Ich war Hitlers letztes Aufgebot
Meine Erlebnisse als SS-Kindersoldat
Im März 1945 wird der 16-jährige Hamburger Günter Lucks von der SS rekrutiert und an die Front bei Wien geschickt. Er kämpft, tötet - und gerät in russische Gefangenschaft. Was der Kindersoldat auf seiner langjährigen...
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Produktinformationen zu „Ich war Hitlers letztes Aufgebot “
Im März 1945 wird der 16-jährige Hamburger Günter Lucks von der SS rekrutiert und an die Front bei Wien geschickt. Er kämpft, tötet - und gerät in russische Gefangenschaft. Was der Kindersoldat auf seiner langjährigen Odyssee durch zahlreiche Lager erlebt und erleidet, schildert sein packender Bericht.
Klappentext zu „Ich war Hitlers letztes Aufgebot “
Das letzte Aufgebot der Nazis bestand zum Teil aus Kindern. Eines davon war der Hamburger Günter Lucks. Im März wird der 16-Jährige von der SS rekrutiert und an die Front bei Wien geschickt. Das Kind kämpft und tötet - und gerät in russische Gefangenschaft. Eine jahrelange Odyssee durch zahlreiche Lager beginnt - und eine unglaubliche Geschichte, die in Moskau in eine große, tragische Liebe mündet ...«Der Text hat mich berührt. Ich hoffe, dass mit Hilfe solch_ anschaulicher Beschreibungen Nachgeborene Gelegenheit ha-_ben, aus den Erfahrungen früherer Generationen zu lernen.» Günter Grass
Lese-Probe zu „Ich war Hitlers letztes Aufgebot “
Ich war Hitlers letztes Aufgebot – Meine Erlebnisse als SS-Kindersoldat von Günter Lucks mit Harald Stutte
Vorwort
In meinen Träumen kehren die schrecklichen Bilder immer wieder. Dann sehe ich die toten Zivilisten in dem österreichischen Dorf Altlichtenwarth. Ich sehe den Kameraden, den wir «Enteritis» nannten und der etwas rechthaberisch gewesen war. Und der dann von einer Granate zerfetzt und besudelt mit Obstkompott unter Dutzenden kaputter Einweckgläser lag, die wir zuvor im Keller eines Bauernhauses gefunden hatten. Oder ich sehe das Bild eines sowjetischen Soldaten, der mit geweiteten Augen auf mich zusprang, mir sein entsichertes Gewehr an den Kopf hielt und mir irgendetwas in russischer Sprache entgegenschrie, das ich damals nicht verstand. Schwer verletzt lag ich in einem Lazarettzug. Der Krieg war bereits vorbei. Nie wieder in meinem Leben hatte ich eine solche Todesangst wie in jenem Moment.
... mehr
Solche Bilder sind sehr privat und schwer vermittelbar. Sie waren in meinem Kopf verschlossen, unsichtbar für meine Umgebung. Als alter Mensch hat man sehr viel Zeit und beschäftigt sich mehr mit der eigenen Vergangenheit. Endlich hatte ich das Bedürfnis, meine Geschichte, die Geschichte eines Kindersoldaten und später die eines jugendlichen Kriegsgefangenen, der Nachwelt mitzuteilen. Meinem Sohn zum Beispiel, denn den Gedanken an eine Buchveröffentlichung hatte ich zunächst nicht. Aber ich begann vor einigen Jahren damit, meine Geschichte niederzuschreiben. Und ich war selbst überrascht, wie lebendig die Erinnerungen noch sind, selbst an Details.
