Weil du fehlst
Ein dunkles Familiengeheimnis - von der Bestseller-Jugendbuchautorin Jana Frey
Kassandra hat schon fast überall gewohnt: in Paris und Prag, auf Stromboli und in der Walachei. Daran ist ihre Mutter schuld: Sobald sie von der großen Unruhe gepackt wird,...
Kassandra hat schon fast überall gewohnt: in Paris und Prag, auf Stromboli und in der Walachei. Daran ist ihre Mutter schuld: Sobald sie von der großen Unruhe gepackt wird,...
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Produktinformationen zu „Weil du fehlst “
Klappentext zu „Weil du fehlst “
Ein dunkles Familiengeheimnis - von der Bestseller-Jugendbuchautorin Jana FreyKassandra hat schon fast überall gewohnt: in Paris und Prag, auf Stromboli und in der Walachei. Daran ist ihre Mutter schuld: Sobald sie von der großen Unruhe gepackt wird, zieht sie um. Und jedes Mal muss Kassandra sich wieder neu einleben. Manchmal fühlt sie sich geradezu erdrückt. Und immer öfter spürt sie, dass da etwas fehlt in ihrem Leben. Nur was? Hat es mit ihrer Vergangenheit zu tun? Warum hat ihre Mutter eigentlich jeglichen Kontakt zu den Großeltern abgebrochen? Kassandra will es herausfinden. Und dann entdeckt sie etwas, das ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt ...
Authentisch, packend, dramatisch - Lesen!
Lese-Probe zu „Weil du fehlst “
Weil du fehlst von Jana Frey Was machst du? Ich lasse das Leben auf mich regnen.
Meine Mutter gibt sich Mühe, immer wieder alle Brücken hinter uns abzubrechen, alle Spuren zu verwischen. Wir haben schon fast überall gewohnt, was natürlich übertrieben ist, denn kein Mensch kann fast überall gewohnt haben. Aber ich kann Paris aufweisen und Prag und ein Kaff namens Afumati - das liegt in Rumänien in der Region Walachei und das ist kein Witz. Außerdem waren da natürlich einige amerikanische Städte, Philadelphia und Milwaukee und so weiter, aber am schönsten und verrücktesten war es auf Stromboli. Die Insel liegt im Mittelmeer nördlich von Sizilien und es ist eine sehr hohe, aber sehr kleine Insel. Nicht mal sechshundert Menschen wohnen auf Stromboli, und eine Weile waren meine Mutter, meine Schwester Oya und ich drei von ihnen. Von Stromboli stammt auch Billyboy, unsere Katze.
Eine kurze Frage und eine kurze Antwort:
Wer bin ich?
Ich bin Kassandra.
Geboren wurde ich ganz unspektakulär in Springfield, Connecticut, einer eher unspannenden Kleinstadt mit vielen Highways rundherum und einer hübschen Altstadt, die aber so klein ist, dass man wahnsinnig oft hindurchlatschen kann in einer einzigen popeligen Stunde, ohne allzu viel zu sehen. Auch Oya ist in Springfield geboren. Das war noch vor der Zeit, in der unsere Mutter Mrs Ruhelos wurde und anfing, durch die Welt zu jagen auf der Suche nach Keineahnungwas. Sie legt sich - und damit auch uns - neue Wohnorte zu, wie sich andere Frauen Schuhe zulegen. Aber in diesem Fall nicht mal normale Schuhe wie Riemchensandalen, Pumps und so was, sondern eher, als kaufe sie besessen schräge Mokassins, schillernde, orientalische Opanken und solche Sachen. Prag, Stromboli, Paris eben.
... mehr
Ich kann eine Menge Klassenlehrerinnen aufweisen durch unsere vielen Umzüge. Meine Mutter, die mal, vor langer Zeit, Kunst studiert hat, verdient ihr und damit unser Geld mit Malerei. Was sie malt? Alles. Wirklich alles. Auftragsarbeiten, manchmal der übelsten Art. Haustiere in Acryl zum Beispiel. Pudel von alten, senilen Damen und so weiter. Einmal hat sie auch das schwermütige, knotige, äußerst hässliche Krokodil eines Mannes Namens Edgar Nash gemalt, der dann ein paar Monate ihr Lover wurde. Durch ihn kamen wir nach Milwaukee. Es war unglaublich. Edgar und meine Mutter und immer dieser Reptiliengeruch in Edgars Haus. Er hatte auch Leguane und andere Gruselviecher. Aber er war Collegeprofessor für diese Art von Tieren, und manchmal konnte er ganz nett sein. Er tanzte mit meiner Mutter zu imaginärer Musik Polka durch sein unordentliches Reptilienhaus und weinte, als seine Gelbwangenschildkröten an einer Seuche eingingen.
