Schutzengel
Roman
Paulo will sein Leben verändern. Sein Traum: Er möchte in die Mojavewüste gehen, um seinen Schutzengel zu treffen. Seine Lebensgefährtin Chris begleitet ihn auf seinem Weg zur Selbsterkenntnis. Was die beiden jedoch in der Wüste...
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Produktinformationen zu „Schutzengel “
Paulo will sein Leben verändern. Sein Traum: Er möchte in die Mojavewüste gehen, um seinen Schutzengel zu treffen. Seine Lebensgefährtin Chris begleitet ihn auf seinem Weg zur Selbsterkenntnis. Was die beiden jedoch in der Wüste erleben, wird für zu einer harten Probe.
Den Kampf um eine neue Welt trägt jeder zuerst in sich selbst aus. Bist Du dazu bereit? Nur etwas kann verhindern, dass wir unsere Träume verwirklichen: unsere eigene Angst. 'Schutzengel' - ein modernes spirituelles Abenteuer, in dem ein Mann mit seinen Zweifeln ringt und seine Ängste überwindet.
Lese-Probe zu „Schutzengel “
Schutzengel von Paulo Coelho Aus dem Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann
Sie hörten ein Geräusch in der Ferne. Bald würde der erste Lastwagen des Tages vorbeikommen. Der junge Mann würde sich aus seiner Erstarrung lösen, Eier und Speck vergessen und hinausschauen, versuchen, etwas zu erkennen, weil er sich wünschte, Teil einer Welt zu sein, die sich bewegte, einer Welt, die an der Snack-Bar vorbeirauschte. Er konnte nur aus der Ferne die Welt vorbeirauschen sehen, das war alles. Wahrscheinlich träumte er nicht einmal mehr davon, alles stehen- und liegenzulassen und per Anhalter mit einem dieser Laster wegzufahren. Er war süchtig nach Stille und Leere.
Das Geräusch schwoll an, klang aber nicht so wie der Motor eines Lastwagens. So etwas wie Hoffnung keimte in Paulo auf, nur ein wenig, und er versuchte, ihr keine Beachtung zu schenken.
Das Geräusch wurde zu Lärm. Chris wandte den Kopf, um zu sehen, was draußen los war.
Paulo starrte in seinen Kaffee. Chris sollte seine Anspannung nicht merken.
Der Lärm ließ die Scheiben der Snack-Bar erzittern. Der junge Mann sah ungerührt vor sich hin - er kannte diesen Lärm und mochte ihn nicht.
Aber Chris schaute fasziniert hinaus. Funkeln erfüllte den Horizont, Licht glitzerte auf Metall - und ihr war so, als würde der Lärm das Gras, den Asphalt, die Decke, die Snack-Bar, die Fensterscheiben durchrütteln.
Donnernd galoppierten rund ein Dutzend Pferde auf die Tankstelle zu, und die gerade Straße, die ebene Wüste, das niedrige Gras, der junge Chinese, die beiden Brasilianer, die einen Engel suchten, alle schauten ihnen gebannt entgegen.
... mehr
Die schönen Pferde drehten gefährlich nahe beieinander eine Runde nach der anderen um die Tankstelle herum. Peitschen knallten, behandschuhte Hände führten geschickt die Zügel. Als gälte es, die ganze Wüste zu wecken und mit Lebensfreude anzustecken, stießen die Reiterinnen gellende Schreie aus wie Cowboys, die ihr Vieh vor sich hertrieben. Paulo hatte hochgeblickt und schaute fasziniert zu, aber er hatte Angst. Womöglich geschah das alles nur, um den jungen Chinesen aufzurütteln und ihn daran zu erinnern, dass es mehr gab als nur diese öde Tankstelle und die Snack-Bar, in der fast nichts los war.
Unvermittelt, wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, blieben die Pferde stehen.