Die Idee, meine Erlebnisse aufzuzeichnen, kam mir an einem Januarmorgen im Jahr 2005. Ich war mit der U-Bahn in die Stadt gefahren, womit wir Hamburger im engeren Sinn unsere City meinen. Ich wollte mir eine neue Jacke kaufen. Als notorischer Frühaufsteher erreichte ich die Innenstadt, ehe die ersten Läden öffneten. Und so bummelte ich ziellos umher. Auf der Altmannbrücke blieb ich stehen und beobachtete von oben den Schienenverkehr am südlichen Ausgang des Hauptbahnhofes. Es war ein geschäftiges Treiben da unten, S-Bahnen fuhren hin und her, linker Hand wartete ein ICE . Hinter mir lag das alte Postamt. Früher nannte man diesen Komplex bestehend aus dem Hauptpostamt 1, dem Paketpostamt 7 und dem Bahnpostamt 17 «Hühnerposten». Benannt nach der Straße gleichen Namens, die dort einst verlief. Hier hatte ich im April 1943 meine Lehrzeit begonnen oder «Lernzeit», wie man früher bei der Post sagte. Rechter Hand von mir sah ich das Museum für Kunst und Gewerbe, auch das existierte seinerzeit schon. Auf der anderen Seite, wo jetzt das Elektronikkaufhaus Saturn steht, befand sich das Naturhistorische Museum, in dessen Haupthalle ein Walskelett gigantischen Ausmaßes zu sehen gewesen war. Damals war das in Hamburg eine große Attraktion. Im Krieg fiel das Museum leider den Bomben zum Opfer.
In Gedanken versunken begab ich mich auf eine imaginäre Reise, eine Zeitreise, 60 Jahre zurück. Und plötzlich war alles wieder da. Denn genau hier, am Hamburger Hauptbahnhof, hatte sie begonnen: meine lange Odyssee. Ich dachte an jenen kalten 4. Januar 1945 zurück, als eine rußigen Dampf ausstoßende Lokomotive den Zug aus der halbzerstörten Bahnhofshalle zog, in dem ich einem unbekanntem Schicksal entgegenrollte. Als angehender Frontsoldat saß ich damals in einem Waggon zwischen frustrierten Soldaten und Zivilisten. Auf meinen Knien hielt ich einen kleinen Koffer mit etwas Wäsche, in der Tasche meiner HJ -Uniform hatte ich den Einberufungsbefehl für ein sogenanntes Reichsausbildungslager. Dort sollte ich, ein junger Mensch von gerade mal 16 Jahren, zum Soldaten geschliffen werden. An dieser Stelle im Herzen Hamburgs begann die Irrfahrt eines Kindes, das für wenige Wochen in einen sinnlosen, apokalyptischen Krieg geschickt und in die Uniform der Waffen-SS gesteckt wurde einer militärischen Organisation, die für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich war. Was aber nicht automatisch bedeutet, dass nur Verbrecher in ihr dienten. Sondern am Ende auch halbe Kinder, wie wir es waren.
Ich nahm mir an jenem Morgen vor, meine Erlebnisse zu Papier zu bringen. Wenn alte Menschen ihre Lebensgeschichte schreiben, öffnen sie oft ein Ventil: Mitunter treibt sie Verbitterung um, zuweilen auch Wehmut, der Wunsch, etwas aufzuarbeiten, oder das Gefühl, der Nachwelt etwas Besonderes zu hinterlassen. In meinem Fall stand keiner dieser Beweggründe Pate. Vielmehr wollte ich meinem Sohn ein ganz persönliches Geschenk machen, ich wollte ihm «gelebte Geschichte» schenken, meine Lebensgeschichte, die auch ein Kapitel deutscher Geschichte in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ist. Ich war einer aus der Masse von schätzungsweise 3,35 Millionen deutschen Soldaten, die in sowjetische Kriegsgefangenschaft gerieten. Ähnliche Schicksale wurden schon viele erzählt. Doch erst, als ich in meinen Erinnerungen grub, als ich das Erlebte wieder zum Leben erweckte, wurde mir klar, dass meine Geschichte etwas Besonderes war, dass ich viele Dinge erlebt habe, die in den zahllosen Büchern, Filmen, Dokumentationen, die es über die Kriegs- und Nachkriegszeit gibt, so noch nicht publiziert worden waren.
