Saphirblau / Liebe geht durch alle Zeiten Bd.2
Saphirblau
Frisch verliebt in die Vergangenheit reisen? Das geht gar nicht, findet die 16-jährige Zeitreisende Gwendolyn. Schließlich müssen sie und Gideon sich um wichtige Dinge kümmern und sich daher zusammen reißen. Denn sonst wird das nichts mit der Liebe zwischen allen Zeiten.
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Produktinformationen zu „Saphirblau / Liebe geht durch alle Zeiten Bd.2 “
Frisch verliebt in die Vergangenheit reisen? Das geht gar nicht, findet die 16-jährige Zeitreisende Gwendolyn. Schließlich müssen sie und Gideon sich um wichtige Dinge kümmern und sich daher zusammen reißen. Denn sonst wird das nichts mit der Liebe zwischen allen Zeiten.
Klappentext zu „Saphirblau / Liebe geht durch alle Zeiten Bd.2 “
Gideon und Gwendoyn sind bis über beide Ohren verliebt. Doch Liebe unter Zeitreisende birgt ungeahnte Tücken. Gut, dass Gwendolyn jede Menge Ratgeber an ihrer Seite weiß, sei es nun ihre beste Freundin Leslie oder Geisterfreund James. Nur Ximerius, ein leicht anhänglicher Wasserspeier, sorgt eher für Turbulenzen, als dass er hilft. Und als Gideon und Gwendolyn ein weiteres Mal in die Fänge des Grafen von St. Germain geraten, wird ihre Liebe auf eine harte Probe gestellt.
Lese-Probe zu „Saphirblau / Liebe geht durch alle Zeiten Bd.2 “
Saphirblau – Liebe geht durch alle Zeiten von Kerstin Gier1.
Herrschaften, das ist eine Kirche! Hier küsst man sich nicht!«
Erschrocken riss ich meine Augen auf und fuhr hastig zurück, in Erwartung, einen altmodischen Pfarrer mit wehender Soutane und empörter Miene auf mich zueilen zu sehen, bereit, eine Strafpredigt auf uns niederdonnern zu lassen. Aber es war nicht der Pfarrer, der unseren Kuss gestört hatte. Es war überhaupt kein Mensch. Es war ein kleiner Wasserspeier, der auf der Kirchenbank direkt neben dem Beichtstuhl hockte und mich genauso verblüfft anschaute wie ich ihn.
Wobei das eigentlich schwer möglich war. Denn meinen Zustand konnte man im Grund genommen nicht mehr mit Verblüffung umschreiben. Um ehrlich zu sein, hatte ich eher so etwas wie gewaltige denktechnische Aussetzer. Angefangen hatte alles mit diesem Kuss. Gideon de Villiers hatte mich Gwendolyn Shepherd geküsst. Natürlich hätte ich mich fragen müssen, warum er so plötzlich auf die Idee gekommen war in einem Beichtstuhl in einer Kirche irgendwo in Belgravia im Jahr 1912 kurz nachdem wir eine atemberaubende Flucht mit allen Schikanen hingelegt hatten, bei der nicht nur mein knöchellanges, enges Kleid mit dem lächerlichen Matrosenkragen hinderlich gewesen war.
Ich hätte analytische Vergleiche anstellen können zu den Küssen, die ich von anderen Jungs bekommen hatte, und woran es lag, dass Gideon so viel besser küssen konnte.
Mir hätte auch zu denken geben können, dass eine Wand mit einem Beichtstuhlfenster zwischen uns war, durch das Gideon seinen Kopf und seine Arme gezwängt hatte, und dass das keine idealen Bedingungen für einen Kuss waren, mal ganz abgesehen von dem Fakt, dass ich nicht noch mehr Chaos in meinem Leben brauchen konnte, nachdem ich gerade erst vor drei Tagen erfahren hatte, dass ich
... mehr
das ZeitreiseGen von meiner Familie geerbt hatte. Tatsache allerdings war, dass ich überhaupt nichts dachte, außer vielleicht Oh und Hmmmm und Mehr!
Deswegen bekam ich auch das Ziehen im Bauch nicht richtig mit, und erst jetzt, als dieser kleine Wasserspeier nun seine Arme verschränkte und mich von seiner Kirchenbank anfunkelte, erst, als mein Blick auf den kackbraunen Vorhang des Beichtstuhls fiel, der eben noch samtgrün gewesen war, schwante mir, dass wir in der Zwischenzeit zurück in die Gegenwart gesprungen waren.
»Mist!« Gideon zog sich auf seine Seite vom Beichtstuhl zurück und rieb sich den Hinterkopf. Mist? Ich plumpste unsanft von meiner Wolke sieben und vergaß den Wasserspeier.