Die Walküren stiegen ab, klopften den Staub von ihrer Lederkluft, nahmen die bunten Tücher ab, die sie zum Schutz über Mund und Nase gebunden hatten, und banden sie sich um den Hals. Dann betraten sie die Snack-Bar.
Acht Frauen.
Sie bestellten nichts. Der Chinese schien auch so zu wissen, was sie wollten - er legte bereits Speck, Toast und Eier auf das heiße Blech. Trotz der plötzlichen Unruhe arbeitete er weiter wie eine gehorsame Maschine.
»Warum ist das Radio aus?«, fragte eine der Reiterinnen.
Sofort stellte der Chinese das Radio an.
»Stell es lauter!«, forderte eine andere Frau.
Wie ferngesteuert drehte der Chinese das Radio auf volle Lautstärke. Die einsame Tankstelle hatte sich unvermittelt in eine New Yorker Disco verwandelt. Ein paar Frauen klatschten im Rhythmus mit, andere versuchten, sich in dem Lärm schreiend zu unterhalten.
Chris, die alles gebannt beobachtete, entdeckte plötzlich, dass eine der Reiterinnen vollkommen still dasaß - sie hatte lange rote Locken und war offensichtlich die Älteste. Sie nahm nicht an der Unterhaltung teil und zeigte auch kein Interesse an dem Frühstück, das gerade zubereitet wurde.
Stattdessen starrte sie unverwandt zu Paulo hinüber. Und Paulo, der das Kinn in die rechte Hand gestützt hatte, erwiderte ihren Blick.
Chris versetzte es einen Stich ins Herz. Etwas Seltsames, sehr Seltsames spielte sich da ab - wieso, konnte sie sich nicht erklären. Vielleicht hatte die Tatsache, dass sie in den vergangenen Tagen zum Horizont geschaut oder ständig das Channeling geübt hatte, dazu geführt, dass sie die Dinge rings um sie herum anders wahrnahm. Sie hatte Vorahnungen gehabt. Jetzt wurden sie wahr.
Sie tat so, als bemerke sie nicht, dass die beiden einander ansahen. Aber ihr Herz schickte ihr eigenartige Signale - und sie wusste nicht, ob es gute oder schlechte waren.
›Took hatte recht‹, dachte Paulo. ›Er sagte, es sei ganz einfach, Kontakt zu ihnen aufzunehmen.‹
Allmählich bemerkten die anderen Frauen, was sich abspielte. Sie folgten dem Blick der Frau mit den roten Locken zu dem Tisch, an dem Paulo und Chris saßen. Ihre Unterhaltung verstummte, und sie bewegten sich auch nicht mehr im Takt der Musik.
»Mach das Radio aus!«, befahl die Frau mit den roten Locken dem Chinesen.
Er gehorchte. Jetzt war das einzige Geräusch das Brutzeln des Specks auf dem Blech.
Die Rothaarige stand auf und ging quer durch den Raum bis zu dem Tisch, an dem Chris und Paulo saßen. Dort blieb sie stehen. Die anderen beobachteten weiterhin die Szene.
»Woher hast du diesen Ring?«, fragte sie Paulo unvermittelt.
»Aus demselben Laden, in dem du deine Anstecknadel gekauft hast«, antwortete er.
Erst da sah Chris die Metallbrosche an der Lederjacke der Frau. Darauf war das gleiche Symbol wie auf dem Ring, den Paulo am linken Ringfinger trug.
›Ach, deshalb hatte er seine Hand unterm Kinn!‹
Sie hatte bereits viele Ringe der Mondtradition gesehen - in allen Farben, aus allen erdenklichen Materialien und in allen Größen - immer in Form einer Schlange, dem Symbol für Weisheit.
Aber so einen Ring, wie ihr Mann ihn am Finger trug, hatte sie außer bei ihm noch nie gesehen. J. hatte ihn ihm 1982, als sie zu dritt in Norwegen gewesen waren, mit den Worten gegeben, dass er so »die Mondtradition vollendete, einen von der Angst unterbrochenen Zyklus«.
