedem, den ich berührte, einen Stromschlag zu verpassen, hätte ich Handleserein werden und ein Vermögen verdienen können, aber wie die Dinge lagen, konnte ich es kaum erwarten, dass mein Ruhm möglichst schnell verging.
»Die Leute müssen vergessen, wozu ich fähig bin. Du weißt, warum.«
Marty betrachtete mich fast traurig. »Ja, Kind. Das weiß ich.«
Dann tätschelte er mir den Arm, ohne bei dem Stromschlag zusammenzuzucken, den er bei dem Kontakt aushalten musste. Er war daran gewöhnt, und außerdem war Marty kein Mensch, sodass es ihm weniger ausmachte.
»Komm mit nach drinnen, dann mache ich dir einen Shake«, sagte er mit einem letzten väterlichen Tätscheln.
Ich drehte mich weg, damit er meine Grimasse nicht sehen konnte. Marty war so stolz auf seine Mixturen, dass ich wenigstens einmal pro Woche davon trank, aber sie schmeckten fürchterlich. Hätte ich nicht festgestellt, dass sie meiner Gesundheit tatsächlich förderlich waren, hätte ich die meisten heimlich in eine Topfpflanze gekippt.
»Äh, Augenblick noch. Ich will erst die Salti noch richtig hinkriegen.«
Sein Schnauben verriet mir, was für eine schlechte Lügnerin ich war, aber er argumentierte nicht herum. Augenblicke später hörte ich, wie sich die Wohnwagentür schloss.
Als er fort war, machte ich mich wieder daran, meinen Teil der Routine zu üben. Während unserer Show musste Marty rechtzeitig aus einer Reihe explodierender Objekte entkommen, um mich bei bestimmten Sprüngen und Trapezübungen aufzufangen, da er aber kein Mensch war, brauchte er nicht so viel Training wie ich. Was auch gut so war, sonst hätten uns die Requisiten und Pyrotechnik ein Vermögen gekostet, ganz zu schweigen von dem Schaden, den der Rasen genommen hätte. Der Platz, auf dem unser Wohnwagen stand, war nur gemietet; was wir beschädigten, mussten wir zahlen.
Mitglied einer Gauklertruppe zu sein war nicht gerade der Beruf, von dem ich als Kind geträumt hatte, aber das war zu einer Zeit gewesen, als ich noch nicht jedes Elektrogerät lahmlegte, das ich berührte, ganz zu schweigen von den Stromschlägen, die ich den Leuten bei zufälligem Kontakt verpasste. Bei den besonderen Gaben, über die ich verfügte, konnte ich von Glück sagen, dass ich überhaupt einen Job hatte. Außer als Artistin hätte ich höchstens noch als staatliches Versuchskaninchen getaugt, wie ich meinem Vater stets erklärte, wenn er mal wieder meine Berufswahl beklagte.
Ich bemühte mich, die Sprünge flüssig und exakt hinzubekommen, bis ich in einen Rhythmus verfiel, der es mir erlaubte, andere Sorgen beiseitezuschieben. Konzentration war der Schlüssel zum Erfolg, wie mein alter Trainer immer gesagt hatte, und er hatte recht. Bald sah ich die Collage aus Zaun, Rasen und Dach gar nicht mehr, die sich bei jedem Sprung wiederholte, bis sie zu einem undefinierbaren Farbengewirr wurde. Nach meiner letzten Kombination aus Salti und Schrauben landete ich, die Füße parallel zueinander, die Knie leicht gebeugt, um den Stoß abzufangen. Das Trampolin zitterte, aber ich hielt die Spannung, machte keinen Schritt rückwärts, der mich bei einem Wettkampf Punkte gekostet hätte. Dann hob ich die Arme und verneigte mich tief, der letzte Teil der Routine.
»Bravo«, sagte eine spöttische Stimme.
Ich richtete mich auf und erstarrte. Als ich meine Verneigung begonnen hatte, war ich noch allein gewesen, aber in den Sekundenbruchteilen danach hatten sich vier Männer an den Ecken des Trampolins aufgebaut.
In ihren T-Shirts und Jeans wirkten sie wie normale Touristen, aber nur Marty konnte sich so schnell bewegen, was bedeutete, dass sie keine Menschen waren. Selbst wenn ich nicht gewusst hätte, dass andere Spezies mit Vorsicht zu genießen waren, hätte mir das kühle Lächeln des Typen mit den rotbraunen Haaren gesagt, dass die vier nicht hier waren, um nach dem Weg zu fragen. Ich versuchte, mein inzwischen wild pochendes Herz unter Kontrolle zu bekommen. Mit etwas Glück würden die Kreaturen glauben, ich wäre von meinen Trampolinübungen noch erregt, obwohl mein Angstgeruch mich verriet.