»So schlecht fand ich es nun auch wieder nicht«, sagte ich, um einen möglichst lässigen Tonfall bemüht. Leider war ich etwas außer Atem, was den Gesamteindruck schmälerte.
Ich konnte Gideon nicht in die Augen sehen, stattdessen starrte ich noch immer auf den braunen Polyestervorhang des Beichtstuhls.
Gott! Ich war beinahe hundert Jahre durch die Zeit gereist, ohne etwas zu merken, weil dieser Kuss mich so vollkommen und ganz und gar . . . überrascht hatte. Ich meine, in der einen Minute meckert der Typ an einem herum, in der nächsten befindet man sich mitten in einer Verfolgungsjagd und muss sich vor Männern mit Pistolen in Sicherheit bringen, und plötzlich wie aus dem Nichts behauptet er, man sei etwas ganz Besonderes, und küsst einen. Und wie Gideon küsste!
Ich wurde sofort eifersüchtig auf alle Mädchen, bei denen er das gelernt hatte.
»Niemand zu sehen.« Gideon lugte aus dem Beichtstuhl und trat dann hinaus in die Kirche.
»Gut. Wir nehmen den Bus zurück nach Temple. Komm, sie werden uns schon erwarten.«
Ich starrte ihn fassungslos durch den Vorhang an. Hieß das etwa jetzt, dass er wieder zur Tagesordnung übergehen wollte? Nach einem Kuss (am besten eigentlich vorher, aber dazu war es ja nun zu spät) sollte man vielleicht doch ein paar grundsätzliche Dinge klären, oder? War der Kuss eine Art Liebeserklärung gewesen? Waren Gideon und ich jetzt vielleicht sogar zusammen? Oder hatten wir nur ein bisschen rumgeknutscht, weil wir gerade nichts Besseres zu tun gehabt hatten?
»In diesem Kleid fahre ich nicht mit dem Bus«, sagte ich kategorisch, während ich so würdevoll wie möglich aufstand. Lieber hätte ich mir die Zunge abgebissen, als eine der Fragen zu stellen, die mir eben durch den Kopf geschossen waren. Mein Kleid war weiß mit himmelblauen Satinschleifen in der Taille und am Kragen, vermutlich der letzte Schrei im Jahr 1912, aber nicht wirklich geeignet für öffentliche Verkehrsmittel im einundzwanzigsten Jahrhundert.
»Wir nehmen ein Taxi.« Gideon drehte sich zu mir um, doch er widersprach mir nicht. In seinem Gehrock und der Bügelfaltenhose schien er sich wohl auch nicht unbedingt busfein zu fühlen. Dabei sah er darin wirklich gut aus, zumal seine Haare nicht mehr so geschniegelt hinter die Ohren gebürstet waren wie noch vor zwei Stunden, sondern in zerzausten Locken in seine Stirn fielen.
Ich trat zu ihm hinaus ins Kirchenschiff und fröstelte. Es war saukalt hier drinnen. Oder lag das vielleicht daran, dass ich in den letzten drei Tagen so gut wie gar nicht zum Schlafen gekommen war? Oder an dem, was eben passiert war?
Vermutlich hatte mein Körper in der letzten Zeit mehr Adrenalin ausgeschüttet als in den ganzen sechzehn Jahren vorher. Es war so viel passiert und ich hatte so wenig Zeit gehabt, darüber nachzudenken, dass mein Kopf vor lauter Informationen und Gefühlen geradezu zu platzen schien. Wäre ich eine Figur in einem Comic, hätte eine Denkblase mit einem riesengroßen Fragezeichen darin über mir geschwebt. Und vielleicht ein paar Totenköpfen. Ich gab mir einen kleinen Ruck. Wenn Gideon zur Tagesordnung übergehen wollte bitte, das konnte ich auch.
»Okay, dann nichts wie raus hier«, sagte ich patzig.
»Mir ist kalt.« Ich wollte mich an ihm vorbeidrängen, doch er hielt mich am Arm fest.
»Hör mal, wegen eben . . .« Er brach ab, wohl in der Hoffnung, dass ich ihm ins Wort fiel. Was ich natürlich nicht tat. Ich wollte nur zu gern wissen, was er zu sagen hatte. Außerdem fiel mir das Atmen schwer, so nah wie er bei mir stand.
»Diesen Kuss . . . Das habe ich . . .« Wieder nur ein halber Satz. Aber ich vollendete ihn in Gedanken sofort. Das habe ich nicht so gemeint.
Oh, schon klar, aber dann hätte er es auch nicht tun sollen, oder? Das war so, wie einen Vorhang anzünden und sich hinterher wundern, wenn das ganze Haus brennt. (Okay, blöder Vergleich.) Ich wollte es ihm kein bisschen leichter machen und sah ihn kühl und abwartend an.