Und jetzt, mitten in der Wüste - eine Frau mit der Anstecknadel. Dasselbe Design.
›Frauen achten immer auf Schmuckstücke.‹
»Was willst du?«, fragte die Rothaarige.
Paulo stand auf. Er und die Rothaarige standen einander jetzt gegenüber und sahen einander an. Chris' Herz zog sich noch mehr zusammen - nicht aus Eifersucht, da war sie sich sicher.
»Was willst du?«, fragte die Rothaarige noch einmal.
»Mit meinem Engel sprechen. Und noch etwas anderes.«
Die Frau nahm Paulos Hand. Fuhr mit den Fingern über den Ring, und zum ersten Mal hatte diese Frau etwas Weibliches.
»Wenn du den Ring im selben Laden gekauft hast wie ich, dann wirst du wissen, wie man das macht«, sagte sie, während sie auf die Schlangen starrte. »Wenn nicht, dann verkauf ihn mir! Es ist ein schönes Schmuckstück.«
Das war kein Schmuckstück. Es war nur ein einfach gearbeiteter silberner Ring mit zwei ineinander verschlungenen Schlangen. Jede der Schlangen hatte zwei Köpfe.
Paulo antwortete nicht.
»Du kannst nicht mit den Engeln sprechen, wenn dieser Ring dir nicht gehört«, sagte die Frau nach einer Weile.
»Ich weiß. Channeling.«
»Genau«, entgegnete die Frau. »Sonst nichts.«
»Ich sagte, ich wolle noch etwas anderes.«
»Was denn?«
»Took hat seinen Engel gesehen. Ich will meinen sehen. Mit ihm reden, von Angesicht zu Angesicht.«
»Took?«
Der Blick der Rothaarigen ging in die Vergangenheit, versuchte, sich zu erinnern, wer Took war, wo er lebte.
»Ja, jetzt erinnere ich mich«, sagte sie. »Er lebt in der Wüste. Eben gerade, weil er seinen Engel gesehen hat.«
»Nein. Er lernt, um ein Meister zu werden.«
»Diese Vorstellung, einen Engel sehen zu müssen, ist nichts als ein Märchen. Es reicht, mit ihm zu sprechen.«
Paulo machte einen Schritt auf die Walküre zu.
Chris kannte diesen Trick ihres Mannes: Er hieß ›Destabilisierung‹. Normalerweise sprechen Menschen miteinander, indem sie eine Armlänge Abstand voneinander halten. Wenn einer dem anderen zu nahe kommt, wird das Denken des anderen durcheinandergebracht, ohne dass er weiß, wieso.
»Ich will meinen Engel sehen!« Paulo stand nun direkt vor der Frau und starrte sie an.
»Wozu?« Die Walküre schien eingeschüchtert zu sein. Der Trick funktionierte.
»Weil ich verzweifelt bin und Hilfe brauche. Ich habe Dinge erreicht, die wichtig für mich waren, und ich werde sie zerstören, weil ich mir sage, dass sie ihren Sinn verloren haben. Ich weiß, dass es nicht stimmt, ich weiß, dass sie weiterhin wichtig sind und dass ich, wenn ich sie zerstöre, mich selber zerstöre.«
Er sprach im gleichen unbeteiligten Tonfall weiter.
»Als ich herausgefunden habe, dass Channeling reicht, um mit meinem Engel zu sprechen, habe ich das Interesse daran verloren. Es war keine Herausforderung mehr, bloß noch etwas, das ich bereits gut kannte. Und da merkte ich, dass mein Weg in der Magie kurz vor seinem Ende steht. Das Unbekannte wurde mir allmählich zu vertraut.«
Chris war verblüfft über dieses Geständnis, das Paulo da vor wildfremden Menschen abgab.
»Um diesen Weg weiterzugehen, brauche ich etwas Größeres«, schloss er. »Ich brauche immer höhere Berge.«
Die Frau schwieg, überrascht von den Worten des Fremden.