»Das ist ein Privatgrundstück«, sagte ich.
»Du musst die Fantastische Frankie sein«, meinte der Große mit den rotbraunen Haaren, meinen Einwand ignorierend. Seine Stimme umschmeichelte meinen Künstlernamen auf eine Weise, die ihn düster klingen ließ.
»Wer will das wissen?«, antwortete ich, während ich mich fragte, wo zum Teufel Marty steckte. Er musste die Typen doch gehört haben, selbst wenn er nicht spürte, dass eine Gruppe übermenschlicher Wesen hier war.
Als ich die Frage gestellt hatte, war ich noch auf dem Trampolin gewesen, doch bereits im nächsten Augenblick lag ich am Boden, schmerzhaft niedergehalten von dem Typen mit den rotbraunen Haaren. Er gab ein gepeinigtes Grunzen von sich, als er beim Kontakt mit meiner Haut einen Stromschlag abbekam, aber wie Marty konnte ihn das nicht außer Gefecht setzen. Er packte mich nur noch fester.
»Wie zum Teufel hast du das gemacht?«, wollte er wissen, und seine Augenfarbe wechselte von Blau zu unirdischem Grün.
Ich antwortete nicht. Kaum war meine Hand in Kontakt mit seinem Körper gekommen, herrschte in meinem Kopf ein Durcheinander aus graustichigen Bildern. Genauso wenig wie ich verhindern konnte, ihm einen Stromschlag zu verpassen, konnte ich es vermeiden, bei der Berührung seine schlimmsten Sünden zu sehen.
Blut. So viel Blut ...
Während sich die panikartige Erinnerung an die Ermordung einer anderen Person vor meinem inneren Auge abspielte, hörte ich ihn über meinen Aufschrei fluchen, spürte dann einen heftigen Schmerz und alles wurde schwarz.
Ich saß meinen Entführern in einem Zimmer gegenüber, das aussah, als befände es sich in einem Hotel, die Hände im Schoß gefaltet, als wären sie Kellner, bei denen ich eine Bestellung aufgeben wollte. Falls du je einem anderen Vampir begegnest, gerate nicht in Panik. Sonst riechst du nur nach Beute, hatte Marty mich gewarnt. Seit ich die Augen meiner Kidnapper hatte leuchten sehen, wusste ich, was sie waren. Deshalb hatte ich auch gar nicht erst versucht, sie zu belügen, als sie mich gefragt hatten, warum ich als Zitteraal hätte durchgehen können oder durch Berührung Informationen aus Personen herausholen konnte. Hätte ich gelogen, hätten sie mich mit ihren Leuchtaugen doch dazu gebracht, die Wahrheit zu sagen - oder zu tun, was sie sonst noch von mir wollten -, und ich hatte nicht vor, ihnen mehr Kontrolle über mich zu geben, als sie ohnehin schon hatten.
Ich versuchte auch nicht wegzulaufen, obwohl sie mich nicht gefesselt hatten. Die meisten Menschen wussten nicht, dass Vampire existierten, ganz zu schweigen davon, wozu sie fähig waren. Aber durch meine Gabe hatte ich von ihrer Existenz erfahren, noch bevor ich Marty kennenlernte. Dank meiner ungewollten Talente wusste ich von allen möglichen Dingen, die ich nie hatte erfahren wollen.
Wie zum Beispiel, dass meine Entführer vorhatten, mich umzubringen; das toppte im Augenblick alles. Ich hatte meinen Tod gesehen, als ich gezwungen gewesen war, den Vampir mit den rotbraunen Haaren noch einmal zu berühren; bei dem Anblick wäre ich am liebsten schreiend und meinen Hals umklammernd davongelaufen.
Was ich nicht tat. Vermutlich hätte ich dankbar sein sollen, dass ich durch meine unerwünschten Fähigkeiten bereits alle möglichen schrecklichen Todesarten durchlebt hatte, was mich in die Lage versetzte, meiner nahenden Exekution mit einer Art morbiden Erleichterung entgegenzusehen. Es würde wehtun, die Kehle herausgerissen zu bekommen - ich musste es wissen, denn ich hatte es schon mehrmals anhand der Erlebnisse anderer erfahren. Doch es war nicht die schlimmste Art zu sterben. Außerdem stand nichts unumstößlich fest. Ich hatte einen Einblick in meine potenzielle Zukunft erhascht, aber Jackies Tod hatte ich auch verhindert. Vielleicht ließ sich eine Möglichkeit finden, jetzt dem meinen zu entgehen.