Das heißt, ich versuchte, ihn kühl und abwartend anzusehen, aber in Wirklichkeit hatte ich vermutlich so einen Ich bin das kleine Bambi, bitte erschieß mich nicht-Blick aufgesetzt, ich konnte gar nichts dagegen machen. Fehlte nur noch, dass meine Unterlippe zu beben anfing. Das habe ich nicht so gemeint. Komm schon, sag es! Aber Gideon sagte gar nichts.
Er zupfte eine Haarnadel aus meinen wirren Haaren (vermutlich sah meine komplizierte Schneckenfrisur mittlerweile aus, als ob ein Vogelpärchen darin genistet hatte), nahm eine Strähne in die Hand und wickelte sie sich um seinen Finger. Mit der anderen Hand begann er, mein Gesicht zu streicheln, und dann beugte er sich zu mir hinunter und küsste mich noch einmal, diesmal ganz vorsichtig.
Ich schloss die Augen und schon passierte dasselbe wie zuvor: Mein Gehirn hatte wieder diese wohltuende Sendepause. (Es funkte nichts als Oh, Hmmm und Mehr.) Allerdings nur etwa zehn Sekunden lang, dann nämlich sagte eine Stimme direkt neben uns genervt: »Geht das etwa schon wieder los?« Erschrocken gab ich Gideon einen kleinen Schubs vor die Brust und starrte direkt in die Fratze des kleinen Wasserspeiers, der mittlerweile kopfüber von der Empore herabbaumelte, unter der wir standen. Genauer gesagt, war es der Geist eines Wasserspeiers.
Gideon hatte meine Haare losgelassen und eine neutrale Miene aufgesetzt. Oh Gott! Was musste er denn jetzt von mir denken? In seinen grünen Augen war nichts zu erkennen, allenfalls leichtes Befremden.
»Ich . . . ich dachte, ich hätte etwas gehört«, murmelte ich.
»Okay«, sagte er etwas gedehnt, aber durchaus freundlich.
»Du hast mich gehört«, sagte der Wasserspeier. »Du hast mich gehört!«
Er war in etwa so groß wie eine Katze, sein Gesicht ähnelte ebenfalls dem einer Katze, allerdings hatte er zusätzlich zu seinen spitzen, großen Luchsohren auch noch zwei rundliche Hörner dazwischen, außerdem Flügelchen auf dem Rücken und einen langen, geschuppten Eidechsenschwanz, der in einem Dreieck mündete und aufgeregt hin und her peitschte.
»Und du kannst mich auch sehen!« Ich gab keine Antwort.
»Wir gehen dann besser mal«, sagte Gideon.
»Du kannst mich sehen und hören!«, rief der kleine Wasserspeier begeistert, ließ sich von der Empore auf eine der Kirchenbänke fallen und hüpfte dort auf und nieder. Er hatte eine Stimme wie ein verschnupftes, heiseres Kind.
»Ich hab's genau gemerkt!« Jetzt bloß keinen Fehler machen, sonst wurde ich ihn nie wieder los. Ich ließ meinen Blick betont gleichgültig über die Bänke gleiten, während ich zur Kirchentür ging. Gideon hielt mir die Tür auf.
»Danke, sehr freundlich!«, sagte der Wasserspeier und schlüpfte ebenfalls hinaus. Draußen auf dem Bürgersteig blinzelte ich ins Licht. Es war bewölkt und die Sonne daher nicht zu sehen, aber meiner Schätzung nach musste es früher Abend sein.
»Warte doch mal!«, rief der Wasserspeier und zupfte mich am Rock.
»Wir sollten uns dringend unterhalten! Hey, du trampelst mir auf die Füße . . . Tu nicht so, als ob du mich nicht sehen könntest. Ich weiß, dass du es kannst.«
Aus seinem Mund kam ein Schluck Wasser geschossen und bildete eine winzige Pfütze an meinem Knopfstiefelchen.
»Ups. 'tschuldigung. Passiert nur, wenn ich aufgeregt bin.« Ich sah an der Fassade der Kirche hinauf. Sie war vermutlich viktorianischen Baustils, mit bunten Glasfenstern und zwei hübschen verspielten Türmen. Backsteine wechselten sich mit cremeweißem Putz ab und bildeten ein fröhliches Streifenmuster.
Aber so hoch ich auch schaute, am ganzen Bauwerk war keine einzige Figur oder gar ein Wasserspeier zu entdecken. Seltsam, dass der Geist hier trotzdem herumlungerte.