Schwer verletzt überlebte ich das Kriegsende und wurde auf eine fünfjährige Reise durch insgesamt elf sowjetische Gefangenenlager geschickt. Dort erlebte ich schlimme Dinge Zwangsarbeit, Hunger, brutale Behandlung und den Verlust vieler Kameraden, die an Krankheit, Entkräftung oder Hoffnungslosigkeit starben, vor allem in den ersten Nachkriegsjahren. Doch ich machte auch Erfahrungen, die man in einer Kriegsgefangenschaft nicht unbedingt erwartet: Freundschaft und Anteilnahme selbst von Bewachern und Angehörigen des Volkes, deren Gefangene wir waren. Und ich erlebte die erste Liebe meines Lebens zu einem Moskauer Mädchen, etwas jünger als ich. Ihretwegen wäre ich sogar freiwillig in der Sowjetunion geblieben. Meine Kameraden nannten mich damals nur Bubi, weil ich noch sehr kindlich aussah und mich vermutlich auch oft noch sehr unreif verhielt. Heute denke ich keineswegs mit Verbitterung an die Gefangenschaft, sondern habe sehr lebhafte Erinnerungen an eine Zeit, die mich geprägt hat und immer noch sehr beschäftigt. Verbitterung empfinde ich nur über jene, die diesen Krieg begannen und Millionen Unschuldige darunter Jugendliche wie uns als williges Kanonenfutter verheizten.
In einem Aufruf der Hamburger Morgenpost wurden anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes Zeitzeugen gesucht, die mit dem 8. Mai 1945 ganz persönliche und außergewöhnliche Erlebnisse verbanden. Ich meldete mich, ein Artikel über meine Odyssee erschien in dem Blatt. Jahre später schickte ich nochmals meine Erlebnisse an das Blatt, sehr viel detaillierter. Eher zufällig las der Politikredakteur Harald Stutte meine zu Papier gebrachten Erlebnisse und ermunterte mich, sie zu einem Buch auszubauen. Zwei Jahre brauchten wir, bis wir meine losen Erinnerungen zu dem vorliegenden Buch verdichtet hatten. Nicht die oft beschriebene Geschichte einer Niederlage, die eigentlich eine Befreiung war, sollte im Mittelpunkt stehen. Sondern das Schicksal von Jugendlichen und Kindern, deren Naivität und deren Enthusiasmus von den Nazis missbraucht wurden. Und die letztlich ebenfalls zu denen zählen, die für die Verbrechen, die im Namen des deutschen Volkes begangen wurden, die Zeche zahlen mussten. Der Missbrauch junger Menschen als willige Vollstrecker des Krieges ist also kein neues Phänomen. Nur die Dimensionen haben sich geändert. Hunderttausende Kindersoldaten UNICEF , Terre des Hommes und Amnesty International bezeichnen damit «alle Kämpfer und deren Helfer, die unter 18 Jahre alt sind» werden heute in Kriegen in Zentral- oder Westafrika verheizt. Auch wenn die Situation mit der unsrigen damals nicht vergleichbar ist, so ist uns allen gemein, dass wir um unsere Kindheit, die wichtigste und prägendste Zeit des Lebens, betrogen wurden. 1. im krieg
Eine Familie im Krieg
Ich stamme aus einer sozialistisch geprägten Familie. Schon mein Großvater, der Schneidermeister Adolf Schill, war in der sozialistischen Arbeiterbewegung Hamburgs engagiert und genoss sogar eine gewisse regionale Prominenz. Er war ein Veteran der USPD , einer Linkspartei, die sich noch während des Ersten Weltkrieges von der SPD abgespalten hatte. Ein Großteil der USPD war dann 1919 in der neugegründeten Kommunistischen Partei aufgegangen. Adolf Schill hatte die SPD Legende August Bebel noch persönlich gekannt. Er war stolz darauf, Bausteine für den Bau des Gewerkschaftshauses der «Waffenschmiede des Proletariats», wie er es nannte gespendet zu haben. Mich nervten diese proletarischen Heldenlegenden zwar, denn ich war in meiner Jugend ein stolzer Hitlerjunge und Gefolgsmann Hitlers. Aber «verpfiffen» hätte ich meinen Opa nie, obwohl so etwas in anderen Familien durchaus vorkam. Mein Vater, der als Soldat im Krieg war, stand politisch sogar noch weiter links. Er war einst Mitglied im Rotfrontkämpferbund (RFB ), dem paramilitärischen Arm der Kommunisten, ebenso mein Stiefvater, der neue Mann meiner Mutter. Meine Eltern hatten sich scheiden lassen, als ich noch ein kleiner Junge war. Mein Vater ebenso wie mein Stiefvater waren bis zu Hitlers Machtergreifung 1933 in der kommunistischen Bewegung Hamburgs aktiv gewesen.