»Noch mal zum Verständnis«, sagte der Typ mit den rotbraunen Haaren gedehnt. »Im Alter von dreizehn Jahren hast du eine abgerissene Hochspannungsleitung angefasst, bist fast gestorben, und dann hat dein Körper angefangen selbst Stromstöße abzugeben, und mit deiner rechten Hand kannst du durch Berührung von Personen oder Gegenständen in die Zukunft schauen?«
Da war noch mehr, aber das würde ich dem Vampir nicht auf die Nase binden, und die Details hätten ihn sicher ohnehin nicht interessiert.
»Die Sache mit den Stromschlägen hast du am eigenen Leib zu spüren bekommen«, meinte ich mit einem Achselzucken. »Was das Zweite betrifft, ja, wenn ich etwas berühre, gewinne ich solche Einblicke.« Ob ich will oder nicht, fügte ich im Stillen hinzu.
Der Vampir lächelte und ließ den Blick über die dünne, zackige Narbe wandern, die als sichtbarer Beweis meiner Nahtoderfahrung zurückgeblieben war. »Was hast du gesehen, als du mich berührt hast?«
»Gegenwart oder Zukunft?«, wollte ich wissen und verzog bei beiden Erinnerungen das Gesicht.
Er tauschte einen interessierten Blick mit seinen Kameraden. »Beides.«
Wie gern hätte ich gelogen, aber ich musste keine Hellseherin sein, um zu wissen, dass ich in Sekunden tot gewesen wäre, wenn sie Zweifel an mir gehabt hätten.
»Du saugst gern Kinder aus.« Bei den Worten wurde mir speiübel, aber ich schluckte und fuhr fort. »Und du wirst mich aussaugen, wenn ich euch nicht von Nutzen bin.«
Sein Lächeln wurde breiter, entblößte die Spitzen seiner Reißzähne, als er meine Aussage unkommentiert stehen ließ. Hätte ich durch die Augen der Menschen, zu denen ich hellseherische Verbindung aufgenommen hatte, nicht schon ähnlich bedrohlich grinsende Vampire gesehen, hätte ich mir vor Angst in die Hose gemacht, aber ein abgebrühter Teil meines Selbst nahm ihn einfach als das, was er war: böse. Und das Böse war mir nicht fremd, so gern ich auch etwas anderes behauptet hätte.
»Wenn sie die ist, von der wir gehört haben, könnte sie uns den benötigten Vorteil verschaffen«, murmelte sein brünetter Kompagnon.
»Vermutlich hast du recht«, freute sich der mit den rotbraunen Haaren.
Ich wollte nicht sterben, aber es gab Dinge, die ich nicht tun würde, selbst wenn es mein Leben kostete. »Bitte mich, Kinder für dich zu entführen, dann kannst du gleich mich aussaugen.«
Der Vampir lachte. »Das krieg ich schon selbst hin«, versicherte er mir, sodass sich mir vor Abscheu der Magen hob. »Was ich von dir will ist ... komplizierter. Wenn ich dir einige Gegenstände bringe, kannst du mir dann durch Berührung etwas über ihren Besitzer sagen? Was er macht, zum Beispiel, oder wo er ist und, ganz wichtig, wo er sein wird?«
Ich wollte dieser widerlichen Mörderbande zwar nicht auch noch hilfreich sein, aber meine Chancen standen schlecht. Lehnte ich ab, würden sie mich durch Hypnose oder Folter doch dazu bringen, oder ich würde an meinem eigenen Blut würgend sterben, weil ich ihnen nicht von Nutzen war. Vielleicht war das meine Chance, das Schicksal zu ändern, das sie für mich ausersehen hatten.
Warum willst du das tun?, flüsterte ein finsteres Stimmchen in mir. Bist du es nicht leid, in anderer Leute Sünden zu ertrinken. Ist der Tod nicht dein einziger Ausweg?
Ich warf einen Blick auf mein Handgelenk. Die schwachen Narben darauf hatten nichts mit meinem Unfall zu tun. Einmal hatte ich auf die Stimme der Verzweiflung gehört, und ich hätte gelogen, hätte ich mir nicht eingestanden, dass ein Teil meines Selbst noch immer versucht war, ihr zu folgen. Dann dachte ich an Marty und daran, dass ich meinem Vater bei unserem letzten Treffen nicht gesagt hatte, dass ich ihn liebte, dass ich seit Monaten nicht mehr mit meiner Schwester gesprochen hatte, und schließlich, dass ich diesen Bastarden nicht die Genugtuung gönnte, mich zu ermorden.