»Hier bin ich!«, rief der Wasserspeier und krallte sich direkt vor meiner Nase ans Mauerwerk. Er konnte klettern wie eine Eidechse, das können sie alle. Ich starrte eine Sekunde auf den Ziegel neben seinem Kopf und wandte mich ab. Der Wasserspeier war nun nicht mehr so sicher, dass ich ihn wirklich sehen konnte.
»Ach bitte«, sagte er. »Es wäre so schön, mal mit jemand anderem zu reden als mit dem Geist von Sir Arthur Conan Doyle.« Nicht unraffiniert, das Kerlchen. Aber ich fiel nicht darauf rein. Er tat mir zwar leid, aber ich wusste, wie lästig die kleinen Biester werden konnten, außerdem hatte er mich beim Küssen gestört und seinetwegen hielt Gideon mich jetzt wahrscheinlich für eine launische Kuh.
»Bitte, bitte, biiiiiiiitte!«, sagte der Wasserspeier. Ich ignorierte ihn weiterhin nach Kräften. Meine Güte, ich hatte weiß Gott genug andere Probleme am Hals.
Gideon war an den Fahrbahnrand getreten und winkte ein Taxi heran. Natürlich kam auch sofort ein freies. Manche Leute haben bei so was immer Glück. Oder so etwas wie natürliche Autorität.
Meine Großmutter Lady Arista, zum Beispiel. Sie muss nur am Straßenrand stehen bleiben und streng gucken, schon machen die Taxifahrer eine Vollbremsung.
»Kommst du, Gwendolyn?«
»Du kannst doch jetzt nicht einfach abhauen!« Die heisere Kinderstimme klang weinerlich, herzzerreißend. »Wo wir uns gerade erst gefunden haben.«
Wären wir allein gewesen, hätte ich mich vermutlich dazu hinreißen lassen, mit ihm zu sprechen. Trotz der spitzen Eckzähne und der Klauenfüße war er irgendwie niedlich und wahrscheinlich hatte er nicht viel Gesellschaft. (Der Geist von Sir Arthur Conan Doyle hatte mit Sicherheit Besseres zu tun. Was hatte der überhaupt in London zu suchen?)
Aber wenn man in Gegenwart von anderen Menschen mit Geistwesen kommuniziert, halten sie einen wenn man Glück hat für einen Lügner und Schauspieler oder aber in den meisten Fällen für verrückt. Ich wollte nicht riskieren, dass Gideon mich für verrückt hielt. Außerdem hatte der letzte Wasserspeierdämon, mit dem ich gesprochen hatte, so viel Anhänglichkeit entwickelt, dass ich kaum allein aufs Klo hatte gehen können. Also nahm ich mit steinerner Miene im Taxi Platz und guckte beim Anfahren starr geradeaus. Gideon neben mir sah aus dem Fenster.
Der Taxifahrer musterte unsere Kostüme im Rückspiegel mit hochgezogenen Augenbrauen, sagte aber nichts. Das musste man ihm hoch anrechnen.
»Es ist gleich halb sieben«, sagte Gideon zu mir, offensichtlich um neutrale Konversation bemüht. »Kein Wunder, dass ich vor Hunger sterbe.« Jetzt wo er es aussprach, merkte ich, dass es mir ganz ähnlich ging. Meinen Frühstückstoast hatte ich wegen der miesen Stimmung am Familienfrühstückstisch nicht mal halb heruntergewürgt und das Schulessen war wie immer ungenießbar gewesen.
Mit einer gewissen Sehnsucht dachte ich an die appetitlich hergerichteten Sandwichs und Scones auf Lady Tilneys Teetafel, die uns leider entgangen waren. Lady Tilney!
Jetzt erst fiel mir ein, dass Gideon und ich uns besser absprechen sollten, was unser Abenteuer im Jahr 1912 anging. Schließlich war die Sache mehr als aus dem Ruder gelaufen und ich hatte keine Ahnung, was die Wächter, die in Sachen Zeitreisemission so gar keinen Spaß verstanden, davon halten würde.
Gideon und ich waren mit dem Auftrag in die Zeit gereist, Lady Tilney in den Chronografen einzulesen (die Gründe dafür hatte ich, ganz nebenbei bemerkt, noch immer nicht ganz kapiert, aber das Ganze schien ungeheuer wichtig zu sein; soweit ich wusste, ging es um die Rettung der Welt, mindestens). Bevor wir das allerdings erledigen konnten, kamen meine Cousine Lucy und Paul ins Spiel ihres Zeichens die Bösewichte der ganzen Geschichte. Davon war zumindest Gideons Familie überzeugt und er mit ihnen.
