Wenn mein Zorn dich findet
Die Forensikerin Windy hat es mit einer Mordserie in Las Vegas zu tun. Die Spuren sprechen scheinbar eine eindeutige Sprache - doch Windy hat ihre Zweifel. Sie stellt eigene Nachforschungen an. Doch das trägt ihr den Hass des wahren Täters ein.
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Produktinformationen zu „Wenn mein Zorn dich findet “
Die Forensikerin Windy hat es mit einer Mordserie in Las Vegas zu tun. Die Spuren sprechen scheinbar eine eindeutige Sprache - doch Windy hat ihre Zweifel. Sie stellt eigene Nachforschungen an. Doch das trägt ihr den Hass des wahren Täters ein.
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Wenn mein Zorn dich findet von Michele JaffeKapitel 1
Das Schild ging ihr nicht aus dem Kopf. Denken Sie an ihr Gepäck! In riesigen Lettern hing es über den Gepäckkarussellen im Flughafen von Las Vegas. Es schien ihr unpassend für eine Stadt wie diese wohin die Leute doch gerade kamen, um das Gepäck ihres Lebens zurückzulassen.
Denken Sie an ihr Gepäck!
Nein. Sie würde es nicht mitnehmen. Sie hatte ihre Tasche aus Trotz zurückgelassen. War aus dem Flughafengebäude marschiert, hatte sie auf dem Karussell gelassen, wo sie unaufhörlich im Kreis fuhr, ihre Unterwäsche, drei Lippenstiftproben, zwei Lieblings-T-Shirts, eine Jeans, ein Foto in einem Silberrahmen und das Schmuckkästchen eines kleinen Mädchens, alles ordentlich eingepackt. Hatte ihr Gepäck, ihre Vergangenheit, hinter sich gelassen. Als ob das so einfach wäre.
Am nächsten Tag war sie wieder auf dem Flughafen gewesen, hatte dem Angestellten im Fundbüro eine lahme Erklärung und ein Lächeln präsentiert. Er hatte ihr die Tasche gereicht, und sie schien über Nacht schwerer geworden zu sein.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon zu begreifen begonnen, was ihr jetzt, drei Monate später, schmerzhaft klar war. Ganz gleich, was man tat, wie viel von seiner Habe man verkaufte, wie oft man umzog, für wie viele Therapien man bezahlte, das Gepäck wartete am Ende immer wieder auf einen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie auch zu begreifen begonnen, warum sie nach Las Vegas gekommen war. Warum sie hatte kommen müssen. Sei brav, hörte sie ihren Vater sagen. Und sah das Schild vor sich: Denken Sie an ihr Gepäck!
Es ist nicht immer einfach, so brav zu sein, wie man möchte, Daddy, dachte sie, als sie in ihrem Auto vor dem Haus saß. Alle dreißig Sekunden machte die Uhr auf dem Armaturenbrett leise klick. Sei brav. Klick.
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Denken Sie an ihr Gepäck! Klick. Der Saab musste das einzige Auto in Amerika sein, das keine Digitaluhr besaß, dachte sie. Sie saß erst seit zehn Minuten vor dem Haus, aber das Klicken machte sie schon wahnsinnig. Klick, klick, klick. Wie ein Metronom. Vergangenheit Gegenwart, Vergangenheit Gegenwart. Sei brav. Klick. Denken Sie an ihr Gepäck!
Alle Fenster des Hauses waren erleuchtet. Silhouetten bewegten sich vor dem Fenster rechts unten, dem kleinen gemütlichen Zimmer neben dem großen Wohnzimmer: eine hochgewachsene Silhouette der älteste Junge und eine kleinere, rundlichere. Die Mutter. Hinter den Silhouetten flackerte es, als hätte jemand den Fernseher eingeschaltet. Wahrscheinlich sahen sie zusammen fern, während sie darauf warteten, dass der Bruder und die Schwester des Jungen nach Hause kämen.
Der älteste Junge war etwa vierzehn, sein jüngerer Bruder elf. Er war in der Klarinettenstunde. Die Schwester war fünfzehn. Sie ging montags, mittwochs und freitags ins Fitnessstudio und kam nicht vor halb sechs heim. Sobald sie zu Hause war, aßen sie zu Abend. Zusammen. Manchmal kam auch Dad hinzu, aber nicht an diesem Abend. Er arbeitete länger. Ein wichtiges Geschäftsessen. Er hatte an diesem Tag das Haus in seinem besten Anzug verlassen.
Einen Augenblick fragte sich die Frau im Auto, was passieren würde, wenn sie einfach klingelte und fragte, ob sie mit ihnen abendessen könnte. Sie kannten sie nicht, sie waren einander vollkommen fremd. Oder jedenfalls wussten die Leute im Haus nichts über sie. Sie selbst wusste alles über die Familie Johnson. Rasch hingeworfene Skizzen ihrer Gesichter bedeckten die Seiten des Blocks auf dem Sitz neben ihr. Gegen ihren Willen musste sie sie immer wieder ansehen. Sei brav. Klick. Denken Sie an ihr Gepäck!
Ein Mann mit einem wuschligen weißen Hund ging die Straße entlang, und sein Blick begegnete dem der Frau im Auto. Er kam ihr irgendwie bekannt vor, aber dann wurde ihr klar, dass es nicht der Mann war, sondern die Straße. Alles hier kam ihr bekannt vor; das war der Fluch ihres Gepäcks, von dem sie sich befreien musste. Der Mann mit dem Hund stand für alles, was sie loswerden musste, alles, dem sie nicht entfliehen konnte. Sie packte das Lenkrad fester und beobachtete wieder die Uhr auf dem Armaturenbrett, die erneut klick machte. Der jüngere Bruder wurde abgesetzt, die Noten unter einem Arm, auf dem Rücken einen rotblauen Spiderman-Rucksack, aus dem der Klarinettenkasten ragte. Er benutzte den Schlüssel für das kleine Tor neben der Auffahrt, schloss es sorgfältig, machte einen Schritt über den Schlauch, den der Kammerjäger liegen gelassen hatte, weil er am nächsten Tag weiterarbeiten wollte, und ging durch die Seitentür ins Haus.
Die Tür führte in den hinteren Flur, wusste die Frau, an dem die Waschküche und weiter hinten die Küche lagen. Sie konnte alles vor ihrem geistigen Auge sehen. Zehn Klicks der Uhr später hielt ein beigefarbener Jeep Wrangler am Bürgersteig, und die Schwester stieg aus. Die Frau im Saab beobachtete, wie das Mädchen durch das Tor und ins Haus ging, auf dem gleichen Weg, den ihr Bruder genommen hatte. Sie hatte perfekte Oberschenkel. Sie war jedoch nicht so sorgfältig wie ihr jüngerer Bruder, und das Tor fiel nicht richtig ins Schloss.