»Wenn ich dir beibringe, einen Engel zu sehen, wird dein Wunsch, immer höhere Berge zu suchen, vielleicht vergehen «, sagte sie schließlich. »Aber das ist nicht immer gut.«
»Nein, dieser Wunsch wird nie vergehen. Was vergehen wird, ist diese Vorstellung, dass die erklommenen Berge zu niedrig sind. Ich werde meine Liebe für das, was ich errungen habe, am Lodern halten. Das war es, was mein Meister mir zu sagen versuchte.«
›Vielleicht spricht er auch über unsere Ehe‹, dachte Chris.
Die Frau reichte Paulo die Hand.
»Mein Name ist M.«, sagte sie.
»Mein Name ist S.«, sagte Paulo.
Chris erschrak. Paulo hatte ihr seinen Namen als Magier genannt. Nur sehr wenige Menschen kannten dieses Geheimnis, denn die einzige Möglichkeit, einem Magier Schaden zuzufügen, besteht darin, seinen Magiernamen zu benutzen. Deshalb durfte ihn nur jemand vollkommen Vertrauenswürdiges erfahren.
Paulo war dieser Frau gerade erst begegnet. Er konnte ihr doch nicht dermaßen vertrauen.
»Du kannst mich Vahalla nennen«, sagte die Rothaarige.
›Das erinnert an den Namen des altnordischen Paradieses‹, dachte Paulo, während er ihr auch seinen Taufnamen sagte.
Die Rothaarige schien sich etwas zu entspannen. Zum ersten Mal sah sie Chris an, die mit am Tisch saß.
»Um einen Engel zu sehen, braucht es drei Dinge«, fuhr Vahalla fort, indem sie sich wieder an Paulo wandte, als gäbe es Chris überhaupt nicht. »Und außer diesen drei Dingen braucht es Mut. Den Mut einer Frau, den wahren Mut. Nicht den Mut eines Mannes.«
Paulo tat so, als hätte er den letzten Satz nicht gehört.
»Morgen werden wir in Tucson sein«, sagte Vahalla. »Triff uns mittags, wenn dein Ring echt ist.«
Paulo ging zum Wagen, holte die Karte, und Vahalla zeigte ihm den genauen TreSpunkt. Der Chinese stellte Eier, Speck und Toast auf den Tisch, und eine der Walküren ermunterte Vahalla zu essen, das Frühstück werde sonst kalt. Daraufhin kehrte die Rothaarige an ihren Platz am Tresen zurück und bat den Chinesen, das Radio wieder anzustellen.
»Welches sind die drei Voraussetzungen, um mit dem Engel zu sprechen?«, fragte Paulo noch.
»Einen Pakt brechen. Eine Vergebung annehmen. Und eine Wette eingehen«, antwortete Vahalla.
© Diogenes Verlag AG www.diogenes.ch
Die schönen Pferde drehten gefährlich nahe beieinander eine Runde nach der anderen um die Tankstelle herum. Peitschen knallten, behandschuhte Hände führten geschickt die Zügel. Als gälte es, die ganze Wüste zu wecken und mit Lebensfreude anzustecken, stießen die Reiterinnen gellende Schreie aus wie Cowboys, die ihr Vieh vor sich hertrieben. Paulo hatte hochgeblickt und schaute fasziniert zu, aber er hatte Angst. Womöglich geschah das alles nur, um den jungen Chinesen aufzurütteln und ihn daran zu erinnern, dass es mehr gab als nur diese öde Tankstelle und die Snack-Bar, in der fast nichts los war.
Unvermittelt, wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, blieben die Pferde stehen.
Die Walküren stiegen ab, klopften den Staub von ihrer Lederkluft, nahmen die bunten Tücher ab, die sie zum Schutz über Mund und Nase gebunden hatten, und banden sie sich um den Hals. Dann betraten sie die Snack-Bar.
Acht Frauen.