Lucy und Paul hatten angeblich den zweiten Chronografen gestohlen und sich damit in der Zeit versteckt. Seit Jahren hatte niemand von ihnen gehört bis sie bei Lady Tilney auftauchten und unsere kleine Teegesellschaft ziemlich durcheinanderwirbelten.
Wann allerdings genau die Pistolen ins Spiel gekommen waren, das hatte ich vor lauter Schreck verdrängt, aber irgendwann hatte Gideon eine Waffe an Lucys Kopf gehalten, eine Pistole, die er genau genommen gar nicht hätte mitnehmen dürfen. (Wie ich nicht mein Handy, aber mit einem Handy konnte man wenigstens niemanden erschießen!) Daraufhin waren wir in die Kirche geflüchtet. Aber die ganze Zeit war ich das Gefühl nicht losgeworden, dass die Sache mit Lucy und Paul nicht ganz so schwarz-weiß war, wie die de Villiers es gerne behaupteten.
»Was sagen wir denn nun wegen Lady Tilney?«, fragte ich.
»Na ja.« Gideon rieb sich müde über die Stirn.
»Nicht, dass wir lügen sollten, aber vielleicht wäre es in diesem Fall klüger, die eine oder andere Sache wegzulassen. Am besten, du überlässt das Reden komplett mir.«
Da war er wieder, der altvertraute Kommandoton.
»Ja, klar«, sagte ich. »Ich werde nicken und die Klappe halten, wie sich das für ein Mädchen gehört.« Unwillkürlich verschränkte ich die Arme vor der Brust. Warum konnte sich Gideon nicht einmal normal benehmen?
Erst küsste er mich (und zwar nicht nur einmal!), um gleich darauf wieder einen auf Großmeister der Wächter-Loge zu machen?
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Deswegen bekam ich auch das Ziehen im Bauch nicht richtig mit, und erst jetzt, als dieser kleine Wasserspeier nun seine Arme verschränkte und mich von seiner Kirchenbank anfunkelte, erst, als mein Blick auf den kackbraunen Vorhang des Beichtstuhls fiel, der eben noch samtgrün gewesen war, schwante mir, dass wir in der Zwischenzeit zurück in die Gegenwart gesprungen waren.
»Mist!« Gideon zog sich auf seine Seite vom Beichtstuhl zurück und rieb sich den Hinterkopf. Mist? Ich plumpste unsanft von meiner Wolke sieben und vergaß den Wasserspeier.
»So schlecht fand ich es nun auch wieder nicht«, sagte ich, um einen möglichst lässigen Tonfall bemüht. Leider war ich etwas außer Atem, was den Gesamteindruck schmälerte.
Ich konnte Gideon nicht in die Augen sehen, stattdessen starrte ich noch immer auf den braunen Polyestervorhang des Beichtstuhls.
Gott! Ich war beinahe hundert Jahre durch die Zeit gereist, ohne etwas zu merken, weil dieser Kuss mich so vollkommen und ganz und gar . . . überrascht hatte. Ich meine, in der einen Minute meckert der Typ an einem herum, in der nächsten befindet man sich mitten in einer Verfolgungsjagd und muss sich vor Männern mit Pistolen in Sicherheit bringen, und plötzlich wie aus dem Nichts behauptet er, man sei etwas ganz Besonderes, und küsst einen. Und wie Gideon küsste!
Ich wurde sofort eifersüchtig auf alle Mädchen, bei denen er das gelernt hatte.
»Niemand zu sehen.« Gideon lugte aus dem Beichtstuhl und trat dann hinaus in die Kirche.
»Gut. Wir nehmen den Bus zurück nach Temple. Komm, sie werden uns schon erwarten.«
Ich starrte ihn fassungslos durch den Vorhang an. Hieß das etwa jetzt, dass er wieder zur Tagesordnung übergehen wollte? Nach einem Kuss (am besten eigentlich vorher, aber dazu war es ja nun zu spät) sollte man vielleicht doch ein paar grundsätzliche Dinge klären, oder? War der Kuss eine Art Liebeserklärung gewesen? Waren Gideon und ich jetzt vielleicht sogar zusammen? Oder hatten wir nur ein bisschen rumgeknutscht, weil wir gerade nichts Besseres zu tun gehabt hatten?
»In diesem Kleid fahre ich nicht mit dem Bus«, sagte ich kategorisch, während ich so würdevoll wie möglich aufstand. Lieber hätte ich mir die Zunge abgebissen, als eine der Fragen zu stellen, die mir eben durch den Kopf geschossen waren. Mein Kleid war weiß mit himmelblauen Satinschleifen in der Taille und am Kragen, vermutlich der letzte Schrei im Jahr 1912, aber nicht wirklich geeignet für öffentliche Verkehrsmittel im einundzwanzigsten Jahrhundert.