Es blieb einen Spalt breit offen eine Einladung. Kommt rein. Besucht uns doch mal. Seht unser perfektes Zuhause von innen. Findet einen Platz in unserer Familie. Tu es nicht!, schrie es im Kopf der Frau. Verschwinde von hier. Sei brav. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt.
Sie warf einen Blick auf die Uhr und sah, dass das stimmte. Nicht der richtige Zeitpunkt. Sie musste zur Arbeit. Es war beinahe Zeit zum Abendessen. Sie ließ den Motor an und fuhr los, fuhr in Richtung Strip. Denken Sie an ihr Gepäck! Aber sie würde zurückkommen. Sie war noch nicht mit dem Haus der Johnsons fertig.
Kapitel 2
»Mann, willst du mich totlangweilen?«, fragte Roddy Ruiz kopfschüttelnd. »Ich hab's dir doch schon gesagt. Ich hab sie entführt, sie durch die Hintertür reingebracht, hatte Sex mit ihr, und als ich fertig war, hab ich sie umgebracht.«
»Warum hast du sie getötet?«
»Sie hat Ärger gemacht, hab ich doch schon gesagt, cabrón. Warum nervst du mich noch, Mann?«
»Was für einen Ärger, Roddy?«, fragte Detective Nick Lee. »Wir müssen Einzelheiten wissen.«
Sein Partner, Detective Bob Zorzi, fragte: »Hat sie deine Männlichkeit beleidigt?«
Roddy kniff die Augen zusammen, starrte ihn kalt an. »Du willst über meine Männlichkeit reden, hijo de puta? Nimm mir einfach die Handschellen ab, und dann zeige ich dir ...«
Detective Lee sagte: »Erzähl uns einfach, was passiert ist.«
»Chinamann, sag deinem Partner da, dass ich kein Problem mit meiner Männlichkeit habe. Das Miststück war ausgesprochen zufrieden. Sie hat mich geradezu angefleht, es mit ihr zu treiben. Ihr Arschloch von einem Freund hat keine Ahnung, wie man's einer Frau besorgt. Das hat sie gesagt. Sie sagte: >O Papa, mach's mir.< Weiße Frauen lieben mexikanische Liebestacos. Was glaubt ihr wohl, wieso sie mich Hot Rod nennen?«
Chicago »Windy« Thomas, neue Leiterin der kriminaltechnischen Abteilung des Las Vegas Police Departments und vollkommen erschöpfte Mutter einer Sechsjährigen, die gerade eine Darmgrippe hinter sich gebracht hatte, lehnte die Stirn gegen das kühle Einwegfenster, teils, um sich den Verdächtigen im Vernehmungsraum näher anzusehen, teils, weil sie hoffte, dass es gegen ihre schrecklichen Kopfschmerzen helfen würde.
Sie hatte ihren Dienst hier erst vor zwei Wochen angetreten, war erst anderthalb Monate in Las Vegas, aber sie glaubte, Roddy wiederzuerkennen. Nicht unbedingt sein Gesicht, aber etwas in ihm. Unsichere Jungen, die sich als harte Männer gaben, hatten alle etwas gemeinsam, ganz gleich, wo man sie antraf. Roddy Ruiz' Akte sagte, dass er fünfzehn Jahre alt war, also in Straßenjahren etwa fünfundvierzig.
Er sah aus wie elf. Er war klein, hatte große Ohren, braune Augen, kurz geschorenes Haar und etwas Flaum auf Oberlippe und Kinn, was er sicherlich als Bart bezeichnete. Keine Eltern, lebte bei seinem Onkel. Er hatte einen Anwalt abgelehnt, hatte einen Mord gestanden und lehnte sich nun auf dem Stuhl zurück, klopfte im Rhythmus eines Songs in seinem Kopf mit seinen weißen K-Swiss-Sneakers auf den Boden und bewegte die Schultern. Er hatte große rostbraune Flecke auf seiner Jeans und dem Tommy-Hilfiger-T-Shirt, wo er versucht hatte, das Blut zu beseitigen, das ihn jetzt aber nicht mehr zu stören schien.
Er war ein echter Kerl, sagte seine Pose; niemand konnte Hot Rod mit etwas kommen, worauf er nicht gefasst war. Die beiden Detectives waren nervöser als Roddy, was auf Schlafmangel und Aufregung zurückzuführen war. Für Windy sah sogar der Stenograph, der mit im Raum saß, selbstzufrieden aus, wie eine Katze, die gerade den Kanarienvogel vertilgt hatte.
Sie hatten Roddy weniger als achtundvierzig Stunden nach der Tat festgenommen er hatte die Tochter eines Milliardärs aus Kalifornien im Bad einer winzigen Wohnung in Las Vegas vergewaltigt und umgebracht, während sein Onkel sich im anderen Zimmer den »Shop-At-Home«-Kanal ansah. Weniger als achtundvierzig Stunden war eine sehr gute Zeit, und dann hatte Roddy auch noch sofort gestanden.
Die Detectives wussten, dass sie mit Lob von ihren Vorgesetzten rechnen konnten, nicht zu reden von der Aufmerksamkeit der Medien. Der »ShopAt-Home«-Kanal war von dem Vater des Mädchens gegründet worden, so hatte er seine Milliarden gemacht, und kein Journalist würde der Ironie der Situation widerstehen können obwohl sie selbstverständlich den Begriff Tragödie verwenden würden , dass Roddys Onkel vielleicht etwas gehört hätte und das Mädchen hätte retten können, wenn er nicht im Nebenzimmer vor dem Fernseher gesessen hätte.
Selbst die bundesweiten Sender hatten ihre Leute geschickt, also lungerten mehr als die übliche Handvoll Reporter im Presseraum herum und warteten darauf, die Männer, die den Fall bearbeitet hatten, zu den Helden dieser Woche zu erklären. Sie hatten es verdient, die Aufmerksamkeit, das Lob, dachte Windy. Alle hatten es verdient. Jeder sollte das Gefühl haben, wichtig und etwas Besonderes zu sein. Es war der Mangel an solchen Erlebnissen, der Menschen zu Menschen machte, die die Tochter eines Milliardärs totschlugen und sie dann in pornographischer Pose in einer Badewanne positionierten.
Nein, Aufmerksamkeit und Lob waren gut, und deshalb hatte Windy auch ein elend schlechtes Gewissen wegen etwas, was sie gleich tun würde. Sie holte tief Luft, klemmte sich den großen hellbraunen Umschlag, der auf dem Sims vor dem Einwegfenster gelegen hatte, unter den Arm, und klopfte an die Tür des Vernehmungsraums. Vier Gesichter wandten sich ihr zu, und alle schienen über die Störung verärgert.
Sie hörte, wie Detective Zorzi »Scheiße« murmelte, als er sie sah.
»Was können wir für Sie tun, Ma'am?«, fragte er. Er versuchte, freundlich zu sein, aber vor allem wollte er sie daran erinnern, wer hier das Sagen hatte. Roddy stieß einen leisen Pfiff aus, lehnte sich zurück und spreizte unter dem Tisch die Beine.