Aber zurück zu meinen Klassenlehrerinnen. Es gab eine Mrs Cardasis, zwei Mrs Thomas, nur verschieden geschrieben, eine Miss Aronsson, eine Mrs Olariu, besser gesagt Doamna Olariu in Afumati, eine Pani Sládekova in Prag, eine Madame Baffour und eine Madame Runné in Paris und vorher die lieben, verrückten Signora Tozzi und Signora Graziano auf Stromboli. Signora Graziano verdanke ich die beinahe einzig stabile Komponente in meinem Leben. Ich meine außer dem ewigen Zusammenglucken mit meiner Mutter und mit Oya und Billyboy. Aber das nenne ich keine stabile Komponente. Das ist eher eine Zwangsverbindung. Darum zurück zu Achmed. Denn Signora Graziano schenkte oder vielmehr verpasste ihn mir: Achmed, der kein Terrorist ist, weder ein toter noch ein lebender, sondern ein netter türkischer Achtzehnjähriger aus Ankara, der mein Brief - Quatsch - E-Mail-Freund ist. Signora Graziano verpasste allen in der kleinen Schule, die es auf Stromboli gibt, einen E-Mail-Freund, um uns multikultureller zu gestalten, wie sie erklärte. Oya hat damals eine schwedische E-Mail-Freundin verpasst bekommen, der Kontakt ist inzwischen eingeschlafen. Aber Achmed ist mir geblieben. Damals, als ich ihn bekam, war er dreizehn und ich zwölf, und er verehrte Madonna, Atatürk, den Staatsgründer der Türkei, und außerdem die originalen, britischen Matchboxautos von Lesney Products & Co. Die vor allem. Heute verehrt er Cher, Mahatma Gandhi und amerikanische Actionfilme. Die vor allem.
Hier ein Auszug aus einer Mail an Achmed:.
... wir ziehen zurück in die USA. Ist das zu fassen? Gerade hatte ich mich an Paris gewöhnt. All die irren Franzosen und der Café au lait und die Schule und Madame Runné und unsere kleine, miefige Wohnung im Vorort Porte de la Chapelle (bekannt aus den Nachrichten, weil sie sich dort dauernd die Köpfe einschlagen in den Nächten.) Oya hat rasend schnell französisch gelernt. Ich finde, R. mutet uns zu viel zu.
(Anmerkung: mit R. ist meine Mutter gemeint, sie heißt Rabea, und so nenne ich sie auch. Sie ist nicht so der Mommy-Mutter-Typ, Rabea ist schon okay, aber in meinen E-Mails an Achmed, der kein Terrorist ist und sich vehement gegen Frauenunterdrückung à la Kopftuch, Scharia und Zwangsverheiratungen ausspricht, nenne ich meine Mutter kurz R.).
Wie geht's dir, Achmed? ...
Achmed geht es eigentlich irgendwie immer gut, darum ist meine Wie-geht's-dir-Frage mehr eine Floskel als eine ernstzunehmende Frage. Manchmal wünschte ich, ich könnte Er werden und in sein Leben schlüpfen. Er hat Mutter, Vater, zwei Grandmas, einen Grandpa, einen Urgroßvater, dazu drei Brüder und massenweise Tanten und Onkel, die alle auch nett zu sein scheinen. Nett und normal. Seine Mutter malt keine schranzigen Krokodile oder zieht zu Edgar Nash, dem Reptilienmann, um mit ihm Polka zu tanzen und ihn dann eines Tages sang- und klanglos wieder zu verlassen, sein Vater ist anwesend und liberal und ebenfalls ein Kopftuchablehner. Seine Großeltern scheinen friedliche Rentner zu sein, die ihre Enkel lieben und verwöhnen. Seine Brüder? Keine Ahnung, über die schreibt er eher wenig bis nichts.
Ich habe gar keinen Vater.