»Wir nehmen ein Taxi.« Gideon drehte sich zu mir um, doch er widersprach mir nicht. In seinem Gehrock und der Bügelfaltenhose schien er sich wohl auch nicht unbedingt busfein zu fühlen. Dabei sah er darin wirklich gut aus, zumal seine Haare nicht mehr so geschniegelt hinter die Ohren gebürstet waren wie noch vor zwei Stunden, sondern in zerzausten Locken in seine Stirn fielen.
Ich trat zu ihm hinaus ins Kirchenschiff und fröstelte. Es war saukalt hier drinnen. Oder lag das vielleicht daran, dass ich in den letzten drei Tagen so gut wie gar nicht zum Schlafen gekommen war? Oder an dem, was eben passiert war?
Vermutlich hatte mein Körper in der letzten Zeit mehr Adrenalin ausgeschüttet als in den ganzen sechzehn Jahren vorher. Es war so viel passiert und ich hatte so wenig Zeit gehabt, darüber nachzudenken, dass mein Kopf vor lauter Informationen und Gefühlen geradezu zu platzen schien. Wäre ich eine Figur in einem Comic, hätte eine Denkblase mit einem riesengroßen Fragezeichen darin über mir geschwebt. Und vielleicht ein paar Totenköpfen. Ich gab mir einen kleinen Ruck. Wenn Gideon zur Tagesordnung übergehen wollte bitte, das konnte ich auch.
»Okay, dann nichts wie raus hier«, sagte ich patzig.
»Mir ist kalt.« Ich wollte mich an ihm vorbeidrängen, doch er hielt mich am Arm fest.
»Hör mal, wegen eben . . .« Er brach ab, wohl in der Hoffnung, dass ich ihm ins Wort fiel. Was ich natürlich nicht tat. Ich wollte nur zu gern wissen, was er zu sagen hatte. Außerdem fiel mir das Atmen schwer, so nah wie er bei mir stand.
»Diesen Kuss . . . Das habe ich . . .« Wieder nur ein halber Satz. Aber ich vollendete ihn in Gedanken sofort. Das habe ich nicht so gemeint.
Oh, schon klar, aber dann hätte er es auch nicht tun sollen, oder? Das war so, wie einen Vorhang anzünden und sich hinterher wundern, wenn das ganze Haus brennt. (Okay, blöder Vergleich.) Ich wollte es ihm kein bisschen leichter machen und sah ihn kühl und abwartend an.
Das heißt, ich versuchte, ihn kühl und abwartend anzusehen, aber in Wirklichkeit hatte ich vermutlich so einen Ich bin das kleine Bambi, bitte erschieß mich nicht-Blick aufgesetzt, ich konnte gar nichts dagegen machen. Fehlte nur noch, dass meine Unterlippe zu beben anfing. Das habe ich nicht so gemeint. Komm schon, sag es! Aber Gideon sagte gar nichts.
Er zupfte eine Haarnadel aus meinen wirren Haaren (vermutlich sah meine komplizierte Schneckenfrisur mittlerweile aus, als ob ein Vogelpärchen darin genistet hatte), nahm eine Strähne in die Hand und wickelte sie sich um seinen Finger. Mit der anderen Hand begann er, mein Gesicht zu streicheln, und dann beugte er sich zu mir hinunter und küsste mich noch einmal, diesmal ganz vorsichtig.
Ich schloss die Augen und schon passierte dasselbe wie zuvor: Mein Gehirn hatte wieder diese wohltuende Sendepause. (Es funkte nichts als Oh, Hmmm und Mehr.) Allerdings nur etwa zehn Sekunden lang, dann nämlich sagte eine Stimme direkt neben uns genervt: »Geht das etwa schon wieder los?« Erschrocken gab ich Gideon einen kleinen Schubs vor die Brust und starrte direkt in die Fratze des kleinen Wasserspeiers, der mittlerweile kopfüber von der Empore herabbaumelte, unter der wir standen. Genauer gesagt, war es der Geist eines Wasserspeiers.
Gideon hatte meine Haare losgelassen und eine neutrale Miene aufgesetzt. Oh Gott! Was musste er denn jetzt von mir denken? In seinen grünen Augen war nichts zu erkennen, allenfalls leichtes Befremden.
»Ich . . . ich dachte, ich hätte etwas gehört«, murmelte ich.
»Okay«, sagte er etwas gedehnt, aber durchaus freundlich.
»Du hast mich gehört«, sagte der Wasserspeier. »Du hast mich gehört!«
Er war in etwa so groß wie eine Katze, sein Gesicht ähnelte ebenfalls dem einer Katze, allerdings hatte er zusätzlich zu seinen spitzen, großen Luchsohren auch noch zwei rundliche Hörner dazwischen, außerdem Flügelchen auf dem Rücken und einen langen, geschuppten Eidechsenschwanz, der in einem Dreieck mündete und aufgeregt hin und her peitschte.