»Das ist wirklich zu viel, Officers. Eine Stripperin, und ganz allein für mich! Und da behaupten die Leute, Bullen seien Arschlöcher.«
Roddy leckte sich genießerisch die Lippen.
»Süße, sag ihnen, sie sollen mir die Handschellen abnehmen, und wir können sofort mit der Party beginnen.«
Aus dem Augenwinkel sah Windy, dass Detective Lee vor Verlegenheit beinahe erstickte.
»Sie ist keine Strip...« Windy ignorierte ihn, ging zum Tisch und setzte sich Roddy gegenüber.
»Mr. Ruiz, ich bin Chicago Thomas. Ich bin hier, um Ihnen das Leben zu retten.«
Als Erstes fiel Roddy auf, wie sie ihren Namen aussprach, Thomás, mit der Betonung auf der letzten Silbe; sie versuchte, so zu tun, als wäre sie eine Latina. Wollte sich einschmeicheln. Mann, diese Cops mussten ihn wirklich für dumm halten.
Er sah sie an, das karamellbraune Haar, die hellgrünen Augen, und schnaubte.
»Willst du versuchen, dich anzubiedern, mamacita, indem du deinen Namen so aussprichst, als kämst du aus meiner Ecke der Welt? Wofür hältst du dich für J. Lo? Aus welchem Teil von Mexiko kommst du denn, Süße? Ach, und Texas zählt nicht.«
Er zwinkerte den Cops zu, von Mann zu Mann, aber sie starrten ihn nur an. Bullen. Dreckskerle.
»Meine Familie stammt aus Chile«, sagte sie. »Aber ich wurde in den Staaten geboren.«
»Und was für eine Art Name ist Chicago?«
»Der Name der Stadt, in der ich geboren wurde. Was für eine Art Name ist Roddy?«
»Ein sexy Name.«
Roddy zwinkerte. »Und die Leute nennen dich tatsächlich Chicago? Oder Chica?«
»Meine Freunde nennen mich Windy.«
»Echt? Ich hatte mal einen Hund, der Windy hieß. Weil er dauernd gefurzt hat.«
Windy sah ihn erstaunt an. »Tatsächlich? Du wärest erstaunt, wie viele Leute so ein Haustier hatten. Und jetzt erzähl mir von dir. Wo bist du geboren, Roddy?«
»Mann, ich wurde an dem Tag geboren, als ich dich gesehen habe.«
Sie lächelte, aber mehr, wie es eine Mutter tun würde. Das machte Roddy nervös. Dann sagte sie nicht zu ihm, sondern zu den Detectives: »Ich hätte gerne Roddys Vormund hier. Das ist, glaube ich, sein Onkel.«
»Nicht notwendig, Mr. X da reinzuziehen«, sagte Roddy. »Ich hab hier alles unter Kontrolle.«
Er beugte sich über den Tisch.
»Bist du sicher, dass du keine Stripperin bist, Lady? Du könntest gutes Geld machen, mit diesen Titten und deinem Gesicht. Du bist verdammt sexy, auch mit einem versauten Namen. Ich kenne einen Club, wo ich dich unterbringen könnte; der Manager und ich, wir ...«
Aber die Frau mit dem hellbraunen Haar sah ihn nicht einmal an.
»Bringen Sie bitte Mr. Xavier her«, wiederholte sie. »Ich glaube, ich habe ihn im Westflur gesehen.«
Roddy sah zu, wie der größere der beiden Männer den Raum verließ. Der Mann war mindestens dreimal so groß wie die Lady, aber er ging und tat, was sie ihm sagte, und er beeilte sich auch noch. Sie musste wirklich was zu melden haben, dass der Kerl so sprang. Er sah sie sich genauer an.
Sie trug ein graues Kostüm alle Zivilbullen trugen Anzüge und Kostüme, diese idiotas, weil sie professionell aussehen wollten, aber ihres war etwas Besonderes. Irgendwie cool. Sie hatte Klasse. Darunter trug sie ein Hemd wie ein Männerhemd, mit Knopfleiste vorn, golden mit weißen Nadelstreifen, die beiden obersten Knöpfe offen, und eine Krawatte, aber nicht wie ein Mann, sondern ins Hemd gesteckt, wie eine Art Schal, also war es sexy. Man musste es ihr lassen, die Frau wusste, wie man sich anzog.
Sie sah aus, als käme sie aus einer dieser Hochglanzzeitschriften mit den ausländisch klingenden Namen, Elle oder Glamour, die er sich immer anschaute, wenn Mr. X bei der Maniküre war. Schließlich sagte er: »Bist du Anwältin oder so, Lady?«
»Nein.«
»Richterin?«
»Nein.«
»Wie willst du mir dann das Leben retten? Hast du Superkräfte? Kannst du durch Wände sehen und so?«
»Ja. Das kann ich tatsächlich.«
»Ja? Beweise es.«
Er stand auf und zeigte ihr seine Jeans. »Sag mir, was ich in der Hose habe.«
»Blau-weiß gestreifte Boxershorts. Und jetzt setz dich bitte wieder hin, Roddy. Du machst den Detective nervös.«
Roddys Miene, als sie ihm sagte, welche Farbe seine Unterwäsche hatte, war besser, als Windy hätte hoffen können, aber als er dann auch noch seinen Schritt mit den Händen bedeckte, damit sie seinen »Liebestaco« nicht mit ihrem Röntgenblick sehen konnte, fürchtete sie, nach draußen gehen zu müssen, um keinen Lachanfall zu bekommen.
Sie blieb nur sitzen, weil Bob Zorzi in diesem Augenblick zurückkehrte, und sie sagte Roddy nicht, dass er laut Tatortbericht insgesamt fünf Unterhosen besaß, allesamt blauweiß gestreifte Boxershorts, und dass sie einfach nur geraten hatte. Hector Xavier, der Mann, den Detective Zorzi hereinbrachte, war mittelgroß, Ende dreißig und seiner Haltung nach zu schließen sehr selbstsicher, vielleicht ein wenig zu selbstsicher. Das könnte sich als nützlich erweisen, dachte Windy.
Hector war seit fünf Jahren Roddys Vormund, und so wie Roddy seinen Onkel ansah, war eindeutig, dass der Mann sein großes Vorbild war. Hector und Roddy waren seit dem Mord zusammen untergetaucht, und als die Polizei sie schnappte, war es Hector gewesen, der Roddy überredete, die Wahrheit zu sagen. Er hatte einen dünnen Schnurrbart, einen Mund voller Gold und trug einen Kunstseidenanzug, dessen Aufschläge einem Mafioso aus den 1960ern sicher gefallen hätten, wenn das Ding erst einmal gebügelt gewesen wäre.
Windy nahm an, dass er ebenso wie Roddy immer noch die Kleidung trug, in der er die Wohnung verlassen hatte, um unterzutauchen. Sein weißes Seidenhemd, nun nicht mehr frisch, war bis zur Mitte aufgeknöpft, und auf seiner muskulösen, haarlosen Brust hing ein großes goldenes Kreuz.