Nein, das stimmt nicht. Oyas und mein Vater ist tot. Er starb, als ich vier war und Oya zwei. An Krebs.
Nach seinem Tod wurde meine Mutter von dieser inneren Unruhe gepackt, die dazu führte, dass ich diese Massen von Exlehrerinnen habe.
Eine Statistik:
1995 wurde ich geboren.
1999 starb Raymond, mein Vater.
Seit 2000 ziehen wir um.
Die Wolke begleitet mich.
Frage:
Wer oder was ist die Wolke?
Antwort:
Ich weiß es nicht.
Ich habe keine Ahnung.
Die Wolke ist schwarz und stürzt aus dem Himmel auf mich drauf und hüllt mich ein. Ich fühle mich, als erstickte ich. Die Wolke ist mein Albtraum. Ich träume den Schwarzewolkentraum in unregelmäßigen Abständen. Und nach einem Wolkentraum muss ich mich umziehen, weil ich widerlich schweißdurchtränkt bin. Angstschweiß ist eklig. Nach dem Umziehen liege ich manchmal wach, bis es hell wird. Jeder wird vermutlich verstehen, dass ich den Wolkentraum fürchte wie die Leute im Mittelalter die Pest.
Wir kamen also zurück nach Amerika, gerade als Oya so perfekt Französisch gelernt hatte, und ich mittelmäßig. Anderthalb Jahre Paris waren von einem Tag auf den anderen schnöde Vergangenheit. Ich siebzehn, Oya fünfzehn.
»Manchmal hasse ich sie regelrecht«, sagte Oya düster und besprühte Billyboy mit Antiflohspray. Sie ist Rabea. Vor Paris war Stromboli gewesen, Billyboys Heimat. Auch aus Stromboli hatte Oya nicht mehr fortgewollt. Sie verhaftet sehr schnell. Dieser Satz stammt nicht von mir, natürlich nicht, so geschwollen rede ich nicht. Dieser Satz stammt von Rabea, der Umzugsfetischistin. Sie sagte ihn am Telefon zu irgendjemandem, ich bekam es mit einem Ohr mit. Jedenfalls, als wir auf Stromboli wieder die Zelte abbrachen, sozusagen (in Wahrheit hatten wir in einem kleinen, schönen, lichten, etwas meerwasserfeuchten Haus gewohnt, dessen Besitzer Sergio Milazzo gewesen war, dem Wir- leben-auf-Stromboli-Grund unserer Mutter: ihr Lover, ein Touristenherumführer mit tiefen, schwarzen Augen), tobte Oya und spuckte Flüche gegen Rabea aus und drohte damit, sich auf der Stelle im Meer zu ersäufen. Es nützte ihr aber alles nicht. Rabea wollte nach Paris.
»Welcher Scheißtyp wartet da auf dich?«, brüllte Oya so aufgebracht, dass ihr die Spucke nur so aus dem Mund sprühte. Wäre Oya bei Besinnung gewesen, hätte sie sich dafür geschämt, sie ist ein sehr feiner, aufgeräumter Typ und Spucke-aus-dem-Mund ist absolut unoyahaft. Aber so bekam sie es gar nicht mit.
»Niemand wartet auf mich in Paris. Aber ich habe genug von dieser schmuddeligen, kleinen öden Insel. Ich brauche Luftveränderung.«
Wir wollten keine Luftveränderung. Wir liebten die Insel und die Luft dort und den Vulkan und Sergios Mutter, die wir Nonna nannten, und Billyboys dicke, behäbige Katzenmutter, und Signora Graziano, die uns Achmed und die schwedische Jonna verpasst hatte.
Aber, wie gesagt, es nützte uns alles nichts, denn Rabea und Sergio hatten sich auseinandergelebt, und wir zogen um nach Porte de la Chapelle, wo sich weiße und schwarze Franzosen nachts gerne killen und dabei einen Riesenkrach machen. Und oft auch Feuer, wenn sie Autos anzünden, die das Pech haben, zwischen die nächtlichen Fronten zu geraten.
Und nach Paris jetzt wieder die USA. Good-old- New-England.