»Und du kannst mich auch sehen!« Ich gab keine Antwort.
»Wir gehen dann besser mal«, sagte Gideon.
»Du kannst mich sehen und hören!«, rief der kleine Wasserspeier begeistert, ließ sich von der Empore auf eine der Kirchenbänke fallen und hüpfte dort auf und nieder. Er hatte eine Stimme wie ein verschnupftes, heiseres Kind.
»Ich hab's genau gemerkt!« Jetzt bloß keinen Fehler machen, sonst wurde ich ihn nie wieder los. Ich ließ meinen Blick betont gleichgültig über die Bänke gleiten, während ich zur Kirchentür ging. Gideon hielt mir die Tür auf.
»Danke, sehr freundlich!«, sagte der Wasserspeier und schlüpfte ebenfalls hinaus. Draußen auf dem Bürgersteig blinzelte ich ins Licht. Es war bewölkt und die Sonne daher nicht zu sehen, aber meiner Schätzung nach musste es früher Abend sein.
»Warte doch mal!«, rief der Wasserspeier und zupfte mich am Rock.
»Wir sollten uns dringend unterhalten! Hey, du trampelst mir auf die Füße . . . Tu nicht so, als ob du mich nicht sehen könntest. Ich weiß, dass du es kannst.«
Aus seinem Mund kam ein Schluck Wasser geschossen und bildete eine winzige Pfütze an meinem Knopfstiefelchen.
»Ups. 'tschuldigung. Passiert nur, wenn ich aufgeregt bin.« Ich sah an der Fassade der Kirche hinauf. Sie war vermutlich viktorianischen Baustils, mit bunten Glasfenstern und zwei hübschen verspielten Türmen. Backsteine wechselten sich mit cremeweißem Putz ab und bildeten ein fröhliches Streifenmuster.
Aber so hoch ich auch schaute, am ganzen Bauwerk war keine einzige Figur oder gar ein Wasserspeier zu entdecken. Seltsam, dass der Geist hier trotzdem herumlungerte.
»Hier bin ich!«, rief der Wasserspeier und krallte sich direkt vor meiner Nase ans Mauerwerk. Er konnte klettern wie eine Eidechse, das können sie alle. Ich starrte eine Sekunde auf den Ziegel neben seinem Kopf und wandte mich ab. Der Wasserspeier war nun nicht mehr so sicher, dass ich ihn wirklich sehen konnte.
»Ach bitte«, sagte er. »Es wäre so schön, mal mit jemand anderem zu reden als mit dem Geist von Sir Arthur Conan Doyle.« Nicht unraffiniert, das Kerlchen. Aber ich fiel nicht darauf rein. Er tat mir zwar leid, aber ich wusste, wie lästig die kleinen Biester werden konnten, außerdem hatte er mich beim Küssen gestört und seinetwegen hielt Gideon mich jetzt wahrscheinlich für eine launische Kuh.
»Bitte, bitte, biiiiiiiitte!«, sagte der Wasserspeier. Ich ignorierte ihn weiterhin nach Kräften. Meine Güte, ich hatte weiß Gott genug andere Probleme am Hals.
Gideon war an den Fahrbahnrand getreten und winkte ein Taxi heran. Natürlich kam auch sofort ein freies. Manche Leute haben bei so was immer Glück. Oder so etwas wie natürliche Autorität.
Meine Großmutter Lady Arista, zum Beispiel. Sie muss nur am Straßenrand stehen bleiben und streng gucken, schon machen die Taxifahrer eine Vollbremsung.
»Kommst du, Gwendolyn?«
»Du kannst doch jetzt nicht einfach abhauen!« Die heisere Kinderstimme klang weinerlich, herzzerreißend. »Wo wir uns gerade erst gefunden haben.«
Wären wir allein gewesen, hätte ich mich vermutlich dazu hinreißen lassen, mit ihm zu sprechen. Trotz der spitzen Eckzähne und der Klauenfüße war er irgendwie niedlich und wahrscheinlich hatte er nicht viel Gesellschaft. (Der Geist von Sir Arthur Conan Doyle hatte mit Sicherheit Besseres zu tun. Was hatte der überhaupt in London zu suchen?)