Er sah sein Mündel forschend an, dann legte er dem Jungen die Hand auf die Schulter und fragte: »Alles in Ordnung, Hot Rod?«
»Ja, Mr. X«, erwiderte Roddy und versuchte, seinen coolen Ton wiederzugewinnen.
»Alles klar.«
»Gut.«
Hector setzte sich neben Roddy und fragte: »Gibt es hier ein Problem?« Er lächelte Windy an und zeigte die Goldzähne. Sie fragte sich, wie viel diese Zähne gekostet hatten.
»Nur ein kleines«, versicherte sie und erwiderte das Lächeln. Es sei denn, man zählt, dass dein Mündel einen brutalen Mord gestanden hat. Sie öffnete den braunen Umschlag und fing an, eine Reihe glänzender Farbfotos herauszunehmen und sie auf den Tisch zu legen.
»Zeigen Sie uns Bilder von Mädchen?«, fragte Hector und warf den Detectives einen hoffnungsvollen Blick zu. Aus dem Augenwinkel sah Windy, wie Hector Roddy zuzwinkerte und ein »Keine Sorge« mit den Lippen bildete.
Sie brachte die Fotos in die richtige Reihenfolge, legte sie wieder aufeinander und klopfte sie zurecht, damit sie einen akkuraten Stapel bildeten. Dann blickte sie auf und fragte in den Raum: »Es ist ziemlich warm hier, wie?«
Hector und die beiden Cops wanden sich ein wenig in ihren Anzugsakkos, als hätte erst ihre Bemerkung die Raumtemperatur steigen lassen.
Hector sagte: »Wird das hier lange dauern?«
»Nein. Aber Sie sollten es sich bequem machen.«
Er zog sein Mafioso-Sakko aus.
»Also gut, um was geht es? Was sind das für Fotos?«
Windy legte den Stapel Fotos auf den Tisch und sah Hector und Roddy an.
»Wir kommen vielleicht später darauf zurück, falls wir sie brauchen.«
Sie bemerkte, wie Roddy auf dem obersten Foto ihr vollgestopftes Wohnzimmer erkannte: Sofa, Fernseher im schwarzen Lack-Entertainment-Center, passender Couchtisch. Eine Tür links, die zu Hector Xaviers Büro führte. Das Selbstvertrauen des Jungen schien ein wenig ins Wanken zu geraten.
»Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen«, sagte sie. »Sie können mich jederzeit unterbrechen, aber ich würde an Ihrer Stelle bis zum Ende warten.«
Ihre Worte waren an beide Männer gerichtet, die ihr gegenübersaßen, aber ihr Blick blieb an Roddy hängen.
»Danielle Starr kam gegen elf Uhr dreißig am Morgen in Ihre Wohnung. Sie wollte das Heroin abholen, das ihr Freund Fred bei Mr. Xavier bestellt hatte, und sie hatte eine Einkaufstasche voller Geldscheine dabei. Roddy, du hast gerade ferngesehen, als sie klingelte, also hast du sie hereingelassen und ihr gesagt, sie solle auf dem Sofa warten, während du deinen Vormund Mr. Xavier holtest. Als ihr zurückkamt, hatte sie den »Shop-At-Home«-Kanal eingeschaltet. Ich nehme an, sie hat erzählt, dass der Kanal ihrem Vater gehörte, hat versucht, ein Gespräch zu beginnen. Sie war nervös, es war das erste Mal, dass Fred sie als Kurier einsetzte, und das war noch nicht alles. Er hatte ihr fünftausend Dollar weniger mitgegeben, als er Mr. Xavier schuldete. Er hatte ihr aufgetragen, alles zu tun, um Mr. Xavier zufrieden zu stellen, damit er ihm ein paar Tage Aufschub zur Bezahlung des restlichen Geldes gewährte.«
Windy wandte sich Hector zu, der sich gelangweilt im Raum umsah.
»Sie hat Ihnen ein Angebot gemacht, als Sie sie mit in Ihr Büro nahmen. Als vernünftiger Geschäftsmann haben Sie natürlich beschlossen, darauf einzugehen. Sie waren auf Geschäftsbesuch eingestellt und trugen daher einen Anzug, aber das war kein Problem. Sie zogen das Sakko aus, machten es sich auf dem Schreibtischstuhl bequem, öffneten die Hose und sagten ihr, sie solle sich hinknien. Sie tat, was Sie wollten, und fing an, Ihnen einen zu blasen. Aber aus irgendeinem Grund passierte nichts. Sie kriegten keinen Steifen.«
»O Mann, das ist Bullshit«, sagte Hector. Aber jetzt sah er Windy an. Sie hatte festgestellt, dass jeder Mann aufmerksam wurde, wenn man anfing, über sein bestes Stück zu reden, selbst wenn man geringschätzig von ihm sprach. Unerklärlich, aber wahr. Windy benutzte diese magische Macht, um Hectors Blick zu bannen.
»Was hat sie getan, Hector? Was war ihr Fehler? Hat sie etwas Falsches gesagt? Vielleicht, dass Sie keinen hochkriegen, weil Snoopy zusieht dieser bronzene golfspielende Snoopy auf Ihrem Schreibtisch? Hat sie Sie ausgelacht? Sie sitzen da mit heruntergelassener Hose, und sie lacht über Sie? Demütigt Sie? Also beschließen Sie, es ihr zu zeigen. Sie nehmen die Statue und schlagen sie damit hierhin.«
Windy zeigte auf ihren Scheitel.
»Aber sie hält immer noch nicht den Mund, also schlagen Sie noch zweimal zu. Sie sackt nach hinten, aber Sie sind noch nicht mit ihr fertig. Sie schlagen sie mit der Statue auf die Brust, was ihre Rippen bricht, und auf die Nase. Wahrscheinlich stirbt sie beim vierten Schlag, als ihre Rippen die Lunge durchbohren, aber ich nehme nicht an, dass Sie das interessiert. Nachdem Sie es ihr also gezeigt haben, blicken sie auf und sehen, dass die Tür zum Büro ein wenig offen steht und jemand dort steht und zusieht.«
Windy warf einen Blick zu Roddy, dann sah sie wieder Hector an.
»Sie rufen Roddy rein und lassen ihn Danielles Leiche ins Bad tragen, bevor sie den Teppich vollblutet. Er zieht sie an sich, so dass nur ihre Füße den Boden berühren; er versucht, keine Schweinerei zu machen. Er legt sie einfach in die Badewanne. Das genügte Ihnen aber nicht, Sie sagen ihm, er soll sie in Pose setzen. Sie aufrecht hinsetzen, es so darstellen, als mache sie es sich. Nein Sie haben eine bessere Idee. Sie nehmen die Snoopy-Statue und schieben sie ihr rein. Sie wollen sie demütigen, auch nachdem sie bereits tot ist. Alle sollen sehen, was für eine Hure sie war.«
Windys Blick ruhte nun wieder auf Roddy, der sie wie hypnotisiert ansah.