»Ich drehe durch«, sagte Oya und hielt Billyboy gnadenlos zwischen ihren Knien eingeklemmt fest. Dabei war sie mit dem Gegen-Flöhe-Einsprühen inzwischen fertig. Aber sie hat den Kater gerne auf dem Schoß, er ist ihre Stromboli-Erinnerung, während Billyboy kein unbedingter Auf-dem-Schoß-Sitzer ist, sondern lieber für sich alleine liegt.
»Und nächste Woche Schule«, seufzte ich und beendete eine E-Mail an Achmed.
Auszug aus der E-Mail an Achmed:
... Elfte Klasse. Und wieder mal ein Schulwechsel, obwohl das Schuljahr hier schon angefangen hat und alle ihre Kurse gewählt haben. R. tut das natürlich mit einem Schulterzucken ab. Ach ja, du hast nach meinen Großeltern gefragt. Ein paarmal schon. Ich weiß, du hältst viel von Großeltern, weil deine prima sind. Aber hier bei uns gibt es niemanden. R.‘s Eltern sind mit R. (und dadurch auch mit Oya und mir, wie es aussieht) seit Jahren zerstritten. Und die Eltern meines Vaters? Keine Ahnung. Ich glaube, mein Vaterseitengrandpa ist schon seit einer Ewigkeit tot, und meine Vaterseitengrandma? Großes Fragezeichen ...
»Schreibst du an Achmed? Gute, alte Signora Graziano! Ich wünschte, ich hätte Jonna Sjöborg noch. Sie hatte so was Beruhigendes. Schweden sind durch Astrid Lindgren zum Beruhigendsein verdonnert, findest du nicht auch?«
Ich nickte zweimal. Einmal, weil ich ja tatsächlich an Achmed geschrieben hatte, und einmal wegen Oyas Schwedentheorie.
»Oya, was wissen wir eigentlich über Raymonds Mom? Und, wegen Jonna: Schreib ihr doch einfach mal wieder. Oder hast du ihre E-Mail-Adresse nicht mehr?«
Oya zuckte mit den Achseln. Sie kann manchmal enervierend wortkarg sein. Vielleicht liegt es an dem Sprachenwirrwarr in ihrem sprachbegabten Kopf. Amerikanisch, erzwungenes Schulspanisch, Tschechisch, Rumänisch, Italienisch, Französisch. Ich habe mal ei- nen Artikel über das gehirntechnische Verarbeiten von Mehrsprachigkeit gelesen und da stand, dass gerade Sprachgenies mitunter Wortfindungsprobleme bekommen können, wenn zu viele Sprachen im Muttersprachensektor landen.
»Was meinst du damit?« (Ich meinte ihr knappes Achselzucken). »Du weißt nichts über Raymonds Mutter - oder du weißt nichts über die E-Mail-Adresse deiner Schwedin?«
»Weder noch«, antwortete meine kleine Schwester, die körperlängentechnisch strenggenommen meine große Schwester genannt werden müsste.
Zwei äußerliche Beschreibungen:
1. Mittelgroß, mittelblond, ziemlich dünn, einige unordentlich verteilte Sommersprossen, unspektakuläre graue Augen, sehr dünne Finger (»Spinnenfinger« nannte sie Pani Sládekova in Prag einmal in einem Tonfall, den ich nur abfällig nennen kann. - Wen verwundert es, dass Pani Sládekova nicht unbedingt meine Lieblingslehrerin war?), gelockte Haarspitzen (»wie ein Engelchen«, sagte Signora Graziano manchmal entzückt. Sie war dann auch meine Lieblingslehrerin. Verdanke ich ihr doch zudem noch Achmed, den Guten.)
2. Sehr groß! Dunkle Haare. Grüne Augen. Schön. Viel schöner als ich. Die Welt ist ungerecht. Und Gene auch.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Ich kann eine Menge Klassenlehrerinnen aufweisen durch unsere vielen Umzüge. Meine Mutter, die mal, vor langer Zeit, Kunst studiert hat, verdient ihr und damit unser Geld mit Malerei. Was sie malt? Alles. Wirklich alles. Auftragsarbeiten, manchmal der übelsten Art. Haustiere in Acryl zum Beispiel. Pudel von alten, senilen Damen und so weiter. Einmal hat sie auch das schwermütige, knotige, äußerst hässliche Krokodil eines Mannes Namens Edgar Nash gemalt, der dann ein paar Monate ihr Lover wurde. Durch ihn kamen wir nach Milwaukee. Es war unglaublich. Edgar und meine Mutter und immer dieser Reptiliengeruch in Edgars Haus. Er hatte auch Leguane und andere Gruselviecher. Aber er war Collegeprofessor für diese Art von Tieren, und manchmal konnte er ganz nett sein. Er tanzte mit meiner Mutter zu imaginärer Musik Polka durch sein unordentliches Reptilienhaus und weinte, als seine Gelbwangenschildkröten an einer Seuche eingingen.