Aber wenn man in Gegenwart von anderen Menschen mit Geistwesen kommuniziert, halten sie einen wenn man Glück hat für einen Lügner und Schauspieler oder aber in den meisten Fällen für verrückt. Ich wollte nicht riskieren, dass Gideon mich für verrückt hielt. Außerdem hatte der letzte Wasserspeierdämon, mit dem ich gesprochen hatte, so viel Anhänglichkeit entwickelt, dass ich kaum allein aufs Klo hatte gehen können. Also nahm ich mit steinerner Miene im Taxi Platz und guckte beim Anfahren starr geradeaus. Gideon neben mir sah aus dem Fenster.
Der Taxifahrer musterte unsere Kostüme im Rückspiegel mit hochgezogenen Augenbrauen, sagte aber nichts. Das musste man ihm hoch anrechnen.
»Es ist gleich halb sieben«, sagte Gideon zu mir, offensichtlich um neutrale Konversation bemüht. »Kein Wunder, dass ich vor Hunger sterbe.« Jetzt wo er es aussprach, merkte ich, dass es mir ganz ähnlich ging. Meinen Frühstückstoast hatte ich wegen der miesen Stimmung am Familienfrühstückstisch nicht mal halb heruntergewürgt und das Schulessen war wie immer ungenießbar gewesen.
Mit einer gewissen Sehnsucht dachte ich an die appetitlich hergerichteten Sandwichs und Scones auf Lady Tilneys Teetafel, die uns leider entgangen waren. Lady Tilney!
Jetzt erst fiel mir ein, dass Gideon und ich uns besser absprechen sollten, was unser Abenteuer im Jahr 1912 anging. Schließlich war die Sache mehr als aus dem Ruder gelaufen und ich hatte keine Ahnung, was die Wächter, die in Sachen Zeitreisemission so gar keinen Spaß verstanden, davon halten würde.
Gideon und ich waren mit dem Auftrag in die Zeit gereist, Lady Tilney in den Chronografen einzulesen (die Gründe dafür hatte ich, ganz nebenbei bemerkt, noch immer nicht ganz kapiert, aber das Ganze schien ungeheuer wichtig zu sein; soweit ich wusste, ging es um die Rettung der Welt, mindestens). Bevor wir das allerdings erledigen konnten, kamen meine Cousine Lucy und Paul ins Spiel ihres Zeichens die Bösewichte der ganzen Geschichte. Davon war zumindest Gideons Familie überzeugt und er mit ihnen.
Lucy und Paul hatten angeblich den zweiten Chronografen gestohlen und sich damit in der Zeit versteckt. Seit Jahren hatte niemand von ihnen gehört bis sie bei Lady Tilney auftauchten und unsere kleine Teegesellschaft ziemlich durcheinanderwirbelten.
Wann allerdings genau die Pistolen ins Spiel gekommen waren, das hatte ich vor lauter Schreck verdrängt, aber irgendwann hatte Gideon eine Waffe an Lucys Kopf gehalten, eine Pistole, die er genau genommen gar nicht hätte mitnehmen dürfen. (Wie ich nicht mein Handy, aber mit einem Handy konnte man wenigstens niemanden erschießen!) Daraufhin waren wir in die Kirche geflüchtet. Aber die ganze Zeit war ich das Gefühl nicht losgeworden, dass die Sache mit Lucy und Paul nicht ganz so schwarz-weiß war, wie die de Villiers es gerne behaupteten.
»Was sagen wir denn nun wegen Lady Tilney?«, fragte ich.
»Na ja.« Gideon rieb sich müde über die Stirn.
»Nicht, dass wir lügen sollten, aber vielleicht wäre es in diesem Fall klüger, die eine oder andere Sache wegzulassen. Am besten, du überlässt das Reden komplett mir.«
Da war er wieder, der altvertraute Kommandoton.
»Ja, klar«, sagte ich. »Ich werde nicken und die Klappe halten, wie sich das für ein Mädchen gehört.« Unwillkürlich verschränkte ich die Arme vor der Brust. Warum konnte sich Gideon nicht einmal normal benehmen?
Erst küsste er mich (und zwar nicht nur einmal!), um gleich darauf wieder einen auf Großmeister der Wächter-Loge zu machen?
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Autoren-Porträt von Kerstin Gier
Kerstin Gier, geboren 1966, ist seit 1995 als selbstständige Schriftstellerin tätig und hatte schon mit ihren ersten Büchern riesigen Erfolg. Inzwischen hat sie zahlreiche Romane für Erwachsene und Jugendliche geschrieben, die regelmäßig auf den Bestsellerlisten stehen. Die DeLIA-Preisträgerin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Bergisch Gladbach.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kerstin Gier
- Altersempfehlung: Ab 12 Jahre
- 2009, 9. Aufl., 400 Seiten, Maße: 14,8 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: ARENA
- ISBN-10: 3401063472
- ISBN-13: 9783401063478
- Erscheinungsdatum: 29.12.2009
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