»Aber das hast du nicht fertig gebracht, nicht wahr, Roddy? Als Hector dir den Rücken zuwandte, hast du Snoopy aus ihr herausgezogen und ihn neben das Mädchen gelegt. Du warst voller Blut, weil du Danielle ins Bad geschleppt hattest, aber du hast sie nicht umgebracht, und sie hat dir leidgetan. Du hast dich mit ihr im Bad eingeschlossen und das Wasser laufen lassen, damit Hector nicht hören konnte, dass du dich übergibst. Dann hast du dich neben die Wanne gesetzt und geweint. Als du aufgestanden bist, hast du ...«
»Nein«, sagte Roddy, sein erstes Wort seit langem, die Stimme nun höher als vorher. Er sprach nicht mit Windy, sondern mit Hector.
Er flehte: »Nein, das habe ich nicht. Sie lügt, Mann. Ich habe es nicht getan. Ich habe nicht geheult, Mann.«
Hector ignorierte ihn.
»Scheiße, Lady«, sagte er mit schleppender Stimme. »Das ist wirklich eine hübsche Geschichte, die Sie da erzählen. Ich habe also ein Problem mit meiner Ausstattung und muss ein Mädchen totschlagen, um einen Steifen zu kriegen? Wollen Sie es ausprobieren? Gleich hier? Ich besorg's Ihnen, dass Sie's nicht vergessen werden.«
Windys Blick ruhte weiter auf Roddy.
Übersetzung: Regina Winter
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2007 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Fenster des Hauses waren erleuchtet. Silhouetten bewegten sich vor dem Fenster rechts unten, dem kleinen gemütlichen Zimmer neben dem großen Wohnzimmer: eine hochgewachsene Silhouette der älteste Junge und eine kleinere, rundlichere. Die Mutter. Hinter den Silhouetten flackerte es, als hätte jemand den Fernseher eingeschaltet. Wahrscheinlich sahen sie zusammen fern, während sie darauf warteten, dass der Bruder und die Schwester des Jungen nach Hause kämen.
Der älteste Junge war etwa vierzehn, sein jüngerer Bruder elf. Er war in der Klarinettenstunde. Die Schwester war fünfzehn. Sie ging montags, mittwochs und freitags ins Fitnessstudio und kam nicht vor halb sechs heim. Sobald sie zu Hause war, aßen sie zu Abend. Zusammen. Manchmal kam auch Dad hinzu, aber nicht an diesem Abend. Er arbeitete länger. Ein wichtiges Geschäftsessen. Er hatte an diesem Tag das Haus in seinem besten Anzug verlassen.
Einen Augenblick fragte sich die Frau im Auto, was passieren würde, wenn sie einfach klingelte und fragte, ob sie mit ihnen abendessen könnte. Sie kannten sie nicht, sie waren einander vollkommen fremd. Oder jedenfalls wussten die Leute im Haus nichts über sie. Sie selbst wusste alles über die Familie Johnson. Rasch hingeworfene Skizzen ihrer Gesichter bedeckten die Seiten des Blocks auf dem Sitz neben ihr. Gegen ihren Willen musste sie sie immer wieder ansehen. Sei brav. Klick. Denken Sie an ihr Gepäck!
Ein Mann mit einem wuschligen weißen Hund ging die Straße entlang, und sein Blick begegnete dem der Frau im Auto. Er kam ihr irgendwie bekannt vor, aber dann wurde ihr klar, dass es nicht der Mann war, sondern die Straße. Alles hier kam ihr bekannt vor; das war der Fluch ihres Gepäcks, von dem sie sich befreien musste. Der Mann mit dem Hund stand für alles, was sie loswerden musste, alles, dem sie nicht entfliehen konnte. Sie packte das Lenkrad fester und beobachtete wieder die Uhr auf dem Armaturenbrett, die erneut klick machte. Der jüngere Bruder wurde abgesetzt, die Noten unter einem Arm, auf dem Rücken einen rotblauen Spiderman-Rucksack, aus dem der Klarinettenkasten ragte. Er benutzte den Schlüssel für das kleine Tor neben der Auffahrt, schloss es sorgfältig, machte einen Schritt über den Schlauch, den der Kammerjäger liegen gelassen hatte, weil er am nächsten Tag weiterarbeiten wollte, und ging durch die Seitentür ins Haus.
Die Tür führte in den hinteren Flur, wusste die Frau, an dem die Waschküche und weiter hinten die Küche lagen. Sie konnte alles vor ihrem geistigen Auge sehen. Zehn Klicks der Uhr später hielt ein beigefarbener Jeep Wrangler am Bürgersteig, und die Schwester stieg aus. Die Frau im Saab beobachtete, wie das Mädchen durch das Tor und ins Haus ging, auf dem gleichen Weg, den ihr Bruder genommen hatte. Sie hatte perfekte Oberschenkel. Sie war jedoch nicht so sorgfältig wie ihr jüngerer Bruder, und das Tor fiel nicht richtig ins Schloss.
Es blieb einen Spalt breit offen eine Einladung. Kommt rein. Besucht uns doch mal. Seht unser perfektes Zuhause von innen. Findet einen Platz in unserer Familie. Tu es nicht!, schrie es im Kopf der Frau. Verschwinde von hier. Sei brav. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt.
Sie warf einen Blick auf die Uhr und sah, dass das stimmte. Nicht der richtige Zeitpunkt. Sie musste zur Arbeit. Es war beinahe Zeit zum Abendessen. Sie ließ den Motor an und fuhr los, fuhr in Richtung Strip. Denken Sie an ihr Gepäck! Aber sie würde zurückkommen. Sie war noch nicht mit dem Haus der Johnsons fertig.
Kapitel 2
»Mann, willst du mich totlangweilen?«, fragte Roddy Ruiz kopfschüttelnd. »Ich hab's dir doch schon gesagt. Ich hab sie entführt, sie durch die Hintertür reingebracht, hatte Sex mit ihr, und als ich fertig war, hab ich sie umgebracht.«
»Warum hast du sie getötet?«
»Sie hat Ärger gemacht, hab ich doch schon gesagt, cabrón. Warum nervst du mich noch, Mann?«
»Was für einen Ärger, Roddy?«, fragte Detective Nick Lee. »Wir müssen Einzelheiten wissen.«
Sein Partner, Detective Bob Zorzi, fragte: »Hat sie deine Männlichkeit beleidigt?«
Roddy kniff die Augen zusammen, starrte ihn kalt an. »Du willst über meine Männlichkeit reden, hijo de puta? Nimm mir einfach die Handschellen ab, und dann zeige ich dir ...«
Detective Lee sagte: »Erzähl uns einfach, was passiert ist.«
»Chinamann, sag deinem Partner da, dass ich kein Problem mit meiner Männlichkeit habe. Das Miststück war ausgesprochen zufrieden. Sie hat mich geradezu angefleht, es mit ihr zu treiben. Ihr Arschloch von einem Freund hat keine Ahnung, wie man's einer Frau besorgt. Das hat sie gesagt. Sie sagte: >O Papa, mach's mir.< Weiße Frauen lieben mexikanische Liebestacos. Was glaubt ihr wohl, wieso sie mich Hot Rod nennen?«
Chicago »Windy« Thomas, neue Leiterin der kriminaltechnischen Abteilung des Las Vegas Police Departments und vollkommen erschöpfte Mutter einer Sechsjährigen, die gerade eine Darmgrippe hinter sich gebracht hatte, lehnte die Stirn gegen das kühle Einwegfenster, teils, um sich den Verdächtigen im Vernehmungsraum näher anzusehen, teils, weil sie hoffte, dass es gegen ihre schrecklichen Kopfschmerzen helfen würde.