Aber zurück zu meinen Klassenlehrerinnen. Es gab eine Mrs Cardasis, zwei Mrs Thomas, nur verschieden geschrieben, eine Miss Aronsson, eine Mrs Olariu, besser gesagt Doamna Olariu in Afumati, eine Pani Sládekova in Prag, eine Madame Baffour und eine Madame Runné in Paris und vorher die lieben, verrückten Signora Tozzi und Signora Graziano auf Stromboli. Signora Graziano verdanke ich die beinahe einzig stabile Komponente in meinem Leben. Ich meine außer dem ewigen Zusammenglucken mit meiner Mutter und mit Oya und Billyboy. Aber das nenne ich keine stabile Komponente. Das ist eher eine Zwangsverbindung. Darum zurück zu Achmed. Denn Signora Graziano schenkte oder vielmehr verpasste ihn mir: Achmed, der kein Terrorist ist, weder ein toter noch ein lebender, sondern ein netter türkischer Achtzehnjähriger aus Ankara, der mein Brief - Quatsch - E-Mail-Freund ist. Signora Graziano verpasste allen in der kleinen Schule, die es auf Stromboli gibt, einen E-Mail-Freund, um uns multikultureller zu gestalten, wie sie erklärte. Oya hat damals eine schwedische E-Mail-Freundin verpasst bekommen, der Kontakt ist inzwischen eingeschlafen. Aber Achmed ist mir geblieben. Damals, als ich ihn bekam, war er dreizehn und ich zwölf, und er verehrte Madonna, Atatürk, den Staatsgründer der Türkei, und außerdem die originalen, britischen Matchboxautos von Lesney Products & Co. Die vor allem. Heute verehrt er Cher, Mahatma Gandhi und amerikanische Actionfilme. Die vor allem.
Hier ein Auszug aus einer Mail an Achmed:.
... wir ziehen zurück in die USA. Ist das zu fassen? Gerade hatte ich mich an Paris gewöhnt. All die irren Franzosen und der Café au lait und die Schule und Madame Runné und unsere kleine, miefige Wohnung im Vorort Porte de la Chapelle (bekannt aus den Nachrichten, weil sie sich dort dauernd die Köpfe einschlagen in den Nächten.) Oya hat rasend schnell französisch gelernt. Ich finde, R. mutet uns zu viel zu.
(Anmerkung: mit R. ist meine Mutter gemeint, sie heißt Rabea, und so nenne ich sie auch. Sie ist nicht so der Mommy-Mutter-Typ, Rabea ist schon okay, aber in meinen E-Mails an Achmed, der kein Terrorist ist und sich vehement gegen Frauenunterdrückung à la Kopftuch, Scharia und Zwangsverheiratungen ausspricht, nenne ich meine Mutter kurz R.).
Wie geht's dir, Achmed? ...
Achmed geht es eigentlich irgendwie immer gut, darum ist meine Wie-geht's-dir-Frage mehr eine Floskel als eine ernstzunehmende Frage. Manchmal wünschte ich, ich könnte Er werden und in sein Leben schlüpfen. Er hat Mutter, Vater, zwei Grandmas, einen Grandpa, einen Urgroßvater, dazu drei Brüder und massenweise Tanten und Onkel, die alle auch nett zu sein scheinen. Nett und normal. Seine Mutter malt keine schranzigen Krokodile oder zieht zu Edgar Nash, dem Reptilienmann, um mit ihm Polka zu tanzen und ihn dann eines Tages sang- und klanglos wieder zu verlassen, sein Vater ist anwesend und liberal und ebenfalls ein Kopftuchablehner. Seine Großeltern scheinen friedliche Rentner zu sein, die ihre Enkel lieben und verwöhnen. Seine Brüder? Keine Ahnung, über die schreibt er eher wenig bis nichts.
Ich habe gar keinen Vater.