Nach Hitlers Machtergreifung waren ganze Hundertschaften von RFB -Leuten der SA beigetreten. Ich erinnere mich noch, dass uns ein Freund meines Vaters besuchte, in nagelneuer SA Uniform. «Komm doch auch zu uns, Hermann», bat er meinen Vater. «Sieh mal, die schönen braunen neuen Stiefel und die Uniform, alles umsonst. Der Führer will uns auch Arbeit beschaffen.» Mein Vater starrte ihn fassungslos an, Ehrlosigkeit und spontane Gesinnungswechsel waren ihm zuwider. Doch die Nazis machten es den ehemaligen Kommunisten leicht und waren nicht nachtragend, schließlich gab es auch ranghohe Nazis wie Joseph Goebbels, die einst kommunistischen Ideen anhingen. Hart und unnachgiebig bekämpften sie aber jene, die nach 1933 in den Untergrund gingen. Dazu fehlte meinem Vater der Mut, was ich sehr gut verstehen kann, denn die Überlebenschancen als kommunistischer Widerstandskämpfer waren gering. Er fügte sich still und wurde später zur Wehrmacht eingezogen. Seine innere Überzeugung jedoch gab er nicht auf.
Wir Kinder sahen in den erst allmählich einsetzenden Luftangriffen zu Beginn des Krieges noch eine Art Abenteuer, sie hatten für uns ein unterhaltsames Moment. Etwas weit hergeholt vergleichbar mit Fernsehen oder den heute so populären Computerspielen. Auch wenn es heute unglaublich klingt, empfanden wir das so, denn die Gefahr dieser Angriffe war uns anfangs noch nicht bewusst. In klaren Nächten standen wir draußen und sahen die Scheinwerferbündel unserer Flugabwehr am Himmel, auf der Suche nach englischen Fliegern, die sie mitunter erfassten. Hatten die hellen Leuchtbalken erst mal einen feindlichen Flieger fixiert, gab es für ihn in den meisten Fällen kein Entrinnen mehr, trotz all der fliegerischen Kapriolen, zu denen er ansetzte. Gebannt blickten wir zum Himmel, beobachteten das Duell und sahen, wie die kleinen Explosionswölkchen der Flakgeschosse die Flugbahn des Bombers säumten. Alle deutschen Städte waren eingebettet in einen Ring aus Flakstellungen, in denen ab 1943 Jugendliche, die sogenannten Flakhelfer, die Geschütze bedienten. Wurde der Flieger von einem Geschoss getroffen, freuten sich meine Freunde stets, jubelten, wie man sich heute während einer Fußball-Live-Übertragung über ein Tor seines Lieblingsvereins freut. So richtig begeistert war ich von dieser Jagd da am Himmel nie. Eigentlich freute ich mich nur, wenn ich am Himmel kleine Fallschirme sah. Hitlerjunge hin oder her ich hatte Mitleid mit den abgeschossenen Piloten und gönnte ihnen die Rettung; zeigen und mitteilen mochte ich das aber meinen Freunden nicht.
Am folgenden Tag gingen wir Kinder dann die Straßen entlang und suchten Granatsplitter von den Geschossen der Fliegerabwehrkanonen. Wir tauschten sie untereinander. Wenn einer der Splitter noch ein Stück des Führungsringes aufwies, war es so wertvoll wie fünf andere Stücke. Am begehrtesten waren Bombensplitter aus Leichtmetall, dafür gab es unter uns Jungens zehn andere. In der ersten Zeit waren Leichtmetallsplitter für uns sogar so wertvoll wie eine seltene Briefmarke. Doch das Angebot an Fundstücken wurde im Verlauf des Krieges immer größer, der Umtauschkurs sank, Folge des forcierten Bombenkrieges der Alliierten gegen das Reich, das die Lufthoheit verlor und den Himmel über den Städten nicht mehr wirksam zu schützen vermochte. Immer mehr Bomben fielen und begruben so manchen der kleinen Sammler unter sich.