Sie hatte ihren Dienst hier erst vor zwei Wochen angetreten, war erst anderthalb Monate in Las Vegas, aber sie glaubte, Roddy wiederzuerkennen. Nicht unbedingt sein Gesicht, aber etwas in ihm. Unsichere Jungen, die sich als harte Männer gaben, hatten alle etwas gemeinsam, ganz gleich, wo man sie antraf. Roddy Ruiz' Akte sagte, dass er fünfzehn Jahre alt war, also in Straßenjahren etwa fünfundvierzig.
Er sah aus wie elf. Er war klein, hatte große Ohren, braune Augen, kurz geschorenes Haar und etwas Flaum auf Oberlippe und Kinn, was er sicherlich als Bart bezeichnete. Keine Eltern, lebte bei seinem Onkel. Er hatte einen Anwalt abgelehnt, hatte einen Mord gestanden und lehnte sich nun auf dem Stuhl zurück, klopfte im Rhythmus eines Songs in seinem Kopf mit seinen weißen K-Swiss-Sneakers auf den Boden und bewegte die Schultern. Er hatte große rostbraune Flecke auf seiner Jeans und dem Tommy-Hilfiger-T-Shirt, wo er versucht hatte, das Blut zu beseitigen, das ihn jetzt aber nicht mehr zu stören schien.
Er war ein echter Kerl, sagte seine Pose; niemand konnte Hot Rod mit etwas kommen, worauf er nicht gefasst war. Die beiden Detectives waren nervöser als Roddy, was auf Schlafmangel und Aufregung zurückzuführen war. Für Windy sah sogar der Stenograph, der mit im Raum saß, selbstzufrieden aus, wie eine Katze, die gerade den Kanarienvogel vertilgt hatte.
Sie hatten Roddy weniger als achtundvierzig Stunden nach der Tat festgenommen er hatte die Tochter eines Milliardärs aus Kalifornien im Bad einer winzigen Wohnung in Las Vegas vergewaltigt und umgebracht, während sein Onkel sich im anderen Zimmer den »Shop-At-Home«-Kanal ansah. Weniger als achtundvierzig Stunden war eine sehr gute Zeit, und dann hatte Roddy auch noch sofort gestanden.
Die Detectives wussten, dass sie mit Lob von ihren Vorgesetzten rechnen konnten, nicht zu reden von der Aufmerksamkeit der Medien. Der »ShopAt-Home«-Kanal war von dem Vater des Mädchens gegründet worden, so hatte er seine Milliarden gemacht, und kein Journalist würde der Ironie der Situation widerstehen können obwohl sie selbstverständlich den Begriff Tragödie verwenden würden , dass Roddys Onkel vielleicht etwas gehört hätte und das Mädchen hätte retten können, wenn er nicht im Nebenzimmer vor dem Fernseher gesessen hätte.
Selbst die bundesweiten Sender hatten ihre Leute geschickt, also lungerten mehr als die übliche Handvoll Reporter im Presseraum herum und warteten darauf, die Männer, die den Fall bearbeitet hatten, zu den Helden dieser Woche zu erklären. Sie hatten es verdient, die Aufmerksamkeit, das Lob, dachte Windy. Alle hatten es verdient. Jeder sollte das Gefühl haben, wichtig und etwas Besonderes zu sein. Es war der Mangel an solchen Erlebnissen, der Menschen zu Menschen machte, die die Tochter eines Milliardärs totschlugen und sie dann in pornographischer Pose in einer Badewanne positionierten.
Nein, Aufmerksamkeit und Lob waren gut, und deshalb hatte Windy auch ein elend schlechtes Gewissen wegen etwas, was sie gleich tun würde. Sie holte tief Luft, klemmte sich den großen hellbraunen Umschlag, der auf dem Sims vor dem Einwegfenster gelegen hatte, unter den Arm, und klopfte an die Tür des Vernehmungsraums. Vier Gesichter wandten sich ihr zu, und alle schienen über die Störung verärgert.
Sie hörte, wie Detective Zorzi »Scheiße« murmelte, als er sie sah.
»Was können wir für Sie tun, Ma'am?«, fragte er. Er versuchte, freundlich zu sein, aber vor allem wollte er sie daran erinnern, wer hier das Sagen hatte. Roddy stieß einen leisen Pfiff aus, lehnte sich zurück und spreizte unter dem Tisch die Beine.
»Das ist wirklich zu viel, Officers. Eine Stripperin, und ganz allein für mich! Und da behaupten die Leute, Bullen seien Arschlöcher.«
Roddy leckte sich genießerisch die Lippen.
»Süße, sag ihnen, sie sollen mir die Handschellen abnehmen, und wir können sofort mit der Party beginnen.«
Aus dem Augenwinkel sah Windy, dass Detective Lee vor Verlegenheit beinahe erstickte.
»Sie ist keine Strip...« Windy ignorierte ihn, ging zum Tisch und setzte sich Roddy gegenüber.
»Mr. Ruiz, ich bin Chicago Thomas. Ich bin hier, um Ihnen das Leben zu retten.«
Als Erstes fiel Roddy auf, wie sie ihren Namen aussprach, Thomás, mit der Betonung auf der letzten Silbe; sie versuchte, so zu tun, als wäre sie eine Latina. Wollte sich einschmeicheln. Mann, diese Cops mussten ihn wirklich für dumm halten.
Er sah sie an, das karamellbraune Haar, die hellgrünen Augen, und schnaubte.
»Willst du versuchen, dich anzubiedern, mamacita, indem du deinen Namen so aussprichst, als kämst du aus meiner Ecke der Welt? Wofür hältst du dich für J. Lo? Aus welchem Teil von Mexiko kommst du denn, Süße? Ach, und Texas zählt nicht.«
Er zwinkerte den Cops zu, von Mann zu Mann, aber sie starrten ihn nur an. Bullen. Dreckskerle.