Nein, das stimmt nicht. Oyas und mein Vater ist tot. Er starb, als ich vier war und Oya zwei. An Krebs.
Nach seinem Tod wurde meine Mutter von dieser inneren Unruhe gepackt, die dazu führte, dass ich diese Massen von Exlehrerinnen habe.
Eine Statistik:
1995 wurde ich geboren.
1999 starb Raymond, mein Vater.
Seit 2000 ziehen wir um.
Die Wolke begleitet mich.
Frage:
Wer oder was ist die Wolke?
Antwort:
Ich weiß es nicht.
Ich habe keine Ahnung.
Die Wolke ist schwarz und stürzt aus dem Himmel auf mich drauf und hüllt mich ein. Ich fühle mich, als erstickte ich. Die Wolke ist mein Albtraum. Ich träume den Schwarzewolkentraum in unregelmäßigen Abständen. Und nach einem Wolkentraum muss ich mich umziehen, weil ich widerlich schweißdurchtränkt bin. Angstschweiß ist eklig. Nach dem Umziehen liege ich manchmal wach, bis es hell wird. Jeder wird vermutlich verstehen, dass ich den Wolkentraum fürchte wie die Leute im Mittelalter die Pest.
Wir kamen also zurück nach Amerika, gerade als Oya so perfekt Französisch gelernt hatte, und ich mittelmäßig. Anderthalb Jahre Paris waren von einem Tag auf den anderen schnöde Vergangenheit. Ich siebzehn, Oya fünfzehn.
»Manchmal hasse ich sie regelrecht«, sagte Oya düster und besprühte Billyboy mit Antiflohspray. Sie ist Rabea. Vor Paris war Stromboli gewesen, Billyboys Heimat. Auch aus Stromboli hatte Oya nicht mehr fortgewollt. Sie verhaftet sehr schnell. Dieser Satz stammt nicht von mir, natürlich nicht, so geschwollen rede ich nicht. Dieser Satz stammt von Rabea, der Umzugsfetischistin. Sie sagte ihn am Telefon zu irgendjemandem, ich bekam es mit einem Ohr mit. Jedenfalls, als wir auf Stromboli wieder die Zelte abbrachen, sozusagen (in Wahrheit hatten wir in einem kleinen, schönen, lichten, etwas meerwasserfeuchten Haus gewohnt, dessen Besitzer Sergio Milazzo gewesen war, dem Wir- leben-auf-Stromboli-Grund unserer Mutter: ihr Lover, ein Touristenherumführer mit tiefen, schwarzen Augen), tobte Oya und spuckte Flüche gegen Rabea aus und drohte damit, sich auf der Stelle im Meer zu ersäufen. Es nützte ihr aber alles nicht. Rabea wollte nach Paris.
»Welcher Scheißtyp wartet da auf dich?«, brüllte Oya so aufgebracht, dass ihr die Spucke nur so aus dem Mund sprühte. Wäre Oya bei Besinnung gewesen, hätte sie sich dafür geschämt, sie ist ein sehr feiner, aufgeräumter Typ und Spucke-aus-dem-Mund ist absolut unoyahaft. Aber so bekam sie es gar nicht mit.
»Niemand wartet auf mich in Paris. Aber ich habe genug von dieser schmuddeligen, kleinen öden Insel. Ich brauche Luftveränderung.«
Wir wollten keine Luftveränderung. Wir liebten die Insel und die Luft dort und den Vulkan und Sergios Mutter, die wir Nonna nannten, und Billyboys dicke, behäbige Katzenmutter, und Signora Graziano, die uns Achmed und die schwedische Jonna verpasst hatte.
Aber, wie gesagt, es nützte uns alles nichts, denn Rabea und Sergio hatten sich auseinandergelebt, und wir zogen um nach Porte de la Chapelle, wo sich weiße und schwarze Franzosen nachts gerne killen und dabei einen Riesenkrach machen. Und oft auch Feuer, wenn sie Autos anzünden, die das Pech haben, zwischen die nächtlichen Fronten zu geraten.
Und nach Paris jetzt wieder die USA. Good-old- New-England.