Ich hob den Kopf und begegnete dem Blick des Anführers. »Meine Fähigkeiten sind an meine Emotionen gekoppelt. Tut ihr mir psychisch oder physisch Gewalt an, müsst ihr die Astrohotline anrufen, um herauszufinden, was ihr wissen wollt. Das bedeutet, keiner wird ermordet, während ich Informationen für euch beschaffe, und mich rührt ihr auch nicht an.«
Letzteres hatte ich gesagt, weil der hagere Brünette mir einen lüsternen Blick zugeworfen hatte. Mein hautenges Trikot und die Boxershorts überließen nicht viel der Fantasie, aber darin trainierte ich eben. Hätte ich damit gerechnet, heute entführt zu werden, hätte ich mich für ein konservativeres Outfit entschieden.
»Und glaubt nicht, ihr könnt mich durch Hypnose vergessen lassen, was ihr tut«, fügte ich hinzu, und machte eine Bewegung mit der rechten Hand. »Mediale Veranlagung, schon vergessen? Ich berühre euch oder ein Objekt in der Nähe und finde es heraus, und schon ist eure menschliche Glaskugel entzwei.«
Das war natürlich alles Quatsch. Sie hätten tun und lassen können, was sie wollten, und ich hätte noch immer durch alles hellsehen können, was meine rechte Hand berührte, aber ich hatte im Brustton der Überzeugung gesprochen und hoffte, dass ich wenigstens diesmal überzeugend gelogen hatte.
Der Typ mit dem rotbraunen Haar schenkte mir ein weiteres bedrohlich zähnefletschendes Lächeln. »Das kriegen wir hin, wenn du tust, was du angeblich kannst.«
Ich schenkte ihm meinerseits ein freudloses Lächeln. »Oh, und ob.«
Dann warf ich einen Blick auf die Steckdose hinter ihm. Und das ist noch nicht alles, wozu ich fähig bin.
3
Der Vampir mit den rotbraunen Haaren hieß Schakal, zumindest wurde er von seinen Freunden so genannt. Deren Namen klangen genauso erfunden, sodass ich sie insgeheim Perversling, Psycho und Zappelphilipp nannte, weil Letzterer keine Sekunde stillhalten konnte. Vor etwa einer Stunde waren Zappelphilipp und Perversling losgezogen, um ein paar Gegenstände zu besorgen, die ich anfassen sollte. Seither saß ich auf der Kante der klumpigen Hotelmatratze und hörte zu, wie Schakal in einer mir unbekannten Sprache telefonierte. Allmählich wurde mir in meinem Trikot kalt, aber ich zog die Decke nicht über mich. Mein Instinkt sagte mir, dass ich mich ruhig verhalten und keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen sollte, als würde das einen Unterschied machen. Die Raubtiere in diesem Zimmer waren sich meiner Gegenwart nur allzu bewusst, auch ohne in meine Richtung zu sehen.
Als Perversling und Zappelphilipp zurückkamen, betrachtete ich den mitgebrachten Matchsack mit einer Mischung aus Furcht und Optimismus. Der Inhalt hielt vielleicht noch mehr schauerliche Bilder für mich bereit, aber er würde auch mein Überleben sichern.
»Legt die Gegenstände in einer Reihe aufs Bett«, wies ich Zappelphilipp an, den verblüfften Blick ignorierend, den er mir zuwarf. Verhielt ich mich wie ein hilfloses Frauchen, würden sie mich auch so behandeln. Verhielt ich mich andererseits wie ein wichtiges Werkzeug, das sie auf ihrer Suche nach der Person brauchten, zu der diese Gegenstände sie führen sollten, verbesserte das meine Überlebenschancen.
Zumindest hoffte ich das.
»Tu es«, meinte Schakal, die Arme vor der Brust verschränkend. Sein Blick schien mich niederzudrücken, aber ich atmete ein paar Mal tief durch und versuchte, ihn zu ignorieren. Zuzusehen, was Zappelphilipp aus dem Matchsack zog, half mir dabei.
Ein verkokeltes Stofffetzchen, eine halb geschmolzene Uhr, ein Ring, etwas, das aussah wie ein Gürtel, und ein Messer mit deutlich silbrigem Glanz.