»Meine Familie stammt aus Chile«, sagte sie. »Aber ich wurde in den Staaten geboren.«
»Und was für eine Art Name ist Chicago?«
»Der Name der Stadt, in der ich geboren wurde. Was für eine Art Name ist Roddy?«
»Ein sexy Name.«
Roddy zwinkerte. »Und die Leute nennen dich tatsächlich Chicago? Oder Chica?«
»Meine Freunde nennen mich Windy.«
»Echt? Ich hatte mal einen Hund, der Windy hieß. Weil er dauernd gefurzt hat.«
Windy sah ihn erstaunt an. »Tatsächlich? Du wärest erstaunt, wie viele Leute so ein Haustier hatten. Und jetzt erzähl mir von dir. Wo bist du geboren, Roddy?«
»Mann, ich wurde an dem Tag geboren, als ich dich gesehen habe.«
Sie lächelte, aber mehr, wie es eine Mutter tun würde. Das machte Roddy nervös. Dann sagte sie nicht zu ihm, sondern zu den Detectives: »Ich hätte gerne Roddys Vormund hier. Das ist, glaube ich, sein Onkel.«
»Nicht notwendig, Mr. X da reinzuziehen«, sagte Roddy. »Ich hab hier alles unter Kontrolle.«
Er beugte sich über den Tisch.
»Bist du sicher, dass du keine Stripperin bist, Lady? Du könntest gutes Geld machen, mit diesen Titten und deinem Gesicht. Du bist verdammt sexy, auch mit einem versauten Namen. Ich kenne einen Club, wo ich dich unterbringen könnte; der Manager und ich, wir ...«
Aber die Frau mit dem hellbraunen Haar sah ihn nicht einmal an.
»Bringen Sie bitte Mr. Xavier her«, wiederholte sie. »Ich glaube, ich habe ihn im Westflur gesehen.«
Roddy sah zu, wie der größere der beiden Männer den Raum verließ. Der Mann war mindestens dreimal so groß wie die Lady, aber er ging und tat, was sie ihm sagte, und er beeilte sich auch noch. Sie musste wirklich was zu melden haben, dass der Kerl so sprang. Er sah sie sich genauer an.
Sie trug ein graues Kostüm alle Zivilbullen trugen Anzüge und Kostüme, diese idiotas, weil sie professionell aussehen wollten, aber ihres war etwas Besonderes. Irgendwie cool. Sie hatte Klasse. Darunter trug sie ein Hemd wie ein Männerhemd, mit Knopfleiste vorn, golden mit weißen Nadelstreifen, die beiden obersten Knöpfe offen, und eine Krawatte, aber nicht wie ein Mann, sondern ins Hemd gesteckt, wie eine Art Schal, also war es sexy. Man musste es ihr lassen, die Frau wusste, wie man sich anzog.
Sie sah aus, als käme sie aus einer dieser Hochglanzzeitschriften mit den ausländisch klingenden Namen, Elle oder Glamour, die er sich immer anschaute, wenn Mr. X bei der Maniküre war. Schließlich sagte er: »Bist du Anwältin oder so, Lady?«
»Nein.«
»Richterin?«
»Nein.«
»Wie willst du mir dann das Leben retten? Hast du Superkräfte? Kannst du durch Wände sehen und so?«
»Ja. Das kann ich tatsächlich.«
»Ja? Beweise es.«
Er stand auf und zeigte ihr seine Jeans. »Sag mir, was ich in der Hose habe.«
»Blau-weiß gestreifte Boxershorts. Und jetzt setz dich bitte wieder hin, Roddy. Du machst den Detective nervös.«
Roddys Miene, als sie ihm sagte, welche Farbe seine Unterwäsche hatte, war besser, als Windy hätte hoffen können, aber als er dann auch noch seinen Schritt mit den Händen bedeckte, damit sie seinen »Liebestaco« nicht mit ihrem Röntgenblick sehen konnte, fürchtete sie, nach draußen gehen zu müssen, um keinen Lachanfall zu bekommen.
Sie blieb nur sitzen, weil Bob Zorzi in diesem Augenblick zurückkehrte, und sie sagte Roddy nicht, dass er laut Tatortbericht insgesamt fünf Unterhosen besaß, allesamt blauweiß gestreifte Boxershorts, und dass sie einfach nur geraten hatte. Hector Xavier, der Mann, den Detective Zorzi hereinbrachte, war mittelgroß, Ende dreißig und seiner Haltung nach zu schließen sehr selbstsicher, vielleicht ein wenig zu selbstsicher. Das könnte sich als nützlich erweisen, dachte Windy.
Hector war seit fünf Jahren Roddys Vormund, und so wie Roddy seinen Onkel ansah, war eindeutig, dass der Mann sein großes Vorbild war. Hector und Roddy waren seit dem Mord zusammen untergetaucht, und als die Polizei sie schnappte, war es Hector gewesen, der Roddy überredete, die Wahrheit zu sagen. Er hatte einen dünnen Schnurrbart, einen Mund voller Gold und trug einen Kunstseidenanzug, dessen Aufschläge einem Mafioso aus den 1960ern sicher gefallen hätten, wenn das Ding erst einmal gebügelt gewesen wäre.
Windy nahm an, dass er ebenso wie Roddy immer noch die Kleidung trug, in der er die Wohnung verlassen hatte, um unterzutauchen. Sein weißes Seidenhemd, nun nicht mehr frisch, war bis zur Mitte aufgeknöpft, und auf seiner muskulösen, haarlosen Brust hing ein großes goldenes Kreuz.
Er sah sein Mündel forschend an, dann legte er dem Jungen die Hand auf die Schulter und fragte: »Alles in Ordnung, Hot Rod?«
»Ja, Mr. X«, erwiderte Roddy und versuchte, seinen coolen Ton wiederzugewinnen.
»Alles klar.«
»Gut.«
Hector setzte sich neben Roddy und fragte: »Gibt es hier ein Problem?« Er lächelte Windy an und zeigte die Goldzähne. Sie fragte sich, wie viel diese Zähne gekostet hatten.
»Nur ein kleines«, versicherte sie und erwiderte das Lächeln. Es sei denn, man zählt, dass dein Mündel einen brutalen Mord gestanden hat. Sie öffnete den braunen Umschlag und fing an, eine Reihe glänzender Farbfotos herauszunehmen und sie auf den Tisch zu legen.
»Zeigen Sie uns Bilder von Mädchen?«, fragte Hector und warf den Detectives einen hoffnungsvollen Blick zu. Aus dem Augenwinkel sah Windy, wie Hector Roddy zuzwinkerte und ein »Keine Sorge« mit den Lippen bildete.
Sie brachte die Fotos in die richtige Reihenfolge, legte sie wieder aufeinander und klopfte sie zurecht, damit sie einen akkuraten Stapel bildeten. Dann blickte sie auf und fragte in den Raum: »Es ist ziemlich warm hier, wie?«
Hector und die beiden Cops wanden sich ein wenig in ihren Anzugsakkos, als hätte erst ihre Bemerkung die Raumtemperatur steigen lassen.