»Ich drehe durch«, sagte Oya und hielt Billyboy gnadenlos zwischen ihren Knien eingeklemmt fest. Dabei war sie mit dem Gegen-Flöhe-Einsprühen inzwischen fertig. Aber sie hat den Kater gerne auf dem Schoß, er ist ihre Stromboli-Erinnerung, während Billyboy kein unbedingter Auf-dem-Schoß-Sitzer ist, sondern lieber für sich alleine liegt.
»Und nächste Woche Schule«, seufzte ich und beendete eine E-Mail an Achmed.
Auszug aus der E-Mail an Achmed:
... Elfte Klasse. Und wieder mal ein Schulwechsel, obwohl das Schuljahr hier schon angefangen hat und alle ihre Kurse gewählt haben. R. tut das natürlich mit einem Schulterzucken ab. Ach ja, du hast nach meinen Großeltern gefragt. Ein paarmal schon. Ich weiß, du hältst viel von Großeltern, weil deine prima sind. Aber hier bei uns gibt es niemanden. R.‘s Eltern sind mit R. (und dadurch auch mit Oya und mir, wie es aussieht) seit Jahren zerstritten. Und die Eltern meines Vaters? Keine Ahnung. Ich glaube, mein Vaterseitengrandpa ist schon seit einer Ewigkeit tot, und meine Vaterseitengrandma? Großes Fragezeichen ...
»Schreibst du an Achmed? Gute, alte Signora Graziano! Ich wünschte, ich hätte Jonna Sjöborg noch. Sie hatte so was Beruhigendes. Schweden sind durch Astrid Lindgren zum Beruhigendsein verdonnert, findest du nicht auch?«
Ich nickte zweimal. Einmal, weil ich ja tatsächlich an Achmed geschrieben hatte, und einmal wegen Oyas Schwedentheorie.
»Oya, was wissen wir eigentlich über Raymonds Mom? Und, wegen Jonna: Schreib ihr doch einfach mal wieder. Oder hast du ihre E-Mail-Adresse nicht mehr?«
Oya zuckte mit den Achseln. Sie kann manchmal enervierend wortkarg sein. Vielleicht liegt es an dem Sprachenwirrwarr in ihrem sprachbegabten Kopf. Amerikanisch, erzwungenes Schulspanisch, Tschechisch, Rumänisch, Italienisch, Französisch. Ich habe mal ei- nen Artikel über das gehirntechnische Verarbeiten von Mehrsprachigkeit gelesen und da stand, dass gerade Sprachgenies mitunter Wortfindungsprobleme bekommen können, wenn zu viele Sprachen im Muttersprachensektor landen.
»Was meinst du damit?« (Ich meinte ihr knappes Achselzucken). »Du weißt nichts über Raymonds Mutter - oder du weißt nichts über die E-Mail-Adresse deiner Schwedin?«
»Weder noch«, antwortete meine kleine Schwester, die körperlängentechnisch strenggenommen meine große Schwester genannt werden müsste.
Zwei äußerliche Beschreibungen:
1. Mittelgroß, mittelblond, ziemlich dünn, einige unordentlich verteilte Sommersprossen, unspektakuläre graue Augen, sehr dünne Finger (»Spinnenfinger« nannte sie Pani Sládekova in Prag einmal in einem Tonfall, den ich nur abfällig nennen kann. - Wen verwundert es, dass Pani Sládekova nicht unbedingt meine Lieblingslehrerin war?), gelockte Haarspitzen (»wie ein Engelchen«, sagte Signora Graziano manchmal entzückt. Sie war dann auch meine Lieblingslehrerin. Verdanke ich ihr doch zudem noch Achmed, den Guten.)
2. Sehr groß! Dunkle Haare. Grüne Augen. Schön. Viel schöner als ich. Die Welt ist ungerecht. Und Gene auch.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Jana Frey
Jana Frey, geboren 1969 in Düsseldorf, ist Kinder- und Jugendbuchautorin. Nach ihrem Literaturstudium in Wiesbaden folgte das Kunst- und Geschichtsstudium in Frankfurt am Main, San Francisco/USA und Auckland/Neuseeland. Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie in Deutschland und arbeitet auch für das Fernsehen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jana Frey
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2013, 224 Seiten, Maße: 14 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: FISCHER KJB
- ISBN-10: 3596854466
- ISBN-13: 9783596854462
Rezension zu „Weil du fehlst “
Kassandras Erlebnisse gehen unter die Haut. Kinder-und Jugendmedien Aargau 20130514
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