In den ersten Kriegstagen wurde in den Städten noch strikt auf Einhaltung der Verdunkelung geachtet. Fenster, Auto- und sogar Fahrradscheinwerfer mussten mit blauem Verdunkelungspapier beklebt werden. Nur kleine Lichtstreifen blieben ausgespart. Blockwarte liefen nachts durch die Straßen, «Licht aus!» riefen sie, falls jemand das Verdunkelungsgebot missachtete. Die Menschen trugen kleine, phosphoreszierende Abzeichen, in Hamburg waren das oft kleine Möwen. Daran sollte erkannt werden, dass jemand entgegenkam. In den Kinos und im Radio wurde gemahnt: «Denk an die Verdunkelung!» Doch all diese Vorsichtsmaßnahmen ließen später nach, denn die Alliierten bombardierten die deutschen Städte, ob sie nun dunkel waren oder nicht.
Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Die Idee, meine Erlebnisse aufzuzeichnen, kam mir an einem Januarmorgen im Jahr 2005. Ich war mit der U-Bahn in die Stadt gefahren, womit wir Hamburger im engeren Sinn unsere City meinen. Ich wollte mir eine neue Jacke kaufen. Als notorischer Frühaufsteher erreichte ich die Innenstadt, ehe die ersten Läden öffneten. Und so bummelte ich ziellos umher. Auf der Altmannbrücke blieb ich stehen und beobachtete von oben den Schienenverkehr am südlichen Ausgang des Hauptbahnhofes. Es war ein geschäftiges Treiben da unten, S-Bahnen fuhren hin und her, linker Hand wartete ein ICE . Hinter mir lag das alte Postamt. Früher nannte man diesen Komplex bestehend aus dem Hauptpostamt 1, dem Paketpostamt 7 und dem Bahnpostamt 17 «Hühnerposten». Benannt nach der Straße gleichen Namens, die dort einst verlief. Hier hatte ich im April 1943 meine Lehrzeit begonnen oder «Lernzeit», wie man früher bei der Post sagte. Rechter Hand von mir sah ich das Museum für Kunst und Gewerbe, auch das existierte seinerzeit schon. Auf der anderen Seite, wo jetzt das Elektronikkaufhaus Saturn steht, befand sich das Naturhistorische Museum, in dessen Haupthalle ein Walskelett gigantischen Ausmaßes zu sehen gewesen war. Damals war das in Hamburg eine große Attraktion. Im Krieg fiel das Museum leider den Bomben zum Opfer.
In Gedanken versunken begab ich mich auf eine imaginäre Reise, eine Zeitreise, 60 Jahre zurück. Und plötzlich war alles wieder da. Denn genau hier, am Hamburger Hauptbahnhof, hatte sie begonnen: meine lange Odyssee. Ich dachte an jenen kalten 4. Januar 1945 zurück, als eine rußigen Dampf ausstoßende Lokomotive den Zug aus der halbzerstörten Bahnhofshalle zog, in dem ich einem unbekanntem Schicksal entgegenrollte. Als angehender Frontsoldat saß ich damals in einem Waggon zwischen frustrierten Soldaten und Zivilisten. Auf meinen Knien hielt ich einen kleinen Koffer mit etwas Wäsche, in der Tasche meiner HJ -Uniform hatte ich den Einberufungsbefehl für ein sogenanntes Reichsausbildungslager. Dort sollte ich, ein junger Mensch von gerade mal 16 Jahren, zum Soldaten geschliffen werden. An dieser Stelle im Herzen Hamburgs begann die Irrfahrt eines Kindes, das für wenige Wochen in einen sinnlosen, apokalyptischen Krieg geschickt und in die Uniform der Waffen-SS gesteckt wurde einer militärischen Organisation, die für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich war. Was aber nicht automatisch bedeutet, dass nur Verbrecher in ihr dienten. Sondern am Ende auch halbe Kinder, wie wir es waren.