Sie bestellten nichts. Der Chinese schien auch so zu wissen, was sie wollten - er legte bereits Speck, Toast und Eier auf das heiße Blech. Trotz der plötzlichen Unruhe arbeitete er weiter wie eine gehorsame Maschine.
»Warum ist das Radio aus?«, fragte eine der Reiterinnen.
Sofort stellte der Chinese das Radio an.
»Stell es lauter!«, forderte eine andere Frau.
Wie ferngesteuert drehte der Chinese das Radio auf volle Lautstärke. Die einsame Tankstelle hatte sich unvermittelt in eine New Yorker Disco verwandelt. Ein paar Frauen klatschten im Rhythmus mit, andere versuchten, sich in dem Lärm schreiend zu unterhalten.
Chris, die alles gebannt beobachtete, entdeckte plötzlich, dass eine der Reiterinnen vollkommen still dasaß - sie hatte lange rote Locken und war offensichtlich die Älteste. Sie nahm nicht an der Unterhaltung teil und zeigte auch kein Interesse an dem Frühstück, das gerade zubereitet wurde.
Stattdessen starrte sie unverwandt zu Paulo hinüber. Und Paulo, der das Kinn in die rechte Hand gestützt hatte, erwiderte ihren Blick.
Chris versetzte es einen Stich ins Herz. Etwas Seltsames, sehr Seltsames spielte sich da ab - wieso, konnte sie sich nicht erklären. Vielleicht hatte die Tatsache, dass sie in den vergangenen Tagen zum Horizont geschaut oder ständig das Channeling geübt hatte, dazu geführt, dass sie die Dinge rings um sie herum anders wahrnahm. Sie hatte Vorahnungen gehabt. Jetzt wurden sie wahr.
Sie tat so, als bemerke sie nicht, dass die beiden einander ansahen. Aber ihr Herz schickte ihr eigenartige Signale - und sie wusste nicht, ob es gute oder schlechte waren.
›Took hatte recht‹, dachte Paulo. ›Er sagte, es sei ganz einfach, Kontakt zu ihnen aufzunehmen.‹
Allmählich bemerkten die anderen Frauen, was sich abspielte. Sie folgten dem Blick der Frau mit den roten Locken zu dem Tisch, an dem Paulo und Chris saßen. Ihre Unterhaltung verstummte, und sie bewegten sich auch nicht mehr im Takt der Musik.
»Mach das Radio aus!«, befahl die Frau mit den roten Locken dem Chinesen.
Er gehorchte. Jetzt war das einzige Geräusch das Brutzeln des Specks auf dem Blech.
Die Rothaarige stand auf und ging quer durch den Raum bis zu dem Tisch, an dem Chris und Paulo saßen. Dort blieb sie stehen. Die anderen beobachteten weiterhin die Szene.
»Woher hast du diesen Ring?«, fragte sie Paulo unvermittelt.
»Aus demselben Laden, in dem du deine Anstecknadel gekauft hast«, antwortete er.
Erst da sah Chris die Metallbrosche an der Lederjacke der Frau. Darauf war das gleiche Symbol wie auf dem Ring, den Paulo am linken Ringfinger trug.
›Ach, deshalb hatte er seine Hand unterm Kinn!‹
Sie hatte bereits viele Ringe der Mondtradition gesehen - in allen Farben, aus allen erdenklichen Materialien und in allen Größen - immer in Form einer Schlange, dem Symbol für Weisheit.
Aber so einen Ring, wie ihr Mann ihn am Finger trug, hatte sie außer bei ihm noch nie gesehen. J. hatte ihn ihm 1982, als sie zu dritt in Norwegen gewesen waren, mit den Worten gegeben, dass er so »die Mondtradition vollendete, einen von der Angst unterbrochenen Zyklus«.
Und jetzt, mitten in der Wüste - eine Frau mit der Anstecknadel. Dasselbe Design.
›Frauen achten immer auf Schmuckstücke.‹
»Was willst du?«, fragte die Rothaarige.