Letzteres ließ mein Herz höher schlagen, was die anderen hoffentlich meiner Nervosität statt meinem wirklichen Gemütszustand zuschreiben würden. Erregung. In Filmen wurden Vampire völlig falsch dargestellt. Holzpflöcke konnten ihnen nichts anhaben, Sonnenlicht, Kruzifixe und Weihwasser ebenso wenig. Aber eine Silberklinge ins Herz, und schon war die Party vorbei, und jetzt hatte ich ein Silbermesser in direkter Reichweite.
Noch nicht, ermahnte ich mich. Ich würde abwarten, bis sie so von meiner Hilflosigkeit überzeugt waren, dass sie sich gar nichts mehr dabei dachten, mich mit einem Silbermesser allein zu lassen. Oder bis wenigstens zwei von ihnen wieder gingen, je nachdem.
»Also los, Frankie«, sagte Schakal, sodass ich wieder ihn ansah. Mit einem Nicken wies er auf die Gegenstände. »Mach.« Ich machte mich innerlich auf das Unvermeidliche gefasst und nahm dann den verkohlten Stofffetzen zur Hand.
Überall Rauch. Zwei Lichtstrahlen durchschnitten ihn und trafen die Stelle, an der ich mich halb hinter dem Gabelstapler verborgen hielt. Entsetzen überkam mich, als ich erkannte, dass ich entdeckt worden war. Mein Fluchtversuch wurde vereitelt, als grobe Hände mich zurückhielten.
Erst war der Rauch so dicht, dass ich außer dem Blick aus den Leuchtaugen nichts sehen konnte. Dann erkannte ich dunkles Haar, das ein schmales Gesicht mit leichten Bartstoppeln um Kinnbereich und Mund umrahmte. Die Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das ganz gegen meine Erwartung nicht grausam war. Es wirkte sogar erstaunlich gutmütig.
»Raziel«, sagte der dunkelhaarige Fremde tadelnd. »Das hättest du nicht tun sollen.«
Ich hatte schon Eltern gehört, die ihren Kindern gegenüber einen schärferen Tonfall anschlugen, aber das änderte nichts an der Angst, die mich immer stärker überkam.
»Bitte«, keuchte ich.
»Bitte?« Der Fremde lachte und enthüllte dabei weiße Zähne mit den beiden typischen Fängen. »Wie unoriginell.«
Damit ließ er mich los, drehte sich um und winkte mir zum Abschied noch einmal freundlich zu. Die Erleichterung, die mich überkam, war so überwältigend, dass mir die Knie schlotterten, aber davon ließ ich mich nicht aufhalten. Ich stürzte nach vorn zur Tür des Lagerhauses.
Und da umfing mich das Feuer, völlig aus dem Nichts heraus. Unbarmherzig kletterte es meine Beine empor, bis ich aufschrie, so überwältigend war der Schmerz. Ich versuchte schneller zu laufen, aber die Flammen schlugen nur noch höher empor. Schließlich warf ich mich zu Boden und wälzte mich herum, während ich den Schmerz in sämtlichen Nervenenden spürte, aber das Feuer erlosch nicht. Es wurde sogar noch stärker, überrollte mich mit unbarmherzigen, gierigen Wellen, bis donnernde Schwärze angerauscht kam und mich überwältigte. Das Letzte, was ich sah, als ich über meinem leblosen Körper schwebte, war der dunkelhaarige Vampir, dessen Hände in Flammen gehüllt waren, die seine Haut völlig unversehrt ließen.
Ich war verblüfft. Als ich die Augen öffnete, befand ich mich wieder in dem Hotelzimmer, in Fötusposition zusammengekauert, ähnlich wie Raziel, als er gestorben war. Ich hatte mich bei der Erinnerung an die Phantomflammen wohl instinktiv genauso verhalten wie er.
»Und?« Schakals fordernde Stimme war eine Erleichterung, weil sie mich aus dem Alptraum, den ich gerade gezwungenermaßen durchlebt hatte, in die Realität zurückholte. »Was hast du gesehen?«
Ich setzte mich auf und warf ihm den verkohlten Stofffetzen entgegen.
»Einen gewissen Raziel, der von einem Vampir gegrillt wurde, der offenbar Macht über das Feuer hat«, antwortete ich, während ich noch immer versuchte, die Erinnerung an jenen fürchterlichen Tod loszuwerden.
Die vier tauschten einen Blick aus, den man nur als entzückt beschreiben konnte. »Jackpot!«, rief Psycho und reckte die Faust in die Luft.