Ich nahm mir an jenem Morgen vor, meine Erlebnisse zu Papier zu bringen. Wenn alte Menschen ihre Lebensgeschichte schreiben, öffnen sie oft ein Ventil: Mitunter treibt sie Verbitterung um, zuweilen auch Wehmut, der Wunsch, etwas aufzuarbeiten, oder das Gefühl, der Nachwelt etwas Besonderes zu hinterlassen. In meinem Fall stand keiner dieser Beweggründe Pate. Vielmehr wollte ich meinem Sohn ein ganz persönliches Geschenk machen, ich wollte ihm «gelebte Geschichte» schenken, meine Lebensgeschichte, die auch ein Kapitel deutscher Geschichte in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ist. Ich war einer aus der Masse von schätzungsweise 3,35 Millionen deutschen Soldaten, die in sowjetische Kriegsgefangenschaft gerieten. Ähnliche Schicksale wurden schon viele erzählt. Doch erst, als ich in meinen Erinnerungen grub, als ich das Erlebte wieder zum Leben erweckte, wurde mir klar, dass meine Geschichte etwas Besonderes war, dass ich viele Dinge erlebt habe, die in den zahllosen Büchern, Filmen, Dokumentationen, die es über die Kriegs- und Nachkriegszeit gibt, so noch nicht publiziert worden waren.
Schwer verletzt überlebte ich das Kriegsende und wurde auf eine fünfjährige Reise durch insgesamt elf sowjetische Gefangenenlager geschickt. Dort erlebte ich schlimme Dinge Zwangsarbeit, Hunger, brutale Behandlung und den Verlust vieler Kameraden, die an Krankheit, Entkräftung oder Hoffnungslosigkeit starben, vor allem in den ersten Nachkriegsjahren. Doch ich machte auch Erfahrungen, die man in einer Kriegsgefangenschaft nicht unbedingt erwartet: Freundschaft und Anteilnahme selbst von Bewachern und Angehörigen des Volkes, deren Gefangene wir waren. Und ich erlebte die erste Liebe meines Lebens zu einem Moskauer Mädchen, etwas jünger als ich. Ihretwegen wäre ich sogar freiwillig in der Sowjetunion geblieben. Meine Kameraden nannten mich damals nur Bubi, weil ich noch sehr kindlich aussah und mich vermutlich auch oft noch sehr unreif verhielt. Heute denke ich keineswegs mit Verbitterung an die Gefangenschaft, sondern habe sehr lebhafte Erinnerungen an eine Zeit, die mich geprägt hat und immer noch sehr beschäftigt. Verbitterung empfinde ich nur über jene, die diesen Krieg begannen und Millionen Unschuldige darunter Jugendliche wie uns als williges Kanonenfutter verheizten.