Paulo stand auf. Er und die Rothaarige standen einander jetzt gegenüber und sahen einander an. Chris' Herz zog sich noch mehr zusammen - nicht aus Eifersucht, da war sie sich sicher.
»Was willst du?«, fragte die Rothaarige noch einmal.
»Mit meinem Engel sprechen. Und noch etwas anderes.«
Die Frau nahm Paulos Hand. Fuhr mit den Fingern über den Ring, und zum ersten Mal hatte diese Frau etwas Weibliches.
»Wenn du den Ring im selben Laden gekauft hast wie ich, dann wirst du wissen, wie man das macht«, sagte sie, während sie auf die Schlangen starrte. »Wenn nicht, dann verkauf ihn mir! Es ist ein schönes Schmuckstück.«
Das war kein Schmuckstück. Es war nur ein einfach gearbeiteter silberner Ring mit zwei ineinander verschlungenen Schlangen. Jede der Schlangen hatte zwei Köpfe.
Paulo antwortete nicht.
»Du kannst nicht mit den Engeln sprechen, wenn dieser Ring dir nicht gehört«, sagte die Frau nach einer Weile.
»Ich weiß. Channeling.«
»Genau«, entgegnete die Frau. »Sonst nichts.«
»Ich sagte, ich wolle noch etwas anderes.«
»Was denn?«
»Took hat seinen Engel gesehen. Ich will meinen sehen. Mit ihm reden, von Angesicht zu Angesicht.«
»Took?«
Der Blick der Rothaarigen ging in die Vergangenheit, versuchte, sich zu erinnern, wer Took war, wo er lebte.
»Ja, jetzt erinnere ich mich«, sagte sie. »Er lebt in der Wüste. Eben gerade, weil er seinen Engel gesehen hat.«
»Nein. Er lernt, um ein Meister zu werden.«
»Diese Vorstellung, einen Engel sehen zu müssen, ist nichts als ein Märchen. Es reicht, mit ihm zu sprechen.«
Paulo machte einen Schritt auf die Walküre zu.
Chris kannte diesen Trick ihres Mannes: Er hieß ›Destabilisierung‹. Normalerweise sprechen Menschen miteinander, indem sie eine Armlänge Abstand voneinander halten. Wenn einer dem anderen zu nahe kommt, wird das Denken des anderen durcheinandergebracht, ohne dass er weiß, wieso.
»Ich will meinen Engel sehen!« Paulo stand nun direkt vor der Frau und starrte sie an.
»Wozu?« Die Walküre schien eingeschüchtert zu sein. Der Trick funktionierte.
»Weil ich verzweifelt bin und Hilfe brauche. Ich habe Dinge erreicht, die wichtig für mich waren, und ich werde sie zerstören, weil ich mir sage, dass sie ihren Sinn verloren haben. Ich weiß, dass es nicht stimmt, ich weiß, dass sie weiterhin wichtig sind und dass ich, wenn ich sie zerstöre, mich selber zerstöre.«
Er sprach im gleichen unbeteiligten Tonfall weiter.
»Als ich herausgefunden habe, dass Channeling reicht, um mit meinem Engel zu sprechen, habe ich das Interesse daran verloren. Es war keine Herausforderung mehr, bloß noch etwas, das ich bereits gut kannte. Und da merkte ich, dass mein Weg in der Magie kurz vor seinem Ende steht. Das Unbekannte wurde mir allmählich zu vertraut.«
Chris war verblüfft über dieses Geständnis, das Paulo da vor wildfremden Menschen abgab.
»Um diesen Weg weiterzugehen, brauche ich etwas Größeres«, schloss er. »Ich brauche immer höhere Berge.«
Die Frau schwieg, überrascht von den Worten des Fremden.