So gut wie die Typen drauf waren, war Raziel entweder kein Freund gewesen, oder sie wussten bereits, was ihm widerfahren war, und wollten mich nur auf die Probe stellen.
»Gehen wir auf Nummer sicher«, meinte Schakal, dessen Grinsen schwand. »Frankie, nimm als Nächstes diesen Ring.«
Ich nahm ihn in die Hand und machte mich auf das Schlimmste gefasst, aber eine Flut von Bildern, die mir bereits bekannt waren, schoss mir durch den Kopf. Sie waren zwar nach wie vor so grauenvoll, dass ich mich am liebsten übergeben hätte, aber nicht nur in den Grautönen der Vergangenheit gehalten, sondern auch blasser, eher, als würde ich einen Film ansehen, statt alles direkt mitzuerleben. Mit einem Kopfschütteln gab ich Schakal den Ring zurück.
»Vielleicht habt ihr euch geirrt. Die einzigen Eindrücke, die ich daraus gewinnen konnte, sind deine, und die verraten mir nichts Neues.«
Ein kurzes smaragdgrünes Blitzen trat in seine haselnussbraunen Augen, dann stieß er einen lauten Jubelschrei aus, der mich zusammenfahren ließ.
»Das waren keine Zufallstreffer, sie ist verdammt noch mal die Echte!«
Alles, was einen sadistischen Kindermörder zu Jubel- schreien hinriss, machte mich nervös, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Keine Panik, hatte Marty gesagt. Beute gerät in Panik, und Beute wird gerissen.
»Nächstes Teil?«, fragte ich, bemüht, so cool zu klingen, wie es mir unter den gegebenen Umständen möglich war.
Die Vampire beendeten ihr Gruppenabklatschen, um mich anzusehen. »Ja«, sagte Schakal und schob mir das Messer hin. Seine Erregung war fast mit Händen zu greifen. »Aber diesmal will ich, dass du dich auf den Feuerteufel konzentrierst. Versuche zu erkennen, wo der Bastard steckt, nicht nur was passiert ist, als er Neddy abgeschlachtet hat.«
Jetzt wusste ich, dass ich durch die Berührung des Messers wieder eine Ermordung miterleben würde, aber das war es nicht, was mich innehalten ließ, als ich nach dem Messer greifen wollte.
»Der Feuerteufel?«, wiederholte ich. »Ihn soll ich durch diese Objekte finden?«
Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?, hätte ich fast hinzugefügt, tat es aber nicht, denn selbst wenn sie es waren, ich war es nicht.
»Du kriegst das hin, oder?«, erkundigte sich Schakal, der plötzlich gar kein erfreutes Gesicht mehr machte.
Klar würde ich das hinkriegen, aber ich wollte nicht. Ich bezweifelte, dass der Feuerteufel ein Freund war; immerhin hatte Schakal ihn herablassend als Bastard bezeichnet, und dass ich herausfinden sollte, wo er war, ließ finstere Absichten vermuten. Jeder, der noch alle Tassen im Schrank hatte, würde sich hüten auch nur auf einem Kontinent mit dieser Kreatur zu weilen, falls es wirklich zum Krach kam, doch Schakal und die anderen hatten offensichtlich vor, den Mann in einen Hinterhalt zu locken. Das charmante Lächeln, das der Feuerteufel Raziel geschenkt hatte, bevor er ihn in ein Häufchen Asche verwandelt hatte, war eine Erinnerung, die ich am liebsten aus meinem Kopf gelöscht hätte. Doch wenn ich mich weigerte, ihn zu suchen, würde ich nicht lange genug leben, um mir Gedanken ums Vergessen machen zu müssen.
Wie man es auch drehte und wendete, ich konnte mich nur zwischen Pest und Cholera entscheiden. Oder besser gesagt zwischen Fängen und Reißzähnen.
Copyright © der deutschsprachigen Originalausgabe 2013 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Jeaniene Frost
Jeaniene Frost ist eine »New York Times«- und SPIEGEL-Bestsellerautorin, ihre Romane erscheinen in 20 Sprachen. Neben dem Schreiben liest Jeaniene gerne, schaut sich Filme an, erkundet alte Friedhöfe und macht Roadtrips. Sie lebt mit ihrem Mann in Florida.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jeaniene Frost
- 2014, Erstmals im TB, 384 Seiten, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Sandra Müller
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 344226992X
- ISBN-13: 9783442269921
- Erscheinungsdatum: 13.05.2014
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