In einem Aufruf der Hamburger Morgenpost wurden anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes Zeitzeugen gesucht, die mit dem 8. Mai 1945 ganz persönliche und außergewöhnliche Erlebnisse verbanden. Ich meldete mich, ein Artikel über meine Odyssee erschien in dem Blatt. Jahre später schickte ich nochmals meine Erlebnisse an das Blatt, sehr viel detaillierter. Eher zufällig las der Politikredakteur Harald Stutte meine zu Papier gebrachten Erlebnisse und ermunterte mich, sie zu einem Buch auszubauen. Zwei Jahre brauchten wir, bis wir meine losen Erinnerungen zu dem vorliegenden Buch verdichtet hatten. Nicht die oft beschriebene Geschichte einer Niederlage, die eigentlich eine Befreiung war, sollte im Mittelpunkt stehen. Sondern das Schicksal von Jugendlichen und Kindern, deren Naivität und deren Enthusiasmus von den Nazis missbraucht wurden. Und die letztlich ebenfalls zu denen zählen, die für die Verbrechen, die im Namen des deutschen Volkes begangen wurden, die Zeche zahlen mussten. Der Missbrauch junger Menschen als willige Vollstrecker des Krieges ist also kein neues Phänomen. Nur die Dimensionen haben sich geändert. Hunderttausende Kindersoldaten UNICEF , Terre des Hommes und Amnesty International bezeichnen damit «alle Kämpfer und deren Helfer, die unter 18 Jahre alt sind» werden heute in Kriegen in Zentral- oder Westafrika verheizt. Auch wenn die Situation mit der unsrigen damals nicht vergleichbar ist, so ist uns allen gemein, dass wir um unsere Kindheit, die wichtigste und prägendste Zeit des Lebens, betrogen wurden. 1. im krieg
Eine Familie im Krieg
Ich stamme aus einer sozialistisch geprägten Familie. Schon mein Großvater, der Schneidermeister Adolf Schill, war in der sozialistischen Arbeiterbewegung Hamburgs engagiert und genoss sogar eine gewisse regionale Prominenz. Er war ein Veteran der USPD , einer Linkspartei, die sich noch während des Ersten Weltkrieges von der SPD abgespalten hatte. Ein Großteil der USPD war dann 1919 in der neugegründeten Kommunistischen Partei aufgegangen. Adolf Schill hatte die SPD Legende August Bebel noch persönlich gekannt. Er war stolz darauf, Bausteine für den Bau des Gewerkschaftshauses der «Waffenschmiede des Proletariats», wie er es nannte gespendet zu haben. Mich nervten diese proletarischen Heldenlegenden zwar, denn ich war in meiner Jugend ein stolzer Hitlerjunge und Gefolgsmann Hitlers. Aber «verpfiffen» hätte ich meinen Opa nie, obwohl so etwas in anderen Familien durchaus vorkam. Mein Vater, der als Soldat im Krieg war, stand politisch sogar noch weiter links. Er war einst Mitglied im Rotfrontkämpferbund (RFB ), dem paramilitärischen Arm der Kommunisten, ebenso mein Stiefvater, der neue Mann meiner Mutter. Meine Eltern hatten sich scheiden lassen, als ich noch ein kleiner Junge war. Mein Vater ebenso wie mein Stiefvater waren bis zu Hitlers Machtergreifung 1933 in der kommunistischen Bewegung Hamburgs aktiv gewesen.
Nach Hitlers Machtergreifung waren ganze Hundertschaften von RFB -Leuten der SA beigetreten. Ich erinnere mich noch, dass uns ein Freund meines Vaters besuchte, in nagelneuer SA Uniform. «Komm doch auch zu uns, Hermann», bat er meinen Vater. «Sieh mal, die schönen braunen neuen Stiefel und die Uniform, alles umsonst. Der Führer will uns auch Arbeit beschaffen.» Mein Vater starrte ihn fassungslos an, Ehrlosigkeit und spontane Gesinnungswechsel waren ihm zuwider. Doch die Nazis machten es den ehemaligen Kommunisten leicht und waren nicht nachtragend, schließlich gab es auch ranghohe Nazis wie Joseph Goebbels, die einst kommunistischen Ideen anhingen. Hart und unnachgiebig bekämpften sie aber jene, die nach 1933 in den Untergrund gingen. Dazu fehlte meinem Vater der Mut, was ich sehr gut verstehen kann, denn die Überlebenschancen als kommunistischer Widerstandskämpfer waren gering. Er fügte sich still und wurde später zur Wehrmacht eingezogen. Seine innere Überzeugung jedoch gab er nicht auf.