»Wenn ich dir beibringe, einen Engel zu sehen, wird dein Wunsch, immer höhere Berge zu suchen, vielleicht vergehen «, sagte sie schließlich. »Aber das ist nicht immer gut.«
»Nein, dieser Wunsch wird nie vergehen. Was vergehen wird, ist diese Vorstellung, dass die erklommenen Berge zu niedrig sind. Ich werde meine Liebe für das, was ich errungen habe, am Lodern halten. Das war es, was mein Meister mir zu sagen versuchte.«
›Vielleicht spricht er auch über unsere Ehe‹, dachte Chris.
Die Frau reichte Paulo die Hand.
»Mein Name ist M.«, sagte sie.
»Mein Name ist S.«, sagte Paulo.
Chris erschrak. Paulo hatte ihr seinen Namen als Magier genannt. Nur sehr wenige Menschen kannten dieses Geheimnis, denn die einzige Möglichkeit, einem Magier Schaden zuzufügen, besteht darin, seinen Magiernamen zu benutzen. Deshalb durfte ihn nur jemand vollkommen Vertrauenswürdiges erfahren.
Paulo war dieser Frau gerade erst begegnet. Er konnte ihr doch nicht dermaßen vertrauen.
»Du kannst mich Vahalla nennen«, sagte die Rothaarige.
›Das erinnert an den Namen des altnordischen Paradieses‹, dachte Paulo, während er ihr auch seinen Taufnamen sagte.
Die Rothaarige schien sich etwas zu entspannen. Zum ersten Mal sah sie Chris an, die mit am Tisch saß.
»Um einen Engel zu sehen, braucht es drei Dinge«, fuhr Vahalla fort, indem sie sich wieder an Paulo wandte, als gäbe es Chris überhaupt nicht. »Und außer diesen drei Dingen braucht es Mut. Den Mut einer Frau, den wahren Mut. Nicht den Mut eines Mannes.«
Paulo tat so, als hätte er den letzten Satz nicht gehört.
»Morgen werden wir in Tucson sein«, sagte Vahalla. »Triff uns mittags, wenn dein Ring echt ist.«
Paulo ging zum Wagen, holte die Karte, und Vahalla zeigte ihm den genauen TreSpunkt. Der Chinese stellte Eier, Speck und Toast auf den Tisch, und eine der Walküren ermunterte Vahalla zu essen, das Frühstück werde sonst kalt. Daraufhin kehrte die Rothaarige an ihren Platz am Tresen zurück und bat den Chinesen, das Radio wieder anzustellen.
»Welches sind die drei Voraussetzungen, um mit dem Engel zu sprechen?«, fragte Paulo noch.
»Einen Pakt brechen. Eine Vergebung annehmen. Und eine Wette eingehen«, antwortete Vahalla.
© Diogenes Verlag AG www.diogenes.ch
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Autoren-Porträt von Paulo Coelho
Paulo Coelho, geboren 1947 in Rio de Janeiro, ist einer der meistgelesenen Schriftsteller der Welt. Seine Romane, insbesondere "Der Alchimist, Veronika beschließt zu sterben, Brida, Elf Minuten und Aleph" wurden Weltbestseller, die in einer Auflage von über 150 Millionen Exemplaren in mehr als 80 Sprachen und in über 200 Ländern erschienen sind.Paulo Coelho hat 26 Werke veröffentlicht und ist seit 2002 Mitglied der brasilianischen Academia de Letras. Als Autor hat er mit mehr als 23 Millionen Followern die größte Fangemeinde in den Social Media.
Bibliographische Angaben
- Autor: Paulo Coelho
- 2012, 09. Aufl., 208 Seiten, Maße: 11,3 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Maralde Meyer-Minnemann
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257241704
- ISBN-13: 9783257241709
- Erscheinungsdatum: 24.08.2012
Pressezitat
»Coelho berührt mit seiner einfachen, schnörkellosen Sprache, die ungeheuer fesseln und begeistern kann, Menschen in ihrem Innersten.« Britta Bingmann / Westdeutsche Allgemeine Zeitung Westdeutsche Allgemeine Zeitung
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