Hector sagte: »Wird das hier lange dauern?«
»Nein. Aber Sie sollten es sich bequem machen.«
Er zog sein Mafioso-Sakko aus.
»Also gut, um was geht es? Was sind das für Fotos?«
Windy legte den Stapel Fotos auf den Tisch und sah Hector und Roddy an.
»Wir kommen vielleicht später darauf zurück, falls wir sie brauchen.«
Sie bemerkte, wie Roddy auf dem obersten Foto ihr vollgestopftes Wohnzimmer erkannte: Sofa, Fernseher im schwarzen Lack-Entertainment-Center, passender Couchtisch. Eine Tür links, die zu Hector Xaviers Büro führte. Das Selbstvertrauen des Jungen schien ein wenig ins Wanken zu geraten.
»Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen«, sagte sie. »Sie können mich jederzeit unterbrechen, aber ich würde an Ihrer Stelle bis zum Ende warten.«
Ihre Worte waren an beide Männer gerichtet, die ihr gegenübersaßen, aber ihr Blick blieb an Roddy hängen.
»Danielle Starr kam gegen elf Uhr dreißig am Morgen in Ihre Wohnung. Sie wollte das Heroin abholen, das ihr Freund Fred bei Mr. Xavier bestellt hatte, und sie hatte eine Einkaufstasche voller Geldscheine dabei. Roddy, du hast gerade ferngesehen, als sie klingelte, also hast du sie hereingelassen und ihr gesagt, sie solle auf dem Sofa warten, während du deinen Vormund Mr. Xavier holtest. Als ihr zurückkamt, hatte sie den »Shop-At-Home«-Kanal eingeschaltet. Ich nehme an, sie hat erzählt, dass der Kanal ihrem Vater gehörte, hat versucht, ein Gespräch zu beginnen. Sie war nervös, es war das erste Mal, dass Fred sie als Kurier einsetzte, und das war noch nicht alles. Er hatte ihr fünftausend Dollar weniger mitgegeben, als er Mr. Xavier schuldete. Er hatte ihr aufgetragen, alles zu tun, um Mr. Xavier zufrieden zu stellen, damit er ihm ein paar Tage Aufschub zur Bezahlung des restlichen Geldes gewährte.«
Windy wandte sich Hector zu, der sich gelangweilt im Raum umsah.
»Sie hat Ihnen ein Angebot gemacht, als Sie sie mit in Ihr Büro nahmen. Als vernünftiger Geschäftsmann haben Sie natürlich beschlossen, darauf einzugehen. Sie waren auf Geschäftsbesuch eingestellt und trugen daher einen Anzug, aber das war kein Problem. Sie zogen das Sakko aus, machten es sich auf dem Schreibtischstuhl bequem, öffneten die Hose und sagten ihr, sie solle sich hinknien. Sie tat, was Sie wollten, und fing an, Ihnen einen zu blasen. Aber aus irgendeinem Grund passierte nichts. Sie kriegten keinen Steifen.«
»O Mann, das ist Bullshit«, sagte Hector. Aber jetzt sah er Windy an. Sie hatte festgestellt, dass jeder Mann aufmerksam wurde, wenn man anfing, über sein bestes Stück zu reden, selbst wenn man geringschätzig von ihm sprach. Unerklärlich, aber wahr. Windy benutzte diese magische Macht, um Hectors Blick zu bannen.
»Was hat sie getan, Hector? Was war ihr Fehler? Hat sie etwas Falsches gesagt? Vielleicht, dass Sie keinen hochkriegen, weil Snoopy zusieht dieser bronzene golfspielende Snoopy auf Ihrem Schreibtisch? Hat sie Sie ausgelacht? Sie sitzen da mit heruntergelassener Hose, und sie lacht über Sie? Demütigt Sie? Also beschließen Sie, es ihr zu zeigen. Sie nehmen die Statue und schlagen sie damit hierhin.«
Windy zeigte auf ihren Scheitel.
»Aber sie hält immer noch nicht den Mund, also schlagen Sie noch zweimal zu. Sie sackt nach hinten, aber Sie sind noch nicht mit ihr fertig. Sie schlagen sie mit der Statue auf die Brust, was ihre Rippen bricht, und auf die Nase. Wahrscheinlich stirbt sie beim vierten Schlag, als ihre Rippen die Lunge durchbohren, aber ich nehme nicht an, dass Sie das interessiert. Nachdem Sie es ihr also gezeigt haben, blicken sie auf und sehen, dass die Tür zum Büro ein wenig offen steht und jemand dort steht und zusieht.«
Windy warf einen Blick zu Roddy, dann sah sie wieder Hector an.
»Sie rufen Roddy rein und lassen ihn Danielles Leiche ins Bad tragen, bevor sie den Teppich vollblutet. Er zieht sie an sich, so dass nur ihre Füße den Boden berühren; er versucht, keine Schweinerei zu machen. Er legt sie einfach in die Badewanne. Das genügte Ihnen aber nicht, Sie sagen ihm, er soll sie in Pose setzen. Sie aufrecht hinsetzen, es so darstellen, als mache sie es sich. Nein Sie haben eine bessere Idee. Sie nehmen die Snoopy-Statue und schieben sie ihr rein. Sie wollen sie demütigen, auch nachdem sie bereits tot ist. Alle sollen sehen, was für eine Hure sie war.«
Windys Blick ruhte nun wieder auf Roddy, der sie wie hypnotisiert ansah.
»Aber das hast du nicht fertig gebracht, nicht wahr, Roddy? Als Hector dir den Rücken zuwandte, hast du Snoopy aus ihr herausgezogen und ihn neben das Mädchen gelegt. Du warst voller Blut, weil du Danielle ins Bad geschleppt hattest, aber du hast sie nicht umgebracht, und sie hat dir leidgetan. Du hast dich mit ihr im Bad eingeschlossen und das Wasser laufen lassen, damit Hector nicht hören konnte, dass du dich übergibst. Dann hast du dich neben die Wanne gesetzt und geweint. Als du aufgestanden bist, hast du ...«
»Nein«, sagte Roddy, sein erstes Wort seit langem, die Stimme nun höher als vorher. Er sprach nicht mit Windy, sondern mit Hector.
Er flehte: »Nein, das habe ich nicht. Sie lügt, Mann. Ich habe es nicht getan. Ich habe nicht geheult, Mann.«
Hector ignorierte ihn.
»Scheiße, Lady«, sagte er mit schleppender Stimme. »Das ist wirklich eine hübsche Geschichte, die Sie da erzählen. Ich habe also ein Problem mit meiner Ausstattung und muss ein Mädchen totschlagen, um einen Steifen zu kriegen? Wollen Sie es ausprobieren? Gleich hier? Ich besorg's Ihnen, dass Sie's nicht vergessen werden.«
Windys Blick ruhte weiter auf Roddy.
Übersetzung: Regina Winter
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2007 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Bibliographische Angaben
- Autor: Michele Jaffe
- 614 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828989926
- ISBN-13: 9783828989924
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