Wir Kinder sahen in den erst allmählich einsetzenden Luftangriffen zu Beginn des Krieges noch eine Art Abenteuer, sie hatten für uns ein unterhaltsames Moment. Etwas weit hergeholt vergleichbar mit Fernsehen oder den heute so populären Computerspielen. Auch wenn es heute unglaublich klingt, empfanden wir das so, denn die Gefahr dieser Angriffe war uns anfangs noch nicht bewusst. In klaren Nächten standen wir draußen und sahen die Scheinwerferbündel unserer Flugabwehr am Himmel, auf der Suche nach englischen Fliegern, die sie mitunter erfassten. Hatten die hellen Leuchtbalken erst mal einen feindlichen Flieger fixiert, gab es für ihn in den meisten Fällen kein Entrinnen mehr, trotz all der fliegerischen Kapriolen, zu denen er ansetzte. Gebannt blickten wir zum Himmel, beobachteten das Duell und sahen, wie die kleinen Explosionswölkchen der Flakgeschosse die Flugbahn des Bombers säumten. Alle deutschen Städte waren eingebettet in einen Ring aus Flakstellungen, in denen ab 1943 Jugendliche, die sogenannten Flakhelfer, die Geschütze bedienten. Wurde der Flieger von einem Geschoss getroffen, freuten sich meine Freunde stets, jubelten, wie man sich heute während einer Fußball-Live-Übertragung über ein Tor seines Lieblingsvereins freut. So richtig begeistert war ich von dieser Jagd da am Himmel nie. Eigentlich freute ich mich nur, wenn ich am Himmel kleine Fallschirme sah. Hitlerjunge hin oder her ich hatte Mitleid mit den abgeschossenen Piloten und gönnte ihnen die Rettung; zeigen und mitteilen mochte ich das aber meinen Freunden nicht.
Am folgenden Tag gingen wir Kinder dann die Straßen entlang und suchten Granatsplitter von den Geschossen der Fliegerabwehrkanonen. Wir tauschten sie untereinander. Wenn einer der Splitter noch ein Stück des Führungsringes aufwies, war es so wertvoll wie fünf andere Stücke. Am begehrtesten waren Bombensplitter aus Leichtmetall, dafür gab es unter uns Jungens zehn andere. In der ersten Zeit waren Leichtmetallsplitter für uns sogar so wertvoll wie eine seltene Briefmarke. Doch das Angebot an Fundstücken wurde im Verlauf des Krieges immer größer, der Umtauschkurs sank, Folge des forcierten Bombenkrieges der Alliierten gegen das Reich, das die Lufthoheit verlor und den Himmel über den Städten nicht mehr wirksam zu schützen vermochte. Immer mehr Bomben fielen und begruben so manchen der kleinen Sammler unter sich.
In den ersten Kriegstagen wurde in den Städten noch strikt auf Einhaltung der Verdunkelung geachtet. Fenster, Auto- und sogar Fahrradscheinwerfer mussten mit blauem Verdunkelungspapier beklebt werden. Nur kleine Lichtstreifen blieben ausgespart. Blockwarte liefen nachts durch die Straßen, «Licht aus!» riefen sie, falls jemand das Verdunkelungsgebot missachtete. Die Menschen trugen kleine, phosphoreszierende Abzeichen, in Hamburg waren das oft kleine Möwen. Daran sollte erkannt werden, dass jemand entgegenkam. In den Kinos und im Radio wurde gemahnt: «Denk an die Verdunkelung!» Doch all diese Vorsichtsmaßnahmen ließen später nach, denn die Alliierten bombardierten die deutschen Städte, ob sie nun dunkel waren oder nicht.
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Autoren-Porträt von Günter Lucks
Günter Lucks, Jahrgang 1928, war nach der Ausbildung bis 1955 bei der Post tätig. Danach arbeitete er im graphischen Gewerbe, ab 1962 bis zur Rente im Axel Springer Verlag. Dort war er lange Jahre Betriebsrat. Eine Einladung der Bundeswehr in Gründung, ihr als Offizier beizutreten, hatte er abgelehnt. Er lebte in Hamburg, wo er im Dezember 2022 starb. Harald Stutte, Jahrgang 1964, studierte Politikwissenschaft und Geschichte. Er arbeitet als Redakteur im Medienverlag RedaktionsNetzwerk Deutschland. Texte von ihm sind in diversen überregionalen Zeitungen wie der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", der "Süddeutschen Zeitung" oder der "Welt am Sonntag" erschienen. Geboren in Leipzig, lebt er seit 1985 in Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Günter Lucks
- 2012, 7. Aufl., 304 Seiten, 14 Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit Abbildungen, Maße: 12,4 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 349962589X
- ISBN-13: 9783499625893
- Erscheinungsdatum: 23.03